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Atom-Aus kurbelt die Wirtschaft an

Besonders der Mittelstand hat sich längst auf die Zeit danach eingestellt

Von Hermannus Pfeiffer *

Ein rascher Ausstieg aus der Atomenergie wäre für viele Unternehmen ein Konjunkturmotor. Experten erwarten einen zusätzlichen Auftragsboom von 65 Milliarden Euro.

Lange konnte die deutsche Atomlobby in der Industrie mit ihrem großen Energiehunger punkten. Doch seit der Katastrophe von Fukushima rücken Atomstrom-Anhänger auch dort ins Abseits. Auf der Hannover Messe demonstrieren zahlreiche Unternehmen, dass sie sich von einem schnellen Ausstieg sogar gute Geschäfte versprechen. Der Kreis, der davon profitieren würde, reicht weit über die Hersteller und Betreiber von Windrädern, Sonnenkollektoren und Biogaskraftwerken hinaus.

Ein rascher Atomausstieg könnte der deutschen Wirtschaft zusätzliche Aufträge von bis zu 65 Milliarden Euro bescheren, berichtet das wirtschaftsnahe Fachmagazin »Markt und Mittelstand«. Obendrein zeichnen sich neue Exportchancen ab, von denen auch mittlere Unternehmen und kleinere Branchen profitieren dürften. Und beim Rückbau der 17 deutschen Atomkraftwerke wären nicht nur die wenigen hoch spezialisierten Firmen gefragt, sondern die im Mittelstand »vorhandenen Technologien müssen meist lediglich angepasst werden«.

Bundesweit wird die Stromerzeugung künftig weitgehend dezentral erfolgen. Für den verstärkten Einsatz von erneuerbaren Energien muss das Netz ausgebaut werden, um die Energie aus der Nord- und Ostsee in die Ballungsräume fließen zu lassen. Laut Berechnungen der Deutschen Energie-Agentur sind dafür in den kommenden Jahren Investitionen bis zu 25 Milliarden Euro notwendig – zur Freude der vier großen Netzbetreiber in Deutschland: die RWE-Tochter Amprion, EnBW, Tennet (früher E.on) und 50Hertz Transmission (früher Vattenfall). Doch für die Fundamente der Masten braucht es zunächst Betonbauer, für den Rohrbau Tiefbauunternehmen, für die Masten und Leitungen Stahlfabriken, Leitungs-, Seil- und Isolatorenhersteller. Hierbei gibt es gute Chancen gerade für den Mittelstand.

Ein Anti-AKW-Investitionsschub täte der Volkswirtschaft insgesamt gut. Dafür spricht eine Studie der Berliner Ökonomen Jan Priewe und Katja Rietzler. Sie stellten von 1991 bis 2010 eine »nachlassende Investitionsdynamik« fest. Folglich demonstrieren nun auch die Großen auf der Hannover Messe Optimismus. So baut die deutsche ABB nicht allein auf mehr Akzeptanz für neue Stromtrassen, sondern auch vornehmlich auf Einsparpotenziale in der Industrie. Durch eine Verbesserung der Produktionsprozesse oder Wärmeoptimierung in Fabrikhallen könnte weltweit »der von 250 Großkraftwerken erzeugte Strom eingespart werden«, heißt es im Technologiekonzern. Solche Einsparpotenziale gelten als potenteste Energiequelle der Zukunft, schließlich verbraucht in Deutschland die Industrie etwa 40 Prozent des Stroms.

Wie ABB tummelt sich Siemens seit Langem im Atomgeschäft und setzt – nicht erst seit Fukushima – mittlerweile weit stärker auf »grüne« Technologien. Beim Bau von Windkraftanlagen auf dem Meer ist Siemens auf dem Weg in die globale Spitzengruppe, und in die neue, vierte Konzernsparte »Infrastruktur und Städte« setzt Siemens-Boss Peter Löscher kapitale Hoffnungen. Demnach könnte die Metropole von morgen eine auch atomfreie Energieversorgung mit intelligenten Netzen – sogenannten Smart Grids – regeln. Die neue Siemens-Sparte bündelt bereits einen Jahresumsatz von 16,5 Milliarden Euro.

Hans Thie, Referent für Wirtschaftspolitik der Linksfraktion im Bundestag, wünscht sich denn auch eine stärkere »Differenzierung«: »Wir brauchen für jedes einzelne Umbau-Projekt eine differenzierte Analyse der Interessen, um für einen möglichst breiten Kreis der Protagonisten zu sorgen.« So spielte der VDMA, der Interessenverband der Investitionsgüterindustrie, eine wichtige Rolle bei der Durchsetzung der vorrangigen Einspeisung von Ökostrom ins deutsche Netz.

* Aus: Neues Deutschland, 5. April 2011


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