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Die "Option für die Armen" ist unerfüllt

Die lateinamerikanische Befreiungstheologie begeht ihren 40. Geburtstag

Von Gerhard Dilger, Porto Alegre *

Landauf, landab erinnern katholische Theologen in Lateinamerika derzeit an die Bischofskonferenz von Medellín, die sich 2008 zum 40. Mal jährt. Auch wenn die »Option für die Armen« damals noch nicht wörtlich in den Dokumenten auftauchte: Das Treffen der 146 Bischöfe im August und September 1968 gilt als Geburtsstunde der Theologie der Befreiung, die bald zum Ärgernis für den Vatikan und die Herrschenden in Lateinamerika wurde.

An der Jesuiten-Universität Unisinos im südbrasilianischen São Leopoldo zieht Paulo Suess dieser Tage Fazit. »Medellín war der Beginn einer lateinamerikanischen Kirche im Gegensatz zur kolonialen Missionskirche«, sagt der 70-jährige deutsch-brasilianische Befreiungstheologe rückschauend. Damals erklärten die Bischöfe klar wie nie zuvor: »In Lateinamerika herrscht institutionalisierte Gewalt. Ganzen Bevölkerungsschichten fehlte es am Nötigsten.« Sie forderten, die Kirche müsse »alle Anstrengungen des Volkes zur Bildung und Entwicklung eigener Basisorganisationen unterstützen«.

Die Konferenz von Medellín knüpfte an das Zweite Vatikanische Konzil (1962-65) an. Papst Johannes XXIII. hatte die Emanzipation der Arbeiter, der Frauen und der kolonisierten Völker als »Zeichen der Zeit« erkannt und die Modernisierung der Kirche ausgerufen. Medellín bedeutete jedoch einen Perspektivwechsel: Die fortschrittlichen Bischöfe gingen nicht mehr von den zögerlichen Vorgaben Roms aus, sondern von den Realitäten ihrer Region.

»Natürlich hat sich die Kirche in Medellín an den gesellschaftlichen Aufbruch angehängt«, sagt Suess. Lateinamerika 1968 – das war revolutionärer Überschwang im Gefolge der kubanischen Revolution und ihres Märtyrers Ernesto Che Guevara, aber auch der Widerstand der brasilianischen Studenten gegen die Militärdiktatur und eine breite Auflehnung gegen die Autoritäten. »Unter vielen Katholiken entstand der Wunsch, die Bevölkerung möge die Lösung ihrer irdischen Probleme selbst in die Hand nehmen«, fasst der Kapuziner Luiz Carlos Susin zusammen. Auf dem Lande und in städtischen Armenvierteln bildeten sich Basisgemeinden.

Leonardo Boff, der in München promoviert hatte, erkannte bei seiner Rückkehr nach Brasilien, dass seine Gemeindemitglieder mit »dem hochgescheiten Zeugs aus Deutschland« nichts anfangen konnten. Mit seinem Buch »Jesus der Befreier« (1972), so sieht er es heute, vollzog er den Schritt »von der erlernten Theologie der modernen Welt zu einer Theologie der Welt der Armen«. Weitere theologische Vordenker wie der Peruaner Gustavo Gutiérrez wurden schon bald als Marxisten attackiert. »Oft war das bloß ein Vorwand, um Veränderungen in der Kirche von vornherein abzublocken«, meint Suess. »Aber das Entscheidende waren nicht die Texte, sondern das Handeln. Und da gab es Kirchenleute, die den Mächtigen so gefährlich wurden, dass sie beseitigt wurden«, wie Erzbischof Óscar Romero, der 1980 nach einer Predigt in der Kathedrale von San Salvador ermordet wurde. Ohne die Basis-Christen, die vielerorts den sozialen Widerstand bis heute organisieren, wäre auch Brasiliens Landlosenbewegung MST kaum entstanden.

In den 80er Jahren aber belegten Johannes Paul II. und Joseph Kardinal Ratzinger Leonardo Boff mit einem Schweigegebot. Folgenreich war auch die Ernennung neuer, konservativer Bischöfe und Kardinäle durch den Vatikan. Zugleich wuchs der Einfluss fundamentalistischer Pfingstkirchen aus den USA. Mit dem Fall der Berliner Mauer 1989 und den Niederlagen der Linken in Brasilien und Nicaragua geriet die Theologie der Befreiung in die Defensive.

In den 90er Jahren nahm sie indigene und afroamerikanische Traditionen auf. Boff entwickelte eine »Ökotheologie«. »Die feministische Theologie ist die stärkste Stimme der neueren Strömungen«, sagt Luiz Carlos Susin, »in den Basisgemeinden waren die Frauen schon immer die treibende Kraft.«

Mit dem Ecuadorianer Rafael Correa und dem ehemaligen Bischof Fernando Lugo in Paraguay wurden nun sogar zwei Linkskatholiken zu Präsidenten gewählt. »Doch die Befreiungstheologie raubt heute niemandem mehr den Schlaf«, sagt Suess. »Das kritische Engagement in Kirche und Gesellschaft hat nachgelassen, und soziale Bewegungen sind teilweise ins Regierungslager gewechselt.«

Die Regierungen Boliviens, Ecuadors, Paraguays und Venezuelas vergleicht Suess mit Don Quijote: »Sie hauen mit ihren Lanzen gegen eine dicke Mauer und halten damit die Hoffnung am Leben, dass diese Mauer eines Tages einstürzen könnten.«

* Aus: Neues Deutschland, 10. August 2008


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