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Mutter Erde hat viel geweint

Unterwegs mit der Kleinbauernbewegung Via Campesina von Mexiko-Stadt zum UN-Klimagipfel in Cancún

Von Astrid Schäfers, Cancún *

»Ändert das System, nicht das Klima« – so lautete das Motto einer von der lateinamerikanischen Kleinbauernorganisation Via Campesina organisierten Karawane von Umweltaktivisten. Diese hatte sich von Mexiko-Stadt nach Cancún in Bewegung gesetzt, wo derzeit die 16. Konferenz zur Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen tagt. Kleinbauern, Studenten und Umweltschützer fordern von den verhandelnden Ministern umfassende globale Reduktionen der Treibhausgasemissionen – und von mexikanischen Politikern den Stopp umweltverschmutzender und die Menschenrechte verachtender Großprojekte.

Mexiko-Stadt, es ist sieben Uhr morgens: Eine bunt gekleidete Menschenmenge versammelt sich vor dem im Kolonialstil erbauten, mächtigen Teatro Hidalgo. Gepäck lagert halb auf dem Bürgersteig, halb auf der vierspurigen Straße. Fliegende Händler streifen mit Tamales (gefüllte Maismehl-Tortillas) und Kaffeewagen umher. Mit mexikanischer Gelassenheit setzt sich die aus fünf Bussen bestehende Karawane von Umweltaktivisten und Mitstreitern drei Stunden später auf den Weg nach Cancún. Organisiert wurde die Fahrt von der Kleinbauernbewegung Via Campesina.

Yara Al Monte, Mitglied der trotzkistischen Bewegung, zählt die Gruppen auf, die sich der Karawane angeschlossen haben: Kleinbauern, Anarchisten, Libertäre, Umweltschützer sowie Mitglieder der »anderen Kampagne«, der Zapatisten. Al Monte selbst gehört der Gruppierung Contracorriente an, einer studentischen Organisation. Sie hält es für »notwendig, die sozialen Kämpfe mit der Arbeiterbewegung zu verbinden«.

Keine großen Erwartungen

Eigentlicher Anlass der Karawane ist der Klimagipfel in Cancún, der vor einigen Tagen begonnen hat. Nach dem Scheitern der UN-Verhandlungen vor einem Jahr in Kopenhagen versprechen sich soziale Bewegungen, Nichtregierungsorganisationen und Umweltschützer auch diesmal keine maßgeblichen Entscheidungen im Sinne von umfangreichen Emissionsreduktionen. Dennoch haben sie massiv nach Cancún mobilisiert.

Am Eröffnungstag des UN-Gipfels hatten sich auch drei Karawanen von Via Campesina nach Mexiko-Stadt auf den Weg gemacht: Eine startete in San Luis Potosi, wo Minenarbeiter und soziale Bewegungen gegen die von Kanada finanzierte Mine San Xavier demonstrierten, die zweite Karawane kam aus La Palota im Bundesstaat Guerreo, wo ein großer Staudamm errichtet werden soll, und die dritte aus dem Bundesstaat Michoacan. Diese drei setzen von dort gemeinsam die Reise fort. Zwei weitere Züge hatten sich aus den Bundesstaaten Oaxaca und Chiapas direkt nach Cancún auf den Weg gemacht.

»Ziel der Karawanen ist es, an verschiedenen Orten Kämpfe sichtbar zu machen, bei denen lokale, nationale und internationale Organisationen kooperieren können«, erklärt Mariel Sanchez von der nationalen Befreiungsbewegung MNL. »Wir wollen Fälle von Umweltzerstörung aufzeigen und klarmachen, dass die mexikanische Regierung bei den Verhandlungen in Cancún den Willen zum Umweltschutz nur simuliert.«

Der erste Halt nach Mexiko-Stadt ist Puebla. Die Aktivisten versammeln sich im Auditorium der privaten Universität Iberoamericana. An den zahlreichen Bannern mit Losungen wie »Stoppt die Schnellstraße Supervia Poniente«, »Rettet unser Wasser« und »Stoppt die Verschmutzung durch den Staudamm« lässt sich die Anzahl der Megainfrastrukturprojekte ablesen, die die mexikanische Regierung und die einzelnen Bundesstaaten im Rahmen des Plans »Puebla-Panama« in die Wege geleitet haben. 2001 hatte der damalige mexikanische Präsident Vicente Fox einen Vertrag mit den zentralamerikanischen Staaten unterzeichnet, der unter anderem den Bau einer Schnellstraßenverbindung zwischen der mexikanischen Atlantik- und der Pazifikküste vorsieht. Miguel Lopez Vega berichtet von einem Straßen- und Immobilienprojekt des Bundesstaates Puebla, durch das sein Dorf zerstört werde: Die Straße soll den Flughafen Hermano Serdan in Puebla mit der gebührenpflichtigen Straße »21. Jahrhundert« verbinden, die nach Acapulco führt. Sie werde durch 27 indigene Gemeinden führen. Da die Anwohner nicht darüber informiert wurden, haben sie die »Front indigener Gruppen zur Verteidigung von Land und Wasser Puebla-Tlaxcala« gegründet. Diese hält in allen Gemeinden Versammlungen ab und kämpft gegen das Projekt. »Wir können nicht nach Cancún fahren, denn wenn wir unser Land verlassen, besetzen es die Militärs«, sagt Lopez Vega.

Wenig später bricht die Karawane in Richtung Veracruz, einem Bundesstaat im Nordosten Mexikos, auf. Um vier Uhr morgens stoppen die Busse; drei Stunden später, als die Reisenden aufwachen, stehen die Busse immer noch still. Die Karawane ist in eine Straßenblockade geraten, die Kleinbauern errichtet haben, um gegen die neue Regierung des Bundesstaates zu demonstrieren. Schon die Vorgängerin hatte nichts gegen eine Überschwemmung unternommen, die ihre Ernten vernichtete. Lastwagenfahrer sitzen auf den Straßenrampen, verteilen ihre Ladung, zum Beispiel Ananassaft, an die durstigen Karawanenmitglieder. Eine Studentin packt eine Gitarre aus und ein Lkw-Fahrer stimmt mit ihr in ein Lied ein. Erst gegen 14 Uhr setzen sich die ersten Fahrzeuge in Bewegung.

Ein Maya-Ritual in Chichen Nitza

Nach 14 Stunden Fahrt trifft die Karawane schließlich in Merida auf der Halbinsel Yucatan ein, später in Chichen Nitza. Hier wird sie von der Gemeinde mit einem Maya-Ritual zur »Rettung von Mutter Erde« empfangen. Vor einem Feuer ruft ein älterer Maya seine Götter an, damit sie auf die Erde kommen und den Karawanen-Mitgliedern Kraft geben. »Mutter Erde hat schon viel geweint, weil die Menschen sie zerstören«, erklärt eine ältere Frau.

Gegen zwei Uhr morgens erreicht die Karawane das Camp von Via Campesina in Cancún. Zentral in der Innenstadt, nahe bei einem Hotelstrand gelegen, bietet es einen idealen Anlaufpunkt. Menschen aus aller Welt tummeln sich zu Hunderten auf den zwei relativ kleinen Sportplätzen. Im Auditorium finden täglich Diskussionsveranstaltungen statt, die ebenfalls sehr großen Zulauf haben.

»Wir fordern eine Verringerung der Treibhausgasemissionen um 50 Prozent von Seiten der Industrieländer bis 2017, die massive Förderung von regenerativen Energien und die Schaffung eines Gerichts für Klimagerechtigkeit durch die Vereinten Nationen«, erklärt Alberto Gomes von Via Campesina bei einer der Veranstaltungen. Außerdem müssten die Rechte der Kleinbauern anerkannt werden: »Die Ernährungssicherheit muss Priorität in der Landwirtschaftspolitik haben.«

Umstrittener Waldschutz

Außer dem Camp von Via Campesina gibt es noch drei weitere Anlaufpunkte von Nichtregierungsorganisationen: das Forum Esmex, wo sich Umweltverbände wie Greenpeace und WWF treffen; ein idyllisches Ökodorf des in Kopenhagen entstandenen Klimaforums, das sich auf der anderen Seite von Cancún tief im Wald befindet – Umweltschützer und Hippies aus aller Welt testen hier alternative Lebensformen und selbst entworfene Energie- und Soundgeneratoren aus; und die von der mexikanischen Regierung organisierte Unternehmensmesse »Vila Climática«. Heute ist eine gemeinsame Demonstration vor dem Moon Palace geplant, wo Umweltminister aus über 190 Staaten verhandeln.

Zu den »kleinen Brötchen«, die dort gebacken werden, gehört die geplante Verabschiedung eines Abkommens zum Schutz der Urwälder auf der Basis des von der UNO unterstützten, marktgesteuerten Instrumentariums REDD. Im Klimacamp von Via Campesina lehnt man dieses ab – und weiß eine Reihe von Regierungen des Südens, allen voran Boliviens, auf seiner Seite. Begründung: Dieses Instrument ist mit den spekulativen Märkten des Emissionshandels und der Veräußerung traditioneller Bodenrechte verknüpft.

* Aus: Neues Deutschland, 7. Dezember 2010


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