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"Bewährung des Glaubens in verantwortlicher Tat"

Bericht von der Jahrestagung des Dietrich Bonhoeffer Vereins (dbv) zum 100. Geburtstag Dietrich Bonhoeffers

Dieser Bericht* beginnt mit dem ersten, eigentlichen Programmpunkt, der Stadtrundfahrt unter Leitung von C.P. Wagner am Freitag, 02.02.06, vormittags/mittags.

Etwa 60 Personen aus verschiedenen Bundesländern haben an dieser Fahrt zu Stätten in Berlin teilgenommen, die mit Dietrich Bonhoeffer in enger Verbindung stehen: Dorotheenstädtischer Friedhof, Zionskirche, Bonhoeffer-Haus (Marienburger Allee 43), Güterbahnhof Grunewald, Grunewaldviertel, ehemaliges Reichskriegsgericht, Schloßstraße (Jugendstube), Technische Universität, ehemaliges Büro T4, Matthäikirche, ehemaliges Amt Ausland/Abwehr, Wilhelmstraße 34 (Bekennende Kirche), ehemaliges Gestapo-Gelände.

Auf seinen Spuren ist uns Bonhoeffers Biographie lebendig geworden. Viele Jahre habe ich in Berlin gelebt und später auch gearbeitet in Zeiten, als man noch oder wieder ungehindert von einem in den anderen Stadtteil gelangen konnte. Warum erlebe ich diese Stationen heute das erste Mal? Viel habe ich in den Predigten und den wissenschaftlichen Arbeiten Bonhoeffers gelesen – war die Lektüre bequemer als sich der konkreten Erinnerung auszusetzen?

Besonders beeindruckt haben uns die Erinnerungs- und Begegnungsstätte (Bonhoeffer-Haus), das Reichskriegsgericht in der Witzlebenstraße als der Ort der Verhöre des Gefangenen Bonhoeffer und die beidseitige, hart die Daten der Todestransporte vermittelnde Rampe am Gleis 17, Güterbahnhof Grunewald. Von hier aus wurden zwischen Oktober 1941 und Februar 1945 50.000 Juden aus Berlin in die Konzentrationslager deportiert, zuvor in scheinbar unauffälligen Lastkraftwagen aus dem Stadtgebiet im entsetzlichen Sinne zusammengekarrt. Sollte das wirklich niemand wahrgenommen haben? Entsetzen verbreitet sich neuerlich in uns.

Gewiss, einige haben damals aufbegehrt. Dietrich Bonhoeffer gehörte zu ihnen, unbequemer Geist auch in der Bekennenden Kirche. Er wollte wachrütteln, auch die Regierenden der Kriegsgegner im Ausland zum Widerstand gegen das verbrecherische Nazi-Regime bewegen.

Die bekannte Lektüre fängt nach diesen und weiteren Stationen noch einmal an zu leuchten und uns zu neuem Lesen herauszufordern. Das ist das Ergebnis dieser Stadtrundfahrt auf Bonhoeffers Spuren.

Wolfgang Triebler

Freiheit hat offene Augen – Dietrich Bonhoeffer in seiner Zeit – Unter diesem Thema referierte am Abend der Göttinger Historiker Dr. Josef Ackermann aus seiner politisch-historischen Biographie über den Theologen und Widerstandskämpfer Bonhoeffer (Gütersloher Ver-lagshaus, 2005, 305 S., zahlreiche Fotos, 22,95 €).

Ausgehend von Bonhoeffers Familie, seinem Studium und seinen Erfahrungen während der drei wichtigsten Auslandsaufenthalte (Barcelona, New York, London) ging der Referent auf dessen grundlegende Auseinandersetzung mit seiner Kirche um die Einführung des Arierparagraphen ein, seine Schrift "Die Kirche vor der Judenfrage“ hervorhebend: Christliche Kirchen sind in unbedingter Weise jedweden Opfern jeder Gesellschaftsordnung verpflichtet. Zum verantwortlichen christlichen Handeln gehört auch die Verpflichtung, nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad in die Speichen zu fallen.

Mit dieser unabdingbaren Verpflichtung des Christen zum Widerstand gegen ein menschenfeindliches Re-gime hat Bonhoeffer sich keine Freunde unter seinen Kollegen gemacht, die zumeist einen freundlichen Kurs gegenüber den Nationalsozialisten gesteuert und ihn für fanatisch gehalten haben. In seiner eigenen Kirche fremd, heimatlos und obdachlos geworden, hat er in der anglikanischen Kirche dagegen großes Verständnis für seine christlich-humanitäre Haltung gefunden – und selbstlose Unterstützung insbesondere bei dem engli-schen Bischof von Chicester, George Bell.

Für Bonhoeffer hat es somit nicht nur ein Recht sondern auch eine Pflicht zum Widerstand gegeben. Im Bewusstsein um den unauflöslichen Konflikt, den Gewalt-anwendung mit sich bringt – ein schuldfreies Recht auf Gewaltanwendung kann es nicht geben – haben für ihn die Aktionen des Widerstandes stets in untrennbarer Verbindung von Verantwortung und Schuld gestanden.

Nach der Beschreibung von Bonhoeffers Haftzeit, sei-ner Verurteilung durch ein SS-Standgericht am 8. April 1945 und seiner am Tag danach erfolgten Hinrichtung kommt Ackermann auf den "Huppenkothen-Prozess“ zu sprechen, der gegen den Richter und den Staatsan-walt des Standgerichts im KZ Flossenbürg geführt und erst 1956 abgeschlossen wurde: Die beiden Angeklagten wurden in letzter Instanz freigesprochen, das Todesur-teil gegen Bonhoeffer und fünf weitere Widerstands-kämpfer als rechtmäßig zustande gekommen bestätigt. Bis 1995 hat dieses beschämende, unerträgliche Urteil des Bundesgerichtshofs gegolten – bis der Deutsche Bundestag für die überfällige moralische und juristische Rehabilitierung gesorgt hat.

Christoph Rinneberg

Samstag, der 03.02.02, ist der Tag der thematischen Arbeit für Mitglieder und Gäste gewesen, strukturiert in jeweils drei Sitzungen der drei synchron tätigen Arbeitsgruppen mit anschließendem Plenum, insgesamt mit guten Möglichkeiten zum freien Gedankenaustausch.

Die Arbeitsgruppe "Friedensaufgabe" hatten Pfrn. Regina Molnar, Pfrn. Roswitha Velte-Hasselhorn und Christoph Rinneberg vorbereitet. Grundlage hierfür war ein diskursiver Prozeß um Thesen gewesen, die zuvor in der Verantwortung Nr. 36 im Original abgedruckt waren und der Gruppenarbeit in komprimierter Form zur Verfügung gestanden hatten.

Nach ausführlichem gegenseitigem Kennenlernen der rund 15 Teilnehmenden sowie lebensgeschichtlicher Aspekte zum groß gefassten Thema "Frieden“ sind sich alle sehr schnell einig gewesen: Frieden soll nach Gottes Willen sein! – im Großen wie im Kleinen. Dies sagen wir analog zu dem (älteren) Wort der Kirchen: Krieg darf nach Gottes Willen nicht sein. Damit wollen wir ausdrücken, dass wir auf dem gleichen Weg sind und dass wir nach bestem Wissen und Gewissen jedes positive Zeichen, jeden individuellen, persönlichen Ver-such auf dem Weg zu Gottes Schalom wertschätzen und ihn erbitten.

Wir sehen die enge Verflechtung zwischen Frieden und Gerechtigkeit. Unsere Sorge gilt den tiefen Gräben zwischen arm und reich und der Militarisierung, durch die diese Unterschiede auch im Sinne des Ressourcen-Zugangs immer wieder abgesichert werden sollen.

Unsere Sorge und Kritik gilt den politischen und wirtschaftlichen Kräften, die militärisches Eingreifen noch immer für ein vernünftiges Mittel der Politik halten. Unser Nein! Ohne jedes Ja soll gelten. Wenn wir wirklich auf dem Weg zum Frieden weiterkommen wollen, dann kann es sich "nur" um Schritte zu mehr Gerechtig-keit und Nachhaltigkeit handeln, Schritte freilich, die wir Menschen gehen müssen.

Es ist uns bewusst, dass wir in einer Welt leben, in der Menschen von Gewalt bedroht sind. Konfliktvermeidende und -abbauende Möglichkeiten müssen vorrangig gesucht werden. Offen und kontrovers ist die Frage geblieben, wie damit umzugehen ist, wenn diese zu keinem Ergebnis führen. Soll nicht auch das Alleinlas-sen der Bedrohten nach Gottes Willen nicht sein?

Wir wollen uns, von Bonhoeffers Geist geleitet, den Fragen unserer Zeit stellen, auf konkrete Herausforderungen Antworten suchen und im Rahmen der begrenz-ten Möglichkeiten unsere Stimme erheben. Hierzu kann die Aneignung der o.g. Thesen – ggf. in friedensdienlicherer Modifizierung – eine wertvolle Hilfe bieten.

Roswitha Velte-Hasselhorn

Hat die Kirchensteuer eine Zukunft?
Unter Leitung von Pfr. Dominik Kanka hat sich dieser Frage die AG "Kirchensteuerreform" gestellt. Von den Inputs – Herbert Pfeiffer (dbv-Modell), Dr. Till Müller-Heidelberg und Dr. Gerhard Czermak (Kritiker des geltenden Systems) und Dr. Claus Petersen (Verteidiger) – und Diskussionen scheint mir folgendes zur weiteren Vertiefung erwähnenswert zu sein:

Kirchenmitgliedschaft und Kirchensteuerpflicht müssen getrennt werden. Die Kirche tauft ihre Mitglieder auf Jesus Christus, nicht auf die Kirchensteuer. (Pfr. Diet-rich Blaufuß auf einer Tagung des Bundes gegen Kirchensteuermissbrauch in Bremen, vor fast 10 Jahren). Diese Aussage steht in der Tradition Dietrich Bonhoeffers und drückt die nicht unberechtigte Angst aus, die Kirche könne sich auf eine Art Zwangsgemeinschaft reduzieren, der ihr eigentliches christliches Glaubensbe-kenntnis abhanden gekommen ist. Hier setzte schon 2002 der Reformvorschlag des dbv "Abschied von der Kirchensteuer“ an, die Möglichkeiten für eine verfassungskonforme Umbildung bzw. Ergänzung der tradierten Kirchensteuer auslotend. Das inzwischen von der "Initiativgruppe Kirchensteuerreform“ weiterentwickelte und 2004 am Rande des Katholikentags in Ulm der Öffentlichkeit vorgestellte Modell bildete denn auch die Grundlage der in Berlin eröffneten Diskussion.

Die Bandbreite der Meinungen der etwa zwanzig AG-Mitglieder war erwartungsgemäß groß. Sie reichte von der Forderung nach gänzlicher Abschaffung der Kirchensteuer bis zur Verteidigung ihres Fortbestands als einem bewährten Mittel zur Finanzierung kirchlicher Angelegenheiten. Es war davon die Rede, dass das dbv-Modell auf einem "ideologischen Vorurteil“ beruhe und der "gesamtgesellschaftlichen Verantwortung“ der Kirche nicht gerecht werde, aber auch davon, dass die Kirchensteuer keine angemessene Antwort auf das Evangelium darstelle und in keiner Weise dem neutestamentlichen Kirchenbegriff entspreche.

Weder konnte eine Annäherung der unterschiedlichen Positionen erreicht werden noch war eine Verständigung auf gemeinsame Grundlagen möglich. So ging es in der Debatte hauptsächlich darum, die Meinungen untereinander auszutauschen und die jeweiligen Gegenpositionen besser kennen zu lernen. Darüber jedenfalls war man sich am Ende einig, dass das gegenwärtige Kirchensteuersystem nicht ausreicht, um den Heraus-forderungen der Zukunft in der Kirche gerecht zu werden. Der Weg zu einem konsensfähigen Modell, wie es mehrfach eingefordert wurde, schien damit freilich erst betreten worden zu sein; der größte Teil der Wegstrecke wird in Zukunft noch bewältigt werden müssen.

Friedrich Battenberg

In die dem Projekt "Bonhoeffer bewegt" gewidmeten Arbeitsgruppe – Leitung Pfr. Dieter Storck, Pfr. Rainer Zimmermann, Prof.Dr. Gottfried Orth – haben sich etwa 15 weitere Teilnehmer und Teilnehmerinnen der Jahrestagung eingebracht.

Nach einer kurze Vorstellungsrunde haben sich die Teilnehmenden zunächst der Erfahrung ausgesetzt, die tatsächliche Bewegung mit sich bringen kann: Den großen historischen Raum des Bonhoeffer-Hauses haben sie begangen, durchschritten, erkundet, 'erobert' und sich Grundstimmungen freundlichen Einander-Begegnens, Sich-Ausweichens oder gezielten 'Anrempelns' ausgesetzt.

Gottfried Orths einstimmender Vortrag unter dem Thema "Dietrich Bonhoeffer – 100 Jahre nach seiner Geburt – und wir heute?" hat insbesondere Bonhoeffers "Glaube an die Universalität der Brüderlichkeit (bzw. Ge-schwisterlichkeit)" uns Teilnehmenden nahegebracht. Seine Einschätzung des lebensgefährlichen "kirchlichen Provinzialismus als Reaktion, als ängstliche Alternative zum Risiko der ökumenischen Zukunft", seine Anfrage "Sind wir durch das Abendmahl eine Gemeinde, dann ist das Elend verhungernder Christen in anderen Weltteilen ein Elend mitten unter uns…" und die Übertra-gung seines "Schuldbekenntnis der Kirche" in unsere heutige Lebenssituation haben uns in Atem gehalten.

Verschiedene Textauszüge, die sich zum großen Teil in der Broschüre "Kirche (er)leben, aber wie?" (DW der EKvW) finden, liefern die Grundlage für die Bildung von fünf kleinen, intensive Gespräche anregenden Un-tergruppen, deren Ergebnisse phototechnisch festgehal-ten und anschließend dem Plenum vorgestellt werden.

Gerade in der Verbindung Dietrich Bonhoeffer–Bekennende Kirche–Barmer Theologische Erklärung–Konziliarer Prozess–(säkulare) Lokale Agenda 21–ÖRK-Vollversammlung (2006)– 3. Europäische Ökumenische Versammlung 2007 ( www.eea3.org) sehe ich Chancen für den so dringend nötigen – christlichen wie interreligiös-ökumenischen – Dialog, z.B. in Berlin in der Initiative für ein "Interreligiöses Zentrum Berlin" ( www.irzberlin.de ) angepackt.

Meinerseits befindet sich eine "ökumenische Lernreise“ nach Südindien (vermutlich Mangalore – Bangalore – TamilNadu, für 10 bis 15 Teilnehmende mit jeweils einwöchigem Aufenthalt an einem ökumenisch-interreligiösen Ort, mit Vertiefung einzelner Schwerpunkt-themen) in Vorbereitung, die evtl. gemeinsam mit dem dbv in konkrete Planung für diesen Herbst übergehen könnte.

Michael Strecker

Wie zwischen zwei "Brückenköpfen" ist die Jahresta-gung aufgespannt gewesen – am Freitagmorgen die Bonhoeffer-Stadtrundfahrt und am Samstagabend, 04.02.06, das Lied-Oratorium "Dietrich Bonhoeffer", das auch von der Bundeszentrale für politische Bildung unterstützt worden ist. In einer an Spannung zunehmen-den Weise haben die Begrüßung des dbv-Vorsitzenden und des Pfarrers der gastgebenden Gemeinde, die Verle-sung des Grußworts unseres Bundespräsidenten und die bewegende Ansprache Prof. Rita Süssmuths zu "Bewäh-rung des Glaubens in verantwortlicher Tat" die Herzen der Anwesenden auf die Erstaufführung eingestimmt.

Das Liedoratorium ist im Rahmen der Arbeit in der Gruppe "Bonhoeffer bewegt" entstanden. Matthias Nagel hat die Musik geschaffen, Dieter Storck die Texte. Unter der Leitung von Irénée Peyrot haben die Markt-kantorei und das Marktorchester Halle/Saale das Oratorium im Französischen Dom würdevoll aufgeführt:

Sanctorum communio – Eingangschor
Die Erde bleibt unsere Mutter – Kanon
Tu deinen Mund auf für die Stummen – Chanson
Es gibt keinen Weg zum Frieden – Friedenslied
Das Leben Jesu Christi – Kanon
Wer seinen Traum von Gemeinde – Gemeindelied
Wenn man in einen falschen Zug einsteigt – Chanson
Nur wer für Juden schreit – Chanson
Im Beten und Tun des Gerechten – Kanon
Ich werde mich finden – Meditationslied
Mag sein – Vermächtnissong
Ich glaube an die Universalität – Litanei
In mir ist es finster – Gemeindelied
Marias Lied – Sololied
Dietrichs Lied – Sololied
Das Leben ist Gottes Ziel mit uns – Lob aus der Krise
Nicht das Beliebige – Lebenslied im Tode
Wer bin ich? – Musik-Text-Collage
Jesus ruft – Kanon
Von guten Mächten – Gemeindelied
Gefaßt und ruhig – Schlußchoral


Durch Text und Musik haben wir einen leidenschaftlichen, religiösen Dietrich Bonhoeffer erlebt, der nicht, wie es oft bei "Heiligen" der Fall ist, über unseren Köpfen schwebt, sondern als Mensch unter Menschen das Elend der Gewalt und die Einsamkeit erfährt, aber auch die tiefe sichere Liebe Gottes spürt und an die Universalität der Brüderlichkeit glaubt. Marias Lied und Dietrichs Lied haben uns Bonhoeffer noch näher gebracht. Die Hoffnung und Zuversicht vermittelnde Dramatik des Oratoriums hat uns sehr berührt, Dietrich Bonhoeffers Fragen nach seiner Identität uns bleibend beein-druckt. Dankbar für diese Erfahrung werden uns diese Gedanken lange beschäftigen.

Mariarosa Frigerio-Pfeiffer

* Redaktion: Christoph.Rinneberg@tele2.de - 28.02.06


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