Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Was ist das für ein Krieg in Nord-Uganda und warum wird er geführt?

Der Film "Lost Children" von Oliver Scholz und Ali Samadi Ahadi gibt darauf keine Antwort und ist trotzdem sehenswert

"Ohne sich an grausigen Verstümmelungen zu weiden, zeigt "Lost Children" schonungslos die Brutalität, die hier zur Alltäglichkeit geworden ist, zum Glück jedoch nicht zur resigniert akzeptierten Normalität. Zart besaitete Gemüter werden damit an den Rand der Belastbarkeitsgrenze geführt. Es ist jedoch auch ein Stück Ehrlichkeit des Films, diese Bilder nicht auszublenden. Ganz bewusst schenken die Filmemacher den Ursachen und Gründen für diesen Krieg kein gesteigertes Interesse, denn Hintergründe für Kriege sind immer zu finden und selten zu verstehen." (Nicole Kühn in www.filmstarts.de)
Im Folgenden dokumentieren wir ein paar Stimmen zu einem Film, der mit besonderer Eindringlichkeit das Elend von Kindern und Kindersoldaten, mithin auch von Mörderkindern im Krieg zeigt.





Lost Children, Deutschland 2005

Regie: Ali Samadi Ahadi, Oliver Stoltz
Drehbuch: Ali Samadi Ahadi, Oliver Stoltz
Schauspieler: Richard Kilama, Jennifer Akelo, Francis Ochaya, Vincent Opio, Grace Arach, John Bosco Komakech Aludi



Ermordete Kinder, Mörderkinder

Kindersoldaten in Nord-Uganda – »Lost Children« von Oliver Scholz und Ali Samadi Ahadi

Von Gunnar Decker


Opio ist acht Jahre alt und schon ein Kriegsveteran. Äußerlich unbeschädigt, aber innerlich? Er erzählt, wie sie einem ihrer Opfer den Schädel zertrümmern und dann das Gehirn aufessen mussten, bis nichts mehr übrig blieb. Sogar die Finger mussten sie sich hinterher ablecken, bis alles wieder »ganz sauber« war. Einer der Filmemacher stellt die hilflose Frage, ob sie das Gehirn denn vorher gekocht hätten und zu Antwort erhält er ein helles Kinderlachen, das einen erstarren lässt. Sind das kleine Monster? Nein, es sind selber Opfer eines Krieges, der seit fast 20 Jahren in Nord-Uganda wütet. Opfer, die um so leichter zu Tätern umfunktionierbar sind, weil sie Kinder sind.

Der Film besteht aus Gesprächen mit vier dieser Kindersoldaten, die fliehen konnten und nun in einem Hilfsprojekt der Caritas leben, betreut von Sozialarbeitern der Acholis, dem hier lebenden Stamm. Hier trafen sie die Filmemacher Oliver Stolz und Ali Samadi Ahadi. Sie nehmen sich Zeit für die Kinder, lassen sie sprechen. Aber gerade das Schreckliche, was ihnen angetan wurde, und das, was sie anderen antaten, es lässt sich schwer in Worte fassen. Nach und nach kommen sie hervor, diese Erinnerungen an das Töten. Es traf ihre noch kindliche Seele ganz ungeschützt und hat ihnen jenen müden Zug ins Gesicht geschrieben, der ein Wissen um Dinge birgt, die man besser nie erfahren möchte. Kann man diesen Kindern die Unschuld zurückgeben, die zu jedem Kindsein gehört? Das wohl kaum, aber ihnen und vor allem ihren Familien zu erklären, dass auch sie Opfer des Krieges sind, das kann man. Denn sie wurden von den Rebellen der Lord’s Resistance Army (LRA), einer religiös-fanatischen Guerilla, aus ihren Dörfern entführt – oft nachdem man ihre Eltern getötet hatte. Wer versuchte zu fliehen, wurde vor den Augen der anderen Kinder bestialisch ermordet. Meist mussten sie selber die »Verräter« mit Messern zerstückeln.

Furchtbare Geschichten und schreckliche Bilder. Sie machen hilflos. Auf den ersten Blick ist es ein unangemessen unpolitischer Film, in dem nur die Kinder vorkommen. Auf den zweiten Blick, ist genau das richtig. Denn vor aller Politik kommt das Leben eines Menschen, zumal eines Kindes. Die beiden Regisseure verbergen nicht, dass sie hier ganz Partei sind, sie wollen mehr, als bloß das Geschehen dokumentieren. Wie kann man eine Öffentlichkeit zwingen, diesen so brutal geführten Krieg endlich wahrzunehmen? Bei der Premiere des Films waren auch zwei der Sozialarbeiter aus dem nordugandischen Pajule da, die wollen, dass diese missbrauchten Kinder eine Zukunft haben. Also letzten Endes doch kein unpolitischer Film, sondern einer, der zeigt, wie in diesem Gebiet Politik auf Kosten der Schwächsten gemacht wird. Aber bleiben wir noch bei den beiden Sozialarbeitern, die sich unter ständiger Lebensgefahr mitten im Kriegsgebiet um die Kinder dieses Krieges kümmern. Sie sind auch deshalb so wichtig, weil sie meist die Einzigen sind, die sich noch der Kinder annehmen. Denn viele Familien verstoßen sie, wegen der schrecklichen Dinge, die sie getan haben. Was ist das für ein Krieg in Nord-Uganda und warum wird er geführt? Einen wirklichen Grund, das ist das Schreckliche, gibt es nicht. Nur ist es vielen, auch den Großmächten USA und China, nicht unrecht, dass es hier Krieg gibt, sie unterstützen die verschiedenen Gruppierungen. Denn in Nord-Uganda geht es um Öl und um Gold, um Einfluss-Sphären und Herrschaftscliquen. Uganda zum Beispiel exportiert viel mehr Gold, als es überhaupt fördert – der Schmuggel aus den Nachbarländern Kongo und Süd-Sudan wird erleichtert durch ein unüberschaubares Kriegsgebiet, in dem allein die Militärs herrschen. Nach der Premiere des Films kommt immer wieder die Frage, was man tun kann. Das erste wäre, sagen die Regisseure, dass man die Entwicklungshilfe, die Uganda jährlich in zweistelliger Millionenhöhe aus Deutschland bekommt, nicht mehr der Regierung blanko überweist, sondern Auflagen damit verbindet, eine Nachweispflicht, wie das Geld verwendet wird. So aber kommt es bei der herrschenden Korruption immer in die falschen Hände, beendet nicht den Krieg, sondern verlängert ihn. Großbritannien habe seine Zahlungen an Uganda bereits eingestellt, weil die Regierung eine Nachweispflicht über die Gelder abgelehnt hat. Aber solange andere Staaten, auch Deutschland, die Clans mittels Entwicklungshilfe weiter finanzieren, wird sich am Elend der Kindersoldaten wenig ändern. Denn in diesem schmutzigen Krieg sind die Regierungssoldaten genauso ein Feind der eigenen Bevölkerung wie die Rebellen. Auch in der Regierungsarmee werden Kindersoldaten verheizt. Opio, der Achtjährige, wurde bei einem Überfall von Rebellen wiederum entführt – keiner weiß, ob er noch lebt.

Aus: Neues Deutschland, 3. November 2005


In einer Filmbesprechung für die "Berliner Zeitung" schreibt Sabine Vogel u.a.:

Nein, es geht in diesem Film nicht um Kindersoldaten. Es geht um Kinder, denen es gelungen ist, dem Busch und der Rebellenarmee zu entfliehen und das Auffanglager der Caritas in Pajule zu erreichen. Im abgelegenen nordugandischen Rebellengebiet, 40 Kilometer vor der Grenze zum Sudan, haben die beiden deutschen Filmemacher Oliver Stoltz und Ali Samadi Ahadi ihre "Lost Children" gefunden und deren Horrorgeschichten zugehoert. (...)
(...)
(...) Statt Fakten einer weiteren afrikanischen Katastrophe aufzuzaehlen, zoomt (der Film) auf vier Einzelschicksale. Auf den achtjaehrigen Opio, der zu klein ist, um auf den Fahrradsattel zu klettern, und der erzaehlt, wie er neurekrutierten Kindern befehlen musste, das Gehirn eines von ihm getoeteten Soldaten zu essen. Nein: Roh, nicht gekocht!, lacht der kleine Killer auf eine Zwischenfrage des Betreuers. Als Opio im Caritas Zentrum Gulu ankommt, sind seine Fuesse fliegenumschwirrte Klumpen wunden Fleisches. In Gulu werden die traumatisierten Kinder von Einheimischen und einem Trauma-Experten aus Deutschland medizinisch und psychologisch behandelt und, soweit moeglich, wieder ihren Familien zugefuehrt - sofern diese die Taeter-Opfer noch annehmen.
Die 14-jaehrige Jennifer war fuenf Jahre bei der LRA. Mit elf wurde sie vergewaltigt und bekam eine Waffe. In ihren Traeumen verfolgen sie die Menschen, die sie getoetet hat. Die Augen abgewandt, berichtet sie mit leiser Stimme. Sie wuenscht sich, in eine Naehschule zu gehen. Die 23-jaehrige Sozialarbeiterin Grace Arach ermoeglicht es ihr; Grace ist fuer ueber 800 Kinder verantwortlich, davon sind nur 20 Prozent keine Moerder. Manchmal fuerchtet sie, wahnsinnig zu werden. - Und was macht der Zuschauer mit der "unglaublichen Erschuetterung"? Spenden? Sich bei einer Hilfsorganisation engagieren? Sich bei Gott beklagen? Die Filmemacher wollen "fuer eine Aenderung der Politik trommeln"; mit den Erloesen aus dem Film soll eine Buschklinik entstehen.

Aus: Berliner Zeitung, 3. November 2005


"Kriegsziele sind für Kinder unwesentlich"

Ein Gespräch mit Ali Samadi Ahadi und Oliver Stoltz, den Regisseuren des Films
A u s z ü g e


Warum sind Sie mehrfach unter großer Gefahr zu ehemaligen Kindersoldaten nach Uganda gereist?

Oliver Stoltz: Uns hat die Frage angetrieben, wie man es schafft, nach so schrecklichen Erfahrungen weiter zu leben. Deswegen schildert unser Film die Phase des Zurückkehrens und Bewusstwerdens. Die Kinder sind ja aus den Rebellenlagern geflohen, und dazu gehört ungeheuer viel Mut; Flucht wird mit grausamem Tod bestraft. Für uns sind diese gefluechteten Kinder Helden - und so wollten wir sie auch darstellen.

Ali Samadi Ahadi: (...) Wir wollten zeigen, wie schwer es für diese Kinder ist, wieder in der Gesellschaft akzeptiert zu werden, wenn sie zurückkehren. Und wie viel Wärme sie brauchen.

Ihr Film konfrontiert den Zuschauer mit kaum erträglichen Tatsachen und erschütternden Schicksalen. Er liefert aber kaum Hintergrundinformationen zu diesem Krieg. Warum nicht?

Ali Samadi Ahadi: Weil dieser politische Hintergrund für die Kinder keine Rolle spielt. In dem Moment, wo Kinder misshandelt und missbraucht werden, wo sie gezwungen werden zu töten und wo man ihnen die Kindheit raubt - da ist es doch nicht mehr wichtig, welche Ideale und Ziele hinter diesem Krieg stecken könnten. Es ist einfach nur unmenschlich! Wir wollten uns ganz bewusst auf diese Kinder und auf deren Mikrokosmos einstellen. (...)

Oliver Stoltz: (...) Ziel unseres Films ist es .., die emotionale Kraft des Kinos zu nutzen, um das Nachdenken und schließlich politisches Handeln zu befördern.

Wie haben Sie die Protagonisten für Ihren Film ausgewaehlt, und welche Erfahrungen haben Sie mit diesen schwer traumatisierten Kindern gemacht, die Sie porträetieren?

Ali Samadi Ahadi: Die vier Kinder in unserem Film stehen natürlich stellvertretend für Tausende, die in Afrika geraubt und zu Mördern gemacht werden. Und sie stehen auch für unterschiedliche Formen der Entäußerung und des Umgangs mit der Schuld. (...) Nicht alle Kinder in jenem Auffanglager der Caritas, in dem wir drehten, waren bereit, mit uns zu reden. (...)

Oliver Stoltz: Diese Kinder haben schreckliche Erfahrungen gemacht, die sie sehr schnell reifen ließen. Sie sind eigentlich Erwachsene im Kinderkörper. (...)

Trotz seines schwierigen Themas entlaesst "Lost Children" den Zuschauer nicht ohne Hoffnung.

Ali Samadi Ahadi: Wir wollen zeigen, dass es die Chance gibt, etwas zu tun, etwas zu verändern. Wir haben Projekte gestartet, um den Menschen in Afrika zu helfen. Für uns ist wichtig, dass die Zuschauer nicht glauben, wir ließen sie mit ihren Eindruecken allein. Die Zuschauer können konkrete Hilfe leisten.

Oliver Stoltz: (...) "Lost Children" macht Hoffnung, weil er Kinder zeigt, die die Hölle überstanden und ihren Platz im Leben wiedergefunden haben.

(Das Gespräch führte Knut Elstermann)

Auszüge aus: "Berliner Zeitung", 4. November 2005



Weitere Beiträge zum Thema "Kindersoldaten"

Zur Uganda-Seite

Zurück zur Homepage