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Grausame Täter und bedauernswerte Opfer zugleich!

Kofi Annan legte einen Bericht über Kindersoldaten vor

Von Wolfgang Kötter *

Am 31. Juli 2006 unterbreitet UNO-Generalsekretär Kofi Annan dem Sicherheitsrat in New York den neuen Bericht über Kindersoldaten. Neben vielen ungelösten Problemen kann er auch eine ermutigende Neuigkeit vermelden: Erstmals wird die Rekrutierung von Kindern und Jugendlichen als Verbrechen zur Anklage gebracht.

Mit Thomas Lubanga Dyilo, dem ehemaligen Anführer der "Union Kongolesischer Patrioten" (Union des Patriotes Congolais - UPC), steht der allererste Kriegsverbrecher vor dem Internationalen Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag. Jahrelang verbreiteten Tausende von dem 45-jährigen Warlord angeworbene Kindersoldaten im Nordosten des Kongo Angst und Schrecken. Von den Stammes-Milizen angestachelt, zündeten die marodierenden Jugendlichen Dörfer an, begingen Massenvergewaltigungen, raubten Reisende aus und stahlen die Ernten von den Feldern. Nach Darstellung des Chefanklägers beim ICC, Luis Moreno-Ocampo, kamen bei den Kämpfen in der Provinz Ituri mindestens 8 000 Zivilisten ums Leben, weitere 600 000 wurden aus ihrer Heimatregion vertrieben.

Joseph Kony, Anführer der im Norden Ugandas kämpfenden "Widerstandsarmee des Herrn" (Lord's Resistance Army - LRA), die Zehntausende Kinder als Kämpfer, Träger oder Sexsklaven entführt hat, wird ebenfalls seit vergangenem Jahr vom Gerichtshof mit Haftbefehl gesucht. Lange Zeit hatte die Rebellengruppe, die die Zivilbevölkerung terrorisiert und der Regierung den Krieg erklärt hat, ihre Basen im Sudan und wurde vom dortigen mit Uganda verfeindeten Militärregime aufgerüstet.

Doch nach dem Friedensabkommen zum Südsudan weichen jetzt immer mehr Kämpfer in den Kongo aus. Auch dort gibt es kaum einen Kriegsführer, der keine Kindersoldaten rekrutiert hat, aber die meisten werden bisher nicht verfolgt. Manche von ihnen bekleiden sogar hohe Ämter in der Regierung. Der Sprecher der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, Richard Dicker, fordert den ICC deshalb auf, neben Lubanga "auch gegen diejenigen zu ermitteln, die ihn und die anderen Milizen in Ituri bewaffnet und unterstützt haben, darunter auch die politisch Verantwortlichen in Kinshasa, Kampala und Kigali". Wer Kinder unter 15 Jahre rekrutiert, kann nach dem Statut des Gerichtshofes als Kriegsverbrecher verurteilt werden. Auch Annan ruft in seinem jüngsten Bericht über Kindermissbrauch im Kongo zur sofortigen und bedingungslosen Freilassung aller Kinder auf, die noch zum Dienst in der Armee oder anderen bewaffneten Gruppen gezwungen werden. Die Regierung in Kinshasa müsse zudem die Verantwortlichen für Verbrechen an Kindern konsequent bestrafen.

Nach UNO-Angaben sterben weltweit jährlich zwei Millionen Kinder bei bewaffneten Konflikten, viele von ihnen als Soldaten. Der Missbrauch von jungen Menschen als Opfer und Täter zugleich ist eine der schlimmsten Menschenrechtsverletzungen unserer Zeit. Das Problem ist wahrlich global. Auf 250.000 - 300.000 schätzt der Jahresbericht des Kinderhilfswerks UNICEF "Zur Situation der Kinder in der Welt 2006" die Zahl der Kindersoldaten. Rund ein Drittel von ihnen sind Mädchen. Nach dem Ende der Kriege in Afghanistan, Angola und Sierra Leone wurden viele Kindersoldaten demobilisiert. Im Kongo sogar die Hälfte, aber trotzdem stehen immer noch 16.000 Kinder und Jugendliche unter Waffen. In den Konflikten an der Elfenbeinküste, Sudan und Liberia wurden sogar Tausende Kindersoldaten neu angeworben.

In Kolumbien ist jeder vierte "irreguläre" Kämpfer unter 18 Jahre. Einige Tausend sogar unter 15 Jahren. "Indem Guerillas und Paramilitärs Kindersoldaten einsetzen, fügen sie der kolumbianischen Gesellschaft einen unvorstellbaren Schaden zu," meint Jose Miguel Vivanco, Direktor der Amerikas Abteilung von Human Rights Watch. "Diese Kinder werden für die nächsten Jahrzehnte unter ihren Narben leiden." Rebellenarmeen rekrutieren Kindersoldaten, oft unter Alkohol- oder Drogeneinfluss, meistens für den Kampf gegen die staatliche Ordnung. Kinder und Jugendliche werden als Kämpfer geschätzt, weil sie loyal, billig und manipulierbar sind. Manche werden verschleppt oder zwangsrekrutiert. Andere schließen sich einer Truppe an, um Armut, Missbrauch oder Diskriminierung zu entkommen. Sie kämpfen an der Front, stehen Wache, entschärfen Minen oder erledigen Botengänge. Oft zwingt man sie auch zu harter Arbeit, Plünderungen, Gewalt, und Mord. Kehren sie jemals in ihre Dörfer zurück, bleiben sie mit ihren seelischen und körperlichen Problemen allein. Viele Mädchen und Jungen leiden ihr Leben lang unter den traumatischen Erfahrungen. Psychologen nenne sie multiple Belastungen. Die Folgen sind posttraumatische Stresssymptome wie Alpträume, Schlaflosigkeit, Angstzustände, ständige Wachsamkeit. Traumatische Erinnerungen dringen, ausgelöst durch Gerüche oder Geräusche, immer wieder ins Bewusstsein. Dazu kommen oft emotionale Abstumpfung, Selbsthass und Rachephantasien.

In zahlreichen Initiativen arbeiten Hilfsorganisationen weltweit daran, die Probleme zu entschärfen und Verletzungen zumindest zu lindern. So unterstützt das entwicklungspolitische Kinderhilfswerk "terre des hommes" ein Projekt in Angolas Hauptstadt Luanda für ehemalige Kämpferinnen der Rebellenorganisation UNITA, die bis April 2002 Krieg gegen die angolanische Regierungsarmee führte. Die jungen Frauen, die meisten sind um die 18 Jahre alt und viele haben bereits Kinder, sollen Fähigkeiten für das tägliche Leben erwerben, die ihnen eine Rückkehr in die zivile Gesellschaft ermöglichen. Sie lernen Haushaltsführung oder Kinderpflege und üben lesen und schreiben. Zur Selbständigkeit gibt es keine Alternative, denn zurück in ihre Dörfer und Familien können sie nicht, weil sie sich schämen oder verstoßen wurden.

"Kindersoldaten haben nichts gelernt außer töten, fliehen und sich am Leben zu halten", bedauert der Sprecher des deutschen Kinderhilfswerkes, Wolf-Christian Ramm. Mit der Forderung "Freiheit für Kinder-Rekruten" hat UNICEF die tamilischen Separatisten in Sri Lanka angehalten, alle minderjährigen Rekruten freizulassen. Die Ausbildung von Kindern zu Kämpfern müsse sofort beendet werden. Bereits im Jahre 2003 hatte die Rebellenorganisation "Befreiungstiger von Tamil-Eelam" (LTTE) mit dem Hilfswerk und der Regierung in Colombo vereinbart, alle Kämpfer unter 18 in Rehabilitationszentren zu entlassen. Laut UNICEF halten die Rebellen aber immer noch mehr als 1 300 Kinder fest.

Seit dem 12. Februar 2002 verbietet das Kindersoldaten-Protokoll zur Kinderrechtskonvention den Einsatz von Minderjährigen unter 18 Jahren als Soldaten. Bis heute haben 121 Staaten das Abkommen unterzeichnet und 107 bereits ratifiziert. Jedes Jahr, am Tag des Inkrafttretens, dem "Red Hand Day", macht "terre des hommes" gemeinsam mit anderen in der "Coalition to Stop the Use of Child Soldiers" zusammengeschlossenen Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen auf die Situation von Kindersoldaten aufmerksam. Sie fordern, die Rekrutierung von Kindersoldaten weltweit zu beenden.


Führende Kinder- und Menschenrechtsorganisationen nennen als Länder, in denen Kindersoldaten im Einsatz sind:
Afghanistan, Angola, Burundi, Kongo, Kolumbien, Elfenbeinküste, Guinea, Indien, Irak, Israel/palästinensische Autonomiegebiete, Indonesien, Liberia, Myanmar, Philippinen, Russland, Ruanda, Sri Lanka, Somalia, Sudan und Uganda.


* Dieser Text erschien - leicht gekürzt - im "Neuen Deutschland" vom 31. Juli 2006 unter dem Titel: "Kanonenfutter für die Kriegsherren"


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