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Der Bremsklotz

"Bis zu 50 Meter pro Jahr": Polarforscher warnen vor hohen Schmelzraten einer für sicher gehaltenen Eismasse

Von Wolfgang Pomrehn *

Schlechte Nachrichten für Küstenbewohner: In der Antarktis wird sich bei fortschreitender globaler Erwärmung voraussichtlich noch in diesem Jahrhundert ein großer Eisblock, der bisher als Barriere für die zum Meer strömenden Eismassen dient, auflösen. Das hat ein internationales Team von Wissenschaftlern, an dem des Bremerhavener Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI) beteiligt ist, kürzlich in einer Studie herausgearbeitet. Der Meeresspiegelanstieg könnte also drastischer ausfallen, als von der Mehrheit der Klimaforscher bisher angenommen wird.

Ganz im Süden des Atlantiks fließen die Gletscher der Westantarktis zu einer gewaltigen Eiszunge zusammen, die sich weit ins Meer hinaus erstreckt. Schelfeis werden solche Eismassen genannt. In diesem Falle schwimmen sie mehrere hundert Meter dick auf dem Meer. Indem sie sich hier und da an Erhebungen auf dem Meeresgrund und vorgelagerten Inseln verhaken, sind sie so etwas wie ein Bremsklotz, der die nachfließenden Gletscher aufhält, die von ihrem Eigengewicht hinab ins Meer gezogen werden.

Filchner-Ronne-Eisschelf

Viele hundert Kilometer erstreckt sich das Eis in einer gigantischen Bucht zwischen der Westantarktischen Halbinsel südlich von Feuerland und den eisigen Gebirgen der Ostantarktis hinaus auf die See, die dort Weddellmeer heißt. Polarforscher haben den Koloß nach Edith Ronne und Wilhelm Filchner Filchner-Ronne-Eisschelf getauft. Letzterer war der Leiter der zweiten deutschen Antarktisexpedi­tion, die das Schelfeis 1912 entdeckte. Später, im Südsommer 1946/47, hat eine US-amerikanische Expedition den westlichen Küstenverlauf unter dem Eis erkundet und den dortigen Teil des Schelfs nach der Polarforscherin Edith Ronne benannt, der Ehefrau des Expeditionsleiters Finn Ronne.

Auf der anderen Seite der Antarktischen Halbinsel, deren säbelartig gebogene Spitze auf Kap Horn, das Südende Amerikas, zeigt, befindet sich das Amundsenmeer und ein weiteres Schelfeis, auf dessen brüchige Stabilität sich bisher viele Befürchtungen der Polarforscher konzentriert haben. »Das Weddellmeer hatte (hingegen) niemand so richtig auf der Rechnung«, meint Studienleiter Hartmut Hellmer, der am AWI als Ozeanograf forscht. »Alle glaubten, seine Wassermassen seien im Gegensatz zum Amundsenmeer kalt genug, um dem Schelfeis nichts anhaben zu können. Wir aber zeigen, daß die warmen Wassermassen des Weddellmeeres in den kommenden Jahrzehnten dem Filchner-Ronne-Schelfeis mächtig zusetzen werden.«

Entscheidend für die Stabilität eines Schelfeises ist die Wechselwirkung mit dem Wasser, auf dem es schwimmt. Ist dieses kalt genug, so schmilzt nur so wenig Eis ab, wie durch andere Prozesse ersetzt werden kann. Zur Zeit verliert das Filchner-Ronne-Schelfeis, so die Autoren in ihrem im Fachblatt Nature erschienenen Beitrag, nur 20 Zentimeter pro Jahr an seiner Unterseite. Dieser Verlust kann ohne weiteres durch Schneefall an der Oberfläche und durch nachfließendes Eis wettgemacht werden. Ein im Uhrzeigersinn gerichteter Meeresstrom in der Weddellsee sorgt dafür, daß kein warmes Wasser von der Oberfläche des Südatlantiks unter das Eis dringen kann. Ein solcher Strom aus Osten bedeutet nämlich, daß die aufgrund der Erdrotation wirkende Corioliskraft Oberflächenwasser von der Küste wegdrückt.

Wichtig für die Existenz dieser stabilisierenden Meeresströmung ist, wie die Autoren zeigen konnten, das vergleichsweise dünne Meereis, das vor dem Schelfeis den kalten Ozean bedeckt. Hellmer hat nun mit seinen Kollegen vom AWI und von britischen Met Office Hadley Center simuliert, welche Auswirkungen steigende Lufttemperaturen in den nächsten Jahrzehnten auf dieses Meereis und damit auf die Meeresströmungen haben. Vorausgesetzt haben sie dabei eines der oberen Entwicklungsszenarien für den Verlauf der Treibhausgasemissionen, in dem die Weltwirtschaft weiter im raschen Tempo wächst, die Emissionen aber etwas dadurch gemindert werden, daß die Energie zu einem kleineren Teil auch von emissionsfreien Trägern gestellt wird.

Aufsetzlinie

Mit diesem Szenario haben sie die Entwicklung der Lufttemperaturen im weiteren Verlauf des Jahrhunderts berechnet und diese wiederum in ein gekoppeltes Modell eingespeist, das die Wechselwirkungen zwischen Atmosphäre und Ozean simuliert. Ergebnis: Innerhalb der nächsten sechs Jahrzehnte kann es im Weddellmeer zu einer Kettenreaktion kommen, an deren Ende vermutlich große Inlandeis-Massen in den Ozean abrutschen. »Unsere Modelle zeigen, daß die wärmere Luft dazu führen wird, daß das heute noch solide Meereis im Weddellmeer in wenigen Jahrzehnten dünner und damit brüchiger und mobiler wird«, sagt Frank Kauker, einer der Ko-Autoren vom AWI.

Damit bekommen die in dieser Region vorherrschenden Westwinde mehr Angriffsfläche auf dem Wasser und können die östliche Meeresströmung abschwächen. Dies wiederum bedeutet, daß auch die vom Eis weg gerichtete Komponente der Strömung schwächer wird oder gar ganz zusammenbricht. In der Folge wird, so die Projektion der Forscher, in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts immer mehr warmes Oberflächenwasser unter den Schelf fließen und diesen angreifen. Aus den derzeitigen 20 Zentimetern, die an der Unterseite jährlich abschmelzen, könnten dann durchschnittlich vier Meter werden. »Die größten Schmelzraten erwarten wir nahe der sogenannten Aufsetzlinie. So nennt man jene Zone, in der das Schelfeis auf dem Meeresboden aufsetzt und in den Gletscher übergeht. An dieser Stelle schmilzt das Filchner-Ronne-Schelfeis heute um etwa fünf Meter pro Jahr. Zur nächsten Jahrhundertwende werden die Schmelzraten auf bis zu 50 Meter pro Jahr ansteigen«, sagt Jürgen Determann, ein weiterer Ko-Autor, der ebenfalls in Bremerhaven forscht.

Da das Schelfeis auf dem Wasser aufschwimmt, wird sein Abtauen zunächst nur einen minimalen direkten Einfluß auf den global gemittelten Meeresspiegel haben. Sorge macht allerdings, daß mit dem Verlust des Schelfs die Gletscher, für die er bisher als Bremsklotz wirkt, wesentlich schneller ins Meer fließen werden. Wie sehr diese sich beschleunigen werden, wird derzeit am AWI erforscht.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 24. Mai 2012


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