Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Verharmloste Strahlenfolgen

Ärzteorganisation IPPNW kritisiert UN-Bericht zur AKW-Katastrophe von Fukushima

Von Steffen Schmidt *

Die Ärzteorganisation IPPNW kritisiert den am Freitag vorgelegten Fukushima-Bericht des UN-Komitees für die Folgen von Strahlung. Er gehe von veralteten Annahmen und ungenügenden Daten aus.

Das Komitee der Vereinten Nationen für die Folgen von Strahlung (UNSCEAR) legte am Freitag in New York seinen jährlichen Bericht vor. Darin gibt UNSCEAR auch eine Einschätzung der Folgen der Nuklearkatastrophe von Fukushima. Die Organisation Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) sieht in den Aussagen des Berichts zu Fukushima allerdings eine gezielte Fehlinformation der Öffentlichkeit. So behaupte UNSCEAR, dass »kein erkennbarer Anstieg von Krebserkrankungen in der betroffenen Bevölkerung zu erwarten sei, der mit der Strahlenexposition in Verbindung gebracht werden kann«. UNSCEAR räume zwar eine Zunahme von Krebsfällen ein, gibt aber an, dass diese wegen ihrer geringen Zahl nicht in der Statistik auffallen würden.

Für die langjährige Vorsitzende der deutschen IPPNW-Sektion, Angelika Claußen, ist diese Aussage unhaltbar. So sei der an sich sehr seltene Schilddrüsenkrebs bereits bei 18 Kindern in der strahlenbelasteten Region diagnostiziert worden, bei weiteren 25 bestehe der Verdacht auf eine solche Erkrankung. Im langjährigen Mittel sei in dem Gebiet aber nur ein solcher Krebsfall zu erwarten. Zudem habe sie bei ihrer Reise durch die hauptsächlich betroffenen Gebiete feststellen müssen, dass die Behörden vor Ort systematische Gesundheitschecks mit Blutbild blockieren. Wo dies Ärzte auf eigene Faust gemacht hätten, sei eine deutliche Häufung von vermutlich strahlenbedingter Schwächung des Immunsystems festgestellt worden. Der Kinderarzt Alex Rosen, stellvertretender Vorsitzender der deutschen IPPNW-Sektion, bemängelt denn auch an dem UNSCEAR-Report vor allem die mangelhafte Datenbasis. Genutzt worden seien im Wesentlichen Angaben der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO), der Betreiberfirma TEPCO und der japanischen Atombehörden, obwohl insbesondere bei TEPCO wiederholte Manipulationen und Ungereimtheiten aufgefallen waren. Es seien keine Daten von unabhängigen Messungen in den Bericht eingegangen. Ignoriert wird auch, dass bei den Arbeiten im AKW Fukushima Daiichi nach der Katastrophe in erheblichem Umfange Mitarbeiter von Subunternehmen eingesetzt waren, die in den Statistiken gar nicht erscheinen.

Wie schlecht es um die Unabhängigkeit von UNSCEAR bestellt ist, belegt für Rosen schon der Umstand, dass der wichtigste Strahlenleukämie-»Experte« ein Wissenschaftler ist, der mehr als 30 Jahre beim Brennelementehersteller British Nuclear Fuel arbeitete und auch als Rentner noch für die Wiederaufarbeitungsanlage Sellafield tätig ist.

Mängel sieht Rosen auch in der sonstigen wissenschaftlichen Methodologie, die teilweise von seit den 1950er Jahren überholten Annahmen ausgeht. So werde im Bericht fälschlich von einer Schwellendosis ausgegangen, unterhalb derer es keine Strahlenschäden geben soll. Die strahlenbiologische Forschung habe aber gezeigt, dass eine solche Schwelle nicht existiert. Zudem würden Embryonen und Föten bei der Dosis-Wirkungs-Beziehung einfach mit Kindern gleichgesetzt, obwohl bei diesen das Immunsystem noch nicht voll herausgebildet ist und sie wegen erhöhter Zellteilungsraten besonders empfindlich auf Strahlung reagieren. Zudem hat eine australische Studie 680 000 Kinder, bei denen eine Computertomographie durchgeführt worden war, mit einer Million nicht bestrahlter Kinder verglichen. Die dabei aufgenommene Strahlendosis von etwa 4,5 Millisievert (mSv) habe pro 100 000 Kinder haben zu neun zusätzlichen Krebsfällen geführt. Derartige Studien ignoriert das UN-Komitee einfach, bemängelt Angelika Claußen, obwohl auch UNSCEAR in Japan von vergleichbaren Belastungen ausgeht. Doch statt einer weiträumigen Evakuierung hatte man in Japan lediglich die zulässige jährliche Strahlenbelastungsgrenze von Kindern auf 20 mSv erhöht.

Problematisch ist nach Ansicht der IPPNW auch die Fixierung auf den von radioaktivem Jod ausgelösten Schilddrüsenkrebs, obwohl bekannt ist, dass große Mengen der mit Halbwertszeiten von um die 30 Jahre viel langlebigeren Radioisotope Cäsium-137 und Strontium-90 ausgetreten sind bzw. kontinuierlich mit leckendem Kühlwasser ins Meer entweichen. Chronische Exposition mit Radioaktivität kann zu Leukämien, Lymphomen und zu soliden Tumoren führen.

Die IPPNW erwartet aufgrund der bei unabhängigen Messungen ermittelten Strahlenbelastungen in der Umgebung von Fukushima in den nächsten Jahren 10 000 bis 20 000 zusätzliche Krebsfälle in Japan. Laut Rosen sei das noch eine konservative Schätzung, die für ganz Japan von einem zusätzlichen Krebsfall pro 10 mSv Lebenszeit-Strahlendosis ausgeht.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 26. Oktober 2013


Von Atomlobby gesteuert

Fukushima-Super-GAU: Ärzte werfen UN-Berichterstattern vor, Gesundheitsfolgen gezielt zu verharmlosen. Unabhängige Experten rechnen mit bis zu 20000 Opfern

Von Jana Frielinghaus **


»Die Kernenergie ist eine Technologie, die sich für Japan nicht eignet. Und vielleicht für kein Land der Welt. Die Risiken sind nicht akzeptabel.« Das sagte Gregory Jaczko, früherer Vorsitzender der Nuklearaufsicht der USA, am 14. Oktober nach einer Inspektion der Atomkraftwerksruine im japanischen Fukushima. Trotz dieser Einschätzung, die immer mehr Experten teilen, wollen Japans und die globale AKW-Lobby die Hochrisikotechnologie auch nach dem Super-GAU vom 11. März 2011 um jeden Preis retten. Ihr Einfluß reicht weit in Institutionen hinein, die eigentlich unabhängige Einschätzungen liefern sollten. Das zeigt sich unter anderem an einem Bericht es Wissenschaftlichen Komitees der Vereinten Nationen für Strahlungsfolgen, UNSCEAR, zu den durch den Super-GAU von Fukushima hervorgerufenen Risiken, der am Freitag in New York veröffentlicht wurde.

Vertreter mehrerer Ländersektionen der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) kommen nach Auswertung des ihnen vorliegenden Berichtsentwurfs zu einem vernichtenden Urteil. Am Freitag informierten in Berlin Angelika Claußen, Vorsitzende der deutschen IPPNW-Sektion, und ihr Stellvertreter Alex Rosen über die Positionen der Organisation. Der UN-Bericht verharmlose »systematisch das wahre Ausmaß der gesundheitlichen Folgen der Fukushima-Katastrophe«, so Claußen. Darin heißt es unter anderem, daß »kein erkennbarer Anstieg von Krebserkrankungen in der betroffenen Bevölkerung zu erwarten sei«. Solche Aussagen seien »gezielte Desinformation«, äußerte Rosen.

Es sei für sie »unfaßbar«, daß das Komitee sich im wesentlichen auf die Angaben der Internationalen Atom­energieorganisation (IAEO), des AKW-Betreibers Tepco und der japanischen Atombehörden stütze, empörte sich Claußen. Zugleich ignoriere es aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse über die Gefahren auch kleinster Strahlendosen sowie Expertisen unabhängiger Forscher. Rosen wies darauf hin, daß auch die um ein Vielfaches höhere Strahlenempfindlichkeit von Embryonen in den UN-Berechnungen nicht berücksichtigt wird. Das Komitee bestätigt zwar, daß es vermehrt zu Krebsfällen kommen wird, stellt aber zugleich heraus, diese seien statistisch nicht relevant und könnten nicht eindeutig mit dem radioaktiven Fallout in Verbindung gebracht werden. IPPNW hingegen rechnet langfristig mit bis zu 20000 Todesfällen infolge der Katastrophe. Am UNSCEAR-Bericht bemängelt die Organisation auch, daß nur die Zunahme der Fälle von Schilddrüsenkrebs berücksichtigt wurde, während andere Krebsarten, Herz-Kreislauf- und Autoimmunerkrankungen nicht betrachtet würden. Unseriös sei es auch, aus den Daten von ein bis zwei Jahren Schlußfolgerungen für die nächsten Jahrzehnte zu ziehen und Entwarnung zu geben, wie das der Bericht tue, betonte Rosen. Und verwies darauf, daß in der Präfektur Fukushima seit dem Super-GAU bereits 18 Kinder wegen Schilddrüsenkrebs operiert wurden, in 25 weiteren Fällen hätten Biopsien ebenfalls einen Krebsverdacht ergeben. Zu erwarten wäre in einer vergleichbaren Bevölkerung gerade mal ein einziger Fall, so Rosen.

Die Menschen in der Region werden indes kaum über die gesundheitlichen Risiken aufgeklärt, berichtete Claußen, die soeben von einem Besuch in dem Gebiet zurückgekehrt ist. Versuche von Ärzten und Lehrern, angemessen zu warnen, würden von Behörden gar untersagt. Diese werben statt dessen für die Rückkehr in die Region und für den Konsum von dort produziertem Obst, Gemüse und Reis. Dabei gelangen seit zweieinhalb Jahren, wie Tokio Anfang August einräumen mußte, aus der AKW-Ruine täglich 300 Tonnen verstrahlten Wassers in den Pazifik.

Den Hauptgrund für die eklatanten Fehleinschätzungen von ­UNSCEAR sieht IPPNW darin, daß »viele Mitarbeiter eine Vergangenheit in der IAEO, in der Atomindustrie oder in Atomaufsichtsbehörden haben«.

www.ippnw.de

** Aus: junge Welt, Samstag, 26. Oktober 2013


Zurück zur Kernkraft-Seite

Zur Japan-Seite

Zurück zur Homepage