Atomunfälle bleiben hohes Risiko für Deutschland
Was wir aus Tschernobyl, Fukushima und anderen Störfällen lernen könnten
Von Marko Ferst *
Wird Fukushima der letzte große Reaktorunfall gewesen sein? Die Aufräumarbeiten und womöglich auch der Bau von »Sarkophagen« in Japan werden viele Liquidatoren mit Strahlenbelastungen hinterlassen. Auch um Fukushima gibt es nun eine Sperrzone. Schätzungsweise 12 Prozent der in Tschernobyl freigesetzten Menge an radioaktiven Nukliden wurden bislang ausgestoßen. Unabhängige Strahlenkontrolleure, wie die Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik in Wien, vermuten jedoch deutlich höhere Emissionen an Jod und Cäsium. Zudem ist die Bevölkerungsdichte zehn- bis fünfzehnmal so hoch wie im Umkreis des ukrainischen Unglücksreaktors.
Bei den zwei Wasserstoffexplosionen hatte man vermutlich Glück. Das Containment blieb halbwegs intakt. Günstig könnte gewesen sein, dass die Reaktoren durch das Erdbeben bereits in abgeschaltetem Zustand waren. Erhitzt sich der Kernbrennstoff auf über 2000 Grad und kommt plötzlich mit Wasser in Berührung, könnten bei einer Wasserdampfexplosion weitaus größere Mengen an Kernbrennstoff samt Radionukliden freigesetzt werden. Tokio oder andere Regionen hätten bedroht sein können.
Der Graphitbrand in Tschernobyl
Bei der sowjetischen Reaktorkatastrophe wurde ein Gebiet drei Mal so groß wie die Schweiz verstrahlt. Zwei Drittel Weißrusslands sind radioaktiv verseucht. Eine unregelmäßig geformte Zone, mit einem Durchmesser von ungefähr 60 Kilometern, erstreckt sich um Pripjat. Zu den am stärksten kontaminierten Zonen gehört ein ähnlich großes Gebiet nördlich von Gomel, mehr als 100 Kilometer vom AKW entfernt. Viele weitere Gebiete in der Ukraine, Russland, Georgien, auf der skandinavischen Halbinsel und anderenorts wurden belastet. Ungefähr neun Millionen Menschen bekamen eine deutlich erhöhte Strahlung ab. Mehr als 400 000 Menschen mussten ihre Wohnungen verlassen. Immer noch leben auf verstrahlten Gebieten in Weißrussland zwei Millionen Menschen. Die volkswirtschaftlichen Schäden des Atomunfalls werden auf rund drei Billionen Euro geschätzt. Evakuierungsgebiete gibt es bis in 150 Kilometer Entfernung, sogar 400 Kilometer entfernte Ortschaften wurden entsiedelt. In Deutschland sind interessanterweise in Katastrophenschutzplänen außerhalb einer 25-Kilometerzone keine umfassenden Schutzmaßnahmen vorgesehen.
Der zerstörte Reaktor in der Ukraine feuerte ungefähr 50 Tonnen radioaktive Substanzen in die Atmosphäre und das Umfeld. Uranoxid in Form von Feindispersionsteilchen, hoch radioaktive Nuklide von Jod-131, Plutonium-239, Neptun-139, Cäsium-137, Strontium-90 und viele andere Radioisotope wurden freigesetzt. Hätte man den Reaktor ausbrennen lassen und nicht gelöscht, wäre das Strahlenniveau zwischen Atlantik und Ural um das 10- bis 20-fache angestiegen. Eine Studie der Gesellschaft für Strahlenschutz und der atomkritischen Ärztegesellschaft IPPNW belegt, dass bis zum Jahr 2006 allein 50 000 bis 100 000 der Liquidatoren starben, die meisten der Überlebenden sind Invaliden.
Der Graphitbrand in Tschernobyl führte zu einem starken Aufwind, der die radioaktiven Stoffe in große Höhen aufsteigen ließ, sie sehr weiträumig und verdünnt verteilte. Bei einem deutschen Reaktorunfall würde sich wegen der anderen Bauart die Ausbreitung auf einige hundert Kilometer um den Unglücksort herum beschränken. Dort ginge jedoch eine höhere Strahlenbelastung nieder, weil die Freisetzungshöhe über dem Kraftwerk deutlich niedriger wäre.
Die westlichen Reaktoren sind sicherer, um bei kleineren Unfällen Radioaktivität zurückzuhalten. Der Innenraum ist voluminöser, es existieren ein massiver Reaktordruckbehälter und ein schweres Reaktorgebäude. Bei den älteren Anlagen sind diesbezüglich Abstriche zu machen. Ein Unfallablauf wie in Tschernobyl ist in deutschen AKW nicht möglich, bei Leichtwasserreaktoren wäre jedoch z.B. eine heftige Explosion von Wasserstoffgas möglich, das im Verlauf einer Kernschmelze entsteht. Japan demonstrierte anschaulich: Auch die deutschen Reaktoren könnten explodieren. Schlagartige Freisetzungen würden auch durch Dampfexplosionen oder das Durchschmelzen des Reaktorkessels bei hohem Innendruck möglich. In einem solchen Unfallverlauf würden große Gebiete viel massiver verstrahlt als dies jetzt in Japan der Fall ist.
Störfälle in Schweden und Deutschland
2006 stand der schwedische Atomreaktor Forsmark-1 kurz vor der Kernschmelze. Ein Kurzschluss trennte ihn schlagartig vom Stromnetz. Die Notstromgeneratoren für den Kühlkreislauf fielen aus. Die Bedienmannschaft agierte ohne Messinstrumente. Lars-Olov Höglund, viele Jahre Chef der Konstruktionsabteilung des schwedischen Vattenfall-Konzerns, schätzte dies seinerzeit als gefährlichsten Zwischenfall seit Harrisburg und Tschernobyl ein.
Knapp vor der großen Katastrophe stand 1987 Block A von Biblis. Ein wichtiges Ventil blieb beim Hochfahren des Reaktors versehentlich offen, ließ sich nicht schließen. Zunächst übersehen, begann ein waghalsiges Spiel: Durch Öffnen eines zweiten Ventils sollte das Klemmen des anderen beseitigt werden. Damit war der Beginn eines GAU eingeleitet, Kühlmittel strömte aus. Das klemmende Ventil löste sich glücklicherweise.
Ein schwerer Zwischenfall ereignete sich 1978 im AKW Brunsbüttel. Ein Stutzen der Frischdampfleitung riss ab. Stundenlang strömten etwa 145 Tonnen radioaktiv verseuchter Dampf ins Freie. Eine Katastrophe fand nur deshalb nicht statt, weil der Reaktor auf niedrigem Leistungsniveau gefahren wurde und ein Kurzschluss ihn abschaltete. 1992 in Schweden: Ein Leck im Kühlwassersystem trat im AKW Barsebäck auf. Das Notkühlsystem musste eingeschaltet werden. Es löste sich durch den entstehenden Druck Isoliermaterial, verstopfte die Siebe vor den Ansaugöffnungen. Die Situation wurde kritisch, die Notkühlung ausgeschaltet, um die Siebe freizuspülen.
Verarbeitungsmängel oder rissanfälliger Stahl können dazu führen, dass Rohrleitungen brechen und kontaminiertes Kühlwasser herausströmt. Überhitzt der Reaktor, wird eine Kernschmelze möglich. Risse in Rohrleitungen sind immer wieder vorgekommen, 1995 zum Beispiel in Biblis B. 2002 riss in Neckarwestheim-2, dem neuesten AKW in Deutschland, ein Wärmeschutzrohr. Auch werden die AKW immer älter, Verschleiß taucht in höherem Maße auf. Neben Bedienfehlern sind freilich vorsätzliche Sabotageakte von besonderer Brisanz, da sollte man nicht nur gezielte Flugzeugattacken im Blick haben.
Viele deutsche AKW wären als Neuanlagen nicht mehr genehmigungsfähig, trotz Modernisierung und Wartung. Einst waren die heute gültigen kerntechnischen Regelwerke und deren Sicherheitsanforderungen noch nicht formuliert, es gab keine Entflechtung der Notfallsysteme. Bei den in Lizenz gebauten deutschen Siede- und Druckwasserreaktoren existieren, offiziell zugegeben, über 200 schwerwiegende ungelöste Sicherheitsfragen. Mit der Untersuchung der Sicherheit in den AKW sind die wenigen Fachbeamten in den Aufsichtsbehörden oftmals überfordert. Doch es existieren nur wenige Gutachter und TÜVs, die wiederum auf die lukrativen Aufträge aus der Atombranche angewiesen sind. So gibt es ein Netzwerk aus Abhängigkeiten und mangelnden Kontrollmöglichkeiten.
Bei einem Atomunfall greift keine der üblichen Versicherungen. Da die Energiekonzerne extrem unterversichert sind, müsste die Bevölkerung auch noch für die materiellen Schäden aufkommen. Millionen Menschen müssten für lange Zeit in Notunterkünften kampieren. Nach dem Unfall in Tschernobyl wurde radioaktiv verstrahltes Fleisch in vielen Republiken, außer in Moskau, zu je einem Zehntel normalem Fleisch beigemengt. Bei einem schweren GAU in Deutschland könnten fünf bis sechs Bundesländer radioaktiv kontaminiert werden. Unvermeidlich würden auch hier verseuchte Produkte in den Handel gelangen. Nach wie vor wird in verstrahlten Gebieten Weißrusslands, der Ukraine und Russlands die meiste Radioaktivität über Nahrungsmittel aufgenommen. Greenpeace schätzt, ungefähr 800 Abfallhalden wurden während der ersten Aufräumarbeiten angelegt. Rund eine Million Kubikmeter radioaktives Material vergrub man oberflächennah, das jetzt das Trinkwasser bedroht.
Langfristige Leiden und Opfer
Opferzahlen sind eine schwierige Materie, weil sehr komplexe Krankheitsbilder, die soziale Situation und vieles andere einkalkuliert werden müssen. Die russische Akademie für Wissenschaften rechnet mit 270 000 zusätzlichen Krebsfällen, von denen rund 90 000 tödlich verlaufen werden. Zwischen 1990 und 2000 stieg die Krebsrate in ganz Weißrussland um fast 40 Prozent an. Krebs steht unter den Todesursachen bei den Liquidatoren jedoch erst an zweiter Stelle. Tödliche Probleme mit Blutgerinnseln und -zirkulation führen die Liste an.
Bei vielen Menschen wurde das Knochenmark schwer geschädigt. Infektionskrankheiten, Entzündungen und schlechte Wundheilung weisen auf eine durch die Strahlung verursachte Immunschwäche, den sogenannten »Tschernobyl-Aids«, hin. Es tauchten Krankheitsbilder auf wie Sehstörungen, Schilddrüsenvergrößerung, Schilddrüsenunterfunktion, schwere nicht beherrschbare Infektionskrankheiten, Haut- und Schleimhautentzündungen, Allergien, Nasenbluten, Schwindel, rasche Ermüdbarkeit, Blutarmut, Leukämien, Hautkrebs, Schilddrüsenkrebs. Weiter treten Gelenkschmerzen, Konzentrationsschwierigkeiten, Entzündungen der Atemwege und Verminderung der Fortpflanzungsfähigkeit auf. Vorzeitige Alterung wird beobachtet. Wen wundert dann vermehrtes Auftreten von psychischen Erkrankungen?
Genaue Angaben über die Verbreitung der Leiden fehlen häufig, weil sie nicht systematisch erfasst werden. Allein in der Region um Tschernobyl seien zehntausende Kinder mit genetischen Schäden geboren worden. Viele Föten sterben auch im Frühstadium der Schwangerschaft. Schilddrüsenkrebs trat nach 1986 bis zu 200-fach häufiger auf bei Kindern und Jugendlichen. Die Zunahme von Jugenddiabetes und Herzrhythmusstörungen wird beobachtet. In den verstrahlten Regionen verschlechterte sich bereits bei niedrigen Dosen die Gesundheit erheblich. Denn das Reparatursystem der Zellen wird erst bei höheren Strahlendosen aktiv. Bei niedrigen Dosen funktioniert dieses System nicht.
Mit Spenden baute das Otto Hug Strahleninstitut als eingetragener Verein seit 1991 innerhalb der Poliklinik in der Stadt Gomel ein Schilddrüsenzentrum auf, schaffte modernste medizinische Geräte an und ließ weißrussische Ärzte in Deutschland weiterbilden. Die Unterstützung dieses Projekts ist eine sehr wirksame Hilfe. Mehr Informationen unter:
www.ohsi.de
Konto für Spenden: Stadtsparkasse München,
Kontonummer 382002, BLZ 70150000
Die IPPNW und die Gesellschaft für Strahlenschutz (GfS) publizierten die Studie: »Gesundheitliche Folgen von Tschernobyl. 25 Jahre nach der Reaktorkatastrophe«, einzusehen unter: www.ippnw.de
* Marko Ferst veröffentlichte den Band »Täuschungsmanöver Atomausstieg? Über die GAU-Gefahr, Terrorrisiken und die Endlagerung«
Aus: Neues Deutschland, 7. Mai 2011
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