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Lichtblick für Flüchtlingskinder

Beschluss der Bundesregierung weckt Hoffnung auf Umsetzung der Kinderrechtskonvention

Von Uwe Kalbe *

Die Bundesregierung hat beschlossen, der Kinderrechtskonvention künftig ohne Einschränkungen in Deutschland Geltung zu verschaffen. Der einschränkende Vorbehalt war bei der Ratifizierung 1992 eingelegt worden und beschnitt die Rechte von minderjährigen Flüchtlingen.

Asylbewerber in Deutschland zu sein, ist weniger komfortabel und einträglich, als vielerlei Gerüchte des Stammtischs es behaupten. Wenigstens Flüchtlingskinder, so könnte man meinen, würden doch wie Kinder behandelt - also als schutzbedürftig. Doch auch das stimmt nicht. Als Deutschland unter einer schwarz-gelben Bundesregierung 1992 seinen Beitritt zur Kinderrechtskonvention erklärte, wurde das unter einem Vorbehalt getan. Das in der Konvention verankerte Prinzip, dass das Kindeswohl bei allen staatlichen Maßnahmen Vorrang genießen müsse, sollte dem Ausländer- und Asylrecht untergeordnet sein - das hieß: Es sollte nicht für minderjährige Flüchtlinge gelten.

Seitdem werden Kinder, sofern sie Deutschland als Flüchtlinge erreichen, schlechter behandelt als ihre deutschen Altersgefährten. Besonders für unbegleitete Minderjährige hat das schwere Konsequenzen. Ab einem Alter von 16 Jahren werden sie wie ganz normale Asylbewerber behandelt. Das heißt auch, dass sie in Abschiebungshaft genommen werden können. Aus allein dem Grund, dass sie sich an einem für sie unerlaubten Ort befinden. Was dies für ihr Rechtsempfinden für Folgen hat, darüber kann nur spekuliert werden. Unter teilweise entwürdigenden Bedingungen - zum Teil durch medizinisch zweifelhafte Röntgenbildauswertungen - werden minderjährige Flüchtlinge zudem Untersuchungen ausgesetzt, wenn Zweifel an ihrer Altersangabe bestehen. Dies ist ein klarer Verstoß gegen die UN-Kinderrechtskonvention - der deutsche Vorbehalt macht es möglich.

Machte es möglich? Der fragwürdige Umgang mit minderjährigen Flüchtlingen könnte plötzlich der Vergangenheit angehören. Zumindest hat das Bundeskabinett am Montag beschlossen, den Vorbehalt zurückzunehmen, so wie es in der Koalitionsvereinbarung von CDU/CSU und FDP vorgesehen ist. Man reibt sich die Augen: Immerhin war es auch eine Regierung aus Union und FDP, die den Vorbehalt 1992 eingelegt hat. Auch die SPD, deren Sprecher für Menschenrechte und für Integration sich jetzt erfreut über den überfälligen Schritt äußern, hatte es in der eigenen Regierungszeit von 1998 bis 2005 nicht fertig gebracht, den Vorbehalt zurückzunehmen. Verwiesen wurde seit Jahren auf die ablehnende Haltung der Bundesländer - zuletzt konnte sich Ende vergangenen Jahres ein entsprechender Antrag in der Länderkammer nicht durchsetzen. Nun aber ist es gelungen, in der vergangenen Woche fällte der Bundesrat auf Antrag der Bundesländer Rheinland-Pfalz, Berlin, Brandenburg und Bremen einen Beschluss, in dem die Vorbehaltsrücknahme begrüßt wird.

Damit wäre zugleich mehreren Beschlüssen des Bundestages Genüge getan, der sich immer wieder mit dem Problem befasst hat. Der Petitionsausschuss des Bundestages hatte bereits am 26. September 2001 empfohlen, die Vorbehaltserklärung zur Kinderrechtskonvention zurückzunehmen. Nach 18 Jahren Ignoranz gegenüber den Rechten von teilweise traumatisierten Kindern ist nun plötzlich die Zustimmung einhellig. Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) und Familienministerin Kristina Schröder (CDU) sprachen von einem Signal - Deutschland stehe ohne Wenn und Aber für die Rechte der Kinder. Auch das Deutsche Kinderhilfswerk und UNICEF Deutschland begrüßten die Entscheidung. Das Kinderhilfswerk terre des hommes forderte Konsequenzen nun auch für die deutsche Entwicklungspolitik. Heiko Kauffmann von Pro Asyl machte gegenüber ND deutlich, dass die Bundesrepublik nun allerdings beweisen müsse, »wie menschenrechts- und integrationsfreundlich sie wirklich ist«.

* Aus: Neues Deutschland, 5. Mai 2010


Gleiche Rechte für alle Kinder?

Pro Asyl zur Respektierung der UN-Kinderrechtskonvention. Interview mit Heiko Kauffmann **

Heiko Kauffmann ist Mitbegründer, ehemaliger Sprecher und Vorstandsmitglied der Flüchtlingsorganisation Pro Asyl

ND: Die Regierung hat die Rücknahme der Vorbehalte zur UN-Kinderrechtskonvention beschlossen. Was sagt Pro Asyl dazu?

Kauffmann: Ein längst überfälliger Schritt ist vollzogen worden. Die Auseinandersetzung über die Rechte von Flüchtlingskindern ist eine schier unendliche Geschichte politischen Versagens und nicht eingelöster Versprechen. Es ist ein wirklicher Erfolg für Kinder- und Menschenrechtsverbände und alle, die sich für die uneingeschränkte Geltung der Kinderrechte in Deutschland eingesetzt haben. Jetzt müssen Taten folgen.

Eine schwarz-gelbe Regierung hat 1992 die Vorbehaltserklärung abgegeben und nimmt sie jetzt zurück. Haben dabei Ereignisse wie der Selbstmord eines nach eigenen Angaben 17-jährigen Georgiers in der Hamburger Abschiebehaft Anfang März dieses Jahres eine Rolle gespielt?

Die Absicht, den Vorbehalt zurückzunehmen, steht bereits im Koalitionsvertrag. Auch internationale Gremien wie der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes haben dies immer wieder angemahnt. Der Vorbehalt war der damaligen aggressiv-repressiven Abschreckungspolitik im Vorfeld der Demontage und Änderung des Artikels 16 im Jahr 1993 geschuldet. Sicherlich ist es ein wichtiges Signal, dass eine schwarz-gelbe Koalition wieder aufhebt, was sie damals verabschiedet hat.

Hat sich die Stimmung auch dadurch geändert, dass wegen des veränderten Asylrechts und der Verschiebung der EU-Außengrenzen gar nicht mehr so viele Flüchtlinge nach Deutschland kommen?

Die Abschreckungspolitik hat sich in den knapp 20 Jahren verlagert. Wir haben innen sicherlich eine größere Offenheit und Beweglichkeit der Politik. Aber nach außen ist die Abschreckungspolitik bekräftigt worden. Flüchtlingskinder gehören zu den Hauptleidtragenden einer verfehlten europäischen Flüchtlingspolitik. Die Bundesrepublik Deutschland muss jetzt beweisen, wie zivilisiert, wie menschenrechts- und integrationsfreundlich sie wirklich ist.

In der »Süddeutschen Zeitung« war zu lesen, dass sich nach Ansicht des Innenministeriums in der Praxis nicht viel ändern wird.

Bisher hat die Vorbehaltserklärung eine Blockade auf der rechtlichen Ebene bewirkt. So sind 16-jährige verfahrensmündig, unterliegen dem Asylbewerberleistungsgesetz und einem faktischen Ausbildungs- und Arbeitsverbot. Sie können in Abschiebungshaft genommen und ohne Begleitung abgeschoben werden. Eine Menge an Regelungen im Aufenthalts- , im Asyl- und im Sozialrecht müssen jetzt entsprechend angepasst werden. Zum Beispiel müssen die Alterseinschätzungen mittels radiologischer Messungen gesetzlich untersagt werden. Änderungen zur Volljährigkeit, zum Asylverfahrensgesetz und zum Aufenthaltsgesetz sind nötig.

Die Rücknahme der Vorbehalte bedeutet, dass die Menschenwürde von Flüchtlingskindern nicht mehr auf aufenthaltsrechtliche Kategorien reduziert werden kann. Für sie gelten endlich die Prinzipien, die den Kern der Kinderrechtskonvention ausmachen - das Diskriminierungsverbot, der Vorrang des Kindeswohls, das Recht auf Leben und die bestmögliche Entwicklung und die Berücksichtigung des Kindeswillens.

Wenn die UN-Kinderrechtskonvention vollständig eingehalten wird, sind dann Flüchtlingskinder ausreichend geschützt?

Sie haben dann zumindest die gleichen Möglichkeiten und Entwicklungschancen wie deutsche Kinder. Diskriminierung beginnt immer da, wo eine Gruppe über weniger Rechte verfügt. Integration kann nur ohne Diskriminierung gelingen.

Fragen: Regina Stötzel



** Aus: Neues Deutschland, 5. Mai 2010


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