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Atomausstieg bis 2022

Bundesregierung beschließt Energiewende *

Die Bundesregierung hat den Ausstieg aus der Atomenergie bis 2022 und den beschleunigten Umstieg in die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien beschlossen. Dazu brachte das Kabinett in einer Sondersitzung am Montag (6. Juni) in Berlin Gesetzentwürfe und Rahmenvereinbarungen auf den Weg. Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU) sprach von einem "Meilenstein für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung" in Deutschland.

Das Atomgesetz wird neu gefasst. Die acht ältesten Atomkraftwerke sollen sofort stillgelegt werden, für die übrigen neun gibt es einen Stufenplan mit einem Stilllegungstermin für jeden einzelnen Meiler. Danach sollen 2015, 2017 und 2019 jeweils ein Kraftwerk vom Netz gehen, 2021 drei weitere und die drei letzten im Zieljahr des Ausstiegs 2022.

Die sieben ältesten Atomkraftwerke und der Pannen-Reaktor Krümmel waren bereits zu Beginn des dreimonatigen Atom-Moratoriums vom Netz genommen worden und sollen nicht wieder in Betrieb gehen mit Ausnahme eines Kraftwerks, das als "Kaltreserve" in den kommenden beiden Wintern noch einmal angefahren werden kann. Parallel zur Erkundung in Gorleben soll die Suche nach einem Endlager für den Atommüll auf alle in Frage kommenden Erd- und Gesteinsformationen ausgeweitet werden.

Mit weiteren Gesetzesnovellen werden die Folgen des Ausstiegs und ein beschleunigter Umstieg auf erneuerbare Energien geregelt. Der Bundestag soll die Gesetze noch vor der Sommerpause verabschieden. Die Ministerpräsidenten der Bundesländer hatten den Vorhaben am vergangenen Freitag grundsätzlich zugestimmt. Die schwarz-gelbe Koalition ist nicht auf die Zustimmung des Bundesrats angewiesen, will aber im Einvernehmen mit den Ländern vorgehen.

* Aus: Neues Deutschland-online, 6. Juni 2011


Abschalten im Schneckentempo

Umweltschützer kritisieren Atomausstiegsplan der Bundesregierung als zu langsam

Von Fabian Wunderlich **


Erstmals werden feste Abschalttermine für einzelne Reaktoren festgelegt. Trotzdem soll an den Reststrommengen festgehalten werden, die SPD und Grüne mit den Betreibern der Atomkraftwerke (AKW) vereinbart hatten. Wie das zusammenpasst, ist unklar.

Die Bundesregierung hat einen neuen Plan: Die acht Uralt-Reaktoren bleiben ausgeschaltet, die übrigen neun sollen schrittweise folgen. In den Jahren 2015, 2017 und 2019 geht jeweils ein AKW vom Netz, in den Jahren 2021 und 2022 jeweils drei. Gleichzeitig möchte die Bundesregierung aber an den sogenannten Reststrommengen festhalten, die den Kraftwerksbetreibern im Jahr 2000 von SPD und Grünen zugesichert worden waren.

Jedem Kraftwerk wurde damals eine Strommenge zugeschrieben, die noch produziert werden darf. Anschließend muss die Anlage stillgelegt werden. Die Reststrommengen sollten einer Laufzeit von 32 Jahren entsprechen, faktisch bedeuten sie jedoch einen längeren Weiterbetrieb, weil die Atomkraftwerke durch Pannen und Stillstände nicht in jedem Jahr so viel Strom produzieren wie bei der Berechnung der Strommengen angenommen wurde. Mit den Laufzeitverlängerungen im letzten Herbst hatten Union und FDP diese Reststrommengen noch einmal deutlich erhöht. Diese Vereinbarung soll nach den jüngsten Plänen nun rückgängig gemacht werden.

Trotzdem dürften bei dem derzeitig geplanten schwarz-gelben Ausstiegsfahrplan noch Reststrommengen übrig bleiben. Das hieße, dass einige AKW abgeschaltet würden, bevor sie die von Rot-Grün zugesicherte Strommenge produziert haben. Die Bundesregierung bestreitet dies, die Energiekonzerne E.on und Vattenfall haben aber bereits Entschädigung gefordert.

Der neue Ausstiegsplan wurde am Freitag (3. Juni) mit den Bundesländern ausgehandelt. Zuvor waren nur die Jahre 2021 und 2022 als Abschaltdaten geplant. So stand es auch in der »Formulierungshilfe der Bundesregierung für die Fraktionen der CDU/CSU und FDP« zur geplanten Änderung des Atomgesetzes, die dem ND vorliegt. Damit hätten alle neun Anlagen noch mindestens zehn Jahre weiterlaufen können.

Doch Umweltverbände hatten Alarm geschlagen. Sie befürchten, dass in zehn Jahren eine neue Diskussion um die weitere Nutzung der Atomenergie entflammt und der geplante Ausstiegsplan erneut geändert wird. Die Reststrommengen würden nämlich vermutlich ausreichen, um alle AKW bis 2021 weiterlaufen zu lassen. Das rechnet jedenfalls die Deutsche Umwelthilfe vor. Wenn die Kraftwerke jährlich so viel Strom produzieren wie im Durchschnitt der letzten zwei Jahre, könnten sie bis Mitte 2020 laufen, heißt es in einem Hintergrundpapier. »Wegen wachsender Anteile Erneuerbarer Energien mit einem Einspeisevorrang in die Stromnetze ist allerdings zu erwarten, dass die AKW die jährlichen Stromproduktionsmengen der Vergangenheit nicht mehr erreichen, die Reaktoren also länger als die rechnerischen neuneinhalb Jahre betrieben werden können.«

Bleibt es beim neuen Plan der Bundesregierung, kann das nicht passieren. Trotzdem sind Umweltschützer unzufrieden. Andree Böhling von Greenpeace sagt: »Ein Atomausstieg bis 2022 bleibt ein Ausstieg im Schneckentempo.« Greenpeace hält einen Ausstieg bis 2015 für realistisch. Die Reststrommengen sind bislang so verteilt, dass die älteren Anlagen früher vom Netz müssen. Weil die acht vom Atommoratorium betroffenen Kraftwerke aber stillgelegt werden, können deren Strommengen auf die anderen AKW übertragen werden. In der Tat könnte ein so kurzfristiger Ausstieg Probleme mit sich bringen. Atomkraftbefürworter könnten etwa vor einer Stromlücke warnen. Gleichzeitig werden die erneuerbaren Energien bis zum Jahr 2021 nicht so stark ausgebaut werden wie im Falle eines vorherigen Abschaltens einiger Reaktoren.

** Aus: Neues Deutschland, 6. Juni 2011

Reihenfolge

Wie die Abschaltung der verbleibenden neun Atomkraftwerke in Deutschland vor sich gehen soll, ist weitgehend geklärt. Die Deutsche Presse-Agentur erfuhr am Sonntag (5. Juni) aus Regierungskreisen:
  • Nach den acht bereits abgeschalteten Atomkraftwerken wird als nächstes 2015 der bayerische Meiler Grafenrheinfeld den Betrieb einstellen.
  • 2017 sollen Gundremmingen B und 2019 Philippsburg II in Baden-Württemberg folgen.
  • 2021 könnten Grohnde in Niedersachsen, Brokdorf in Schleswig-Holstein und Gundremmingen C vom Netz gehen.
  • Als letzte Kernkraftwerke würden im Jahr 2022 Isar II im Bundesland Bayern, Neckarwestheim II in Baden-Württemberg und Emsland im Bundesland Niedersachsen abgeschaltet werden.
dpa/ND



Reaktionen auf den Ausstiegsbeschluss der Bundesregierung ***

Nach der Einigung der schwarz-gelben Koalition auf einen Stufenplan für den Atomausstieg wünsche sich die SPD einen Konsens, werde aber nicht um jeden Preis zustimmen, sagte Parteichef Sigmar Gabriel dem »Spiegel«. Man werde keinem Gesetz zustimmen, das die Industrieproduktion in Deutschland und damit sichere Arbeitsplätze gefährdet. Das Ausstiegsdatum 2022 sei »in Ordnung, obwohl es unserer Meinung nach auch schneller gehen kann«, sagte Gabriel. »Die SPD-Länder sind zu einem echten und dauerhaften Konsens bereit«, so die nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) am Sonntag (5. Juni) im Deutschlandfunk.

SPD und Grüne verbuchten die Einigung der Koalition auf einen stufenweisen Atomausstieg auch als eigenen Erfolg. »Die Kanzlerin musste dem Druck der Grünen nachgeben«, erklärte der Grünen-Fraktionsvorsitzende Jürgen Trittin. Ob das geänderte Paket einen Konsens finden könne, komme auf die Details an. Vertreter beider Parteien forderten, dass der Ausstieg nicht wieder rückgängig gemacht werden dürfe. Der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Ulrich Kelber forderte dafür bei Handelsblatt Online einen »Staatsvertrag oder eine Grundgesetzänderung«.

FDP-Fraktionschef Rainer Brüderle appellierte an die Opposition, dem neuen Energiekonzept zuzustimmen. Das Ziel, bis 2022 aus der Atomenergie auszusteigen, sei ambitioniert. Beim Kraftwerksbau und Netzausbau »brauchen wir jetzt eine gesamtgesellschaftliche Anstrengung wie nach der Deutschen Einheit«, sagte Brüderle dem »Hamburger Abendblatt«.

Die Bundesregierung will am heutigen Montag (6. Juni) die Gesetzesänderungen für den Atomausstieg beschließen. Am Donnerstag wird Merkel im Bundestag eine Regierungserklärung zur Energiepolitik abgeben. Bundesrat und Bundestag sollen die Gesetzesänderungen bis Anfang Juli verabschieden. ND

*** Aus: Neues Deutschland, 6. Juni 2011


Verzögerungstaktik

Klimaschutz und Atomausstieg

Von Wolfgang Pomrehn ****


Es steht schlecht um den Klimaschutz. Erst letzte Woche hat die Internationale Energieagentur verkündet, daß der weltweite Treibhausgasausstoß 2010 höher als je zuvor war. Und schlimmer noch: Weit und breit keine Spur einer wirksamen Gegenstrategie. Das Problem ist seit mehr als 30 Jahren bekannt, seit mindestens 20 Jahren sind sich die Wissenschaftler weitgehend über seine potentiell katastrophalen Ausmaße einig, aber die internationalen Klimaschutzverhandlungen treten weiter auf der Stelle.

Daran wird auch die neue Gesprächsrunde nichts ändern, die am heutigen Montag in Bonn beginnt. Zwei Wochen lang werden dort am Sitz des Sekretariats der Klimarahmenkonvention Diplomaten aus aller Welt versuchen, Details zu klären und einem Vertragsabschluß näher zu kommen. Doch weiter als ein paar Millimeter wird es dabei kaum voran gehen, und das ist fatal. Immerhin läuft Ende dieses Jahres das sogenannte Kyoto-Protokoll aus, der bisher einzige internationale Vertrag, in dem konkrete, wenn auch recht zahnlose Klimaschutzmaßnahmen festgelegt wurden.

Eine Mitschuld an der verfahrenen Situation haben auch die amtierende Bundesregierung und ihre Vorgängerinnen. Denn entgegen dem immer wieder in der hiesigen Öffentlichkeit gepflegten Bild gehört Deutschland keineswegs zu den Vorreitern im Klimaschutz. Trotz aller Reduktion der letzten 20 Jahre, die im übrigen weit hinter den ursprünglichen Versprechungen von 1990 zurückblieben, gehören die hiesigen CO2-Pro-Kopf-Emissionen noch immer zu den weltweit höchsten. Nur in einigen wenigen Ländern wie den USA, Rußland oder den Golfstaaten wird noch mehr in die Luft geblasen. Das Einsparpotential ist entsprechend gewaltig, aber die Bundesregierung versteckt sich in den Verhandlungen lieber hinter anderen unwilligen EU-Regierungen, anstatt ernsthafte Angebote auf den Tisch zu legen.

Der Grund für diese Verzögerungstaktik offenbart sich derzeit auch in den Maßnahmen rund um den sogenannten Ausstieg aus der Atomkraft, die heute vom Bundeskabinett in die Form verschiedener Gesetzentwürfen gegossen werden sollen. Das Verbrennen von Kohle zur Stromgewinnung, immer noch eine der wichtigsten Quellen des Treibhausgases CO2 und eine Domäne der großen Energiekonzerne, ist ein prima Geschäft. Solaranlagen und Windkraftwerke sind hingegen zwar klimafreundlich, haben aber aus Sicht der Konzerne den wesentlichen Nachteil, meist von einzelnen Bürgern, Genossenschaften oder auch breitgestreuten Fonds betrieben zu werden. Daher wird im Windschatten der AKW-Abschaltung nun die Trommel für neue Kohlekraftwerke gerührt. Sachsen-Anhalt will gar einen neuen Braunkohletagebau erschließen, während gleichzeitig der Ausbau von Solaranlagen ausgebremst werden soll. Ein Grund mehr, die Energiekonzerne endlich zu zerschlagen und die Versorgung wieder in die Hand kommunaler Unternehmen zu legen.

**** Aus: junge Welt, 6. Juni 2011


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