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Klimaimperialismus

Hintergrund: Über Hans-Werner Sinns Lösungsvorschlag für das "grüne Paradoxon"

Von Mohssen Massarrat *

In seinem von Politikern, Unternehmern und Medien vielfach gelobten Buch »Das grüne Paradoxon. Plädoyer für eine illusionsfreie Klimapolitik« (Hamburg 2009) gelang Hans-Werner Sinn, dem Chef des Münchener Instituts für Wirtschaftsforschung, das Kunststück, nachzuweisen, daß alle selektiv gedachten und praktisch umgesetzten Klimaschutzmaßnahmen dem Klimaschutz nicht nützen, sondern schaden. Dabei verfolgt Sinn, im Unterschied zu vielen anderen neoliberalen Ökonomen, durchaus nicht die Absicht, den Klimaschutz mit ökonomischen Argumenten für überflüssig zu erklären.

Ganz im Gegenteil widmet er einige Kapitel seines Buches der ausführlichen Begründung, daß die Politik dringend handeln müsse, um den Klimawandel zu bremsen. Mehr noch: Sinn, immerhin der Wortführer der neoliberalen Ökonomen in Deutschland, hängt sich, gemessen an der sonst üblichen Marktgläubigkeit seiner Zunft, weit aus dem Fenster und erklärt den Klimawandel, in Anlehnung an den Bericht der sogenannten Stern-Kommission [1], zum »größten Marktfehler in der Geschichte der Menschheit« (Sinn 2009, S. 376).

Nicht nur mit solchen für einen neoliberalen Wortführer unerwarteten Einsichten, sondern auch mit seiner Kritik der herkömmlichen Klimaschutzinstrumente wie Ökosteuern und Emissionshandel (Kyoto-Instrument) lenkt Sinn die öffentliche Aufmerksamkeit auf seine Studie. Zum einen kritisiert er die Nachfragefixierung dieser Instrumente und »das Vergessen der Angebotsseite«. Damit legt er tatsächlich die Hand auf den wunden Punkt der bisher auch von den Grünen und Teilen der Umweltbewegung befürworteten Klimaschutzpolitik, da dadurch das Marktverhalten der globalen Anbieter von fossilen Energien als nichtexistent betrachtet und ausgeklammert, somit riskiert wird, daß nachfrageorientierte Maßnahmen den Klimaschutz konterkarieren. Und zum anderen kritisiert Sinn die selektive Anwendung dieser Instrumente, weil sinkende Nachfrage in einem Land die Anbieter, um sinkende Einnahmen zu kompensieren, dazu verleitet, ihre Produktion zu steigern, weshalb die Weltmarktpreise wieder sinken und den Verbrauch in Ländern ohne Klimaschutzstrategie stimulieren. Was also das Klima schützen solle, verursache am Ende mehr Schaden. Sinn nennt diesen in der Realität tatsächlich vorkommenden Effekt »grünes Paradoxon«, das jedoch in der bisherigen Klimaschutzdebatte angeblich übersehen worden sei. »Klimastudien, die Angebots¬entscheidungen auf den Weltmärkten zu einem integralen Bestandteil der Analyse machen«, seien rar, behauptet Sinn in seinem Buch (Sinn 2009, S. 330). Mit seiner insgesamt zutreffenden Kritik erzeugt er die Erwartung, ein Marktradikaler würde aus den klimapolitischen Fehlentwicklungen endlich sinnvolle Rückschlüsse ziehen und ein ganzheitliches Konzept liefern, das alle globalen Akteure einbezieht und selektive Schritte vermeidet, damit es ökologisch um so wirkungsvoller eingesetzt werden kann. Ob aber Sinn diese Erwartung erfüllt, wird Gegenstand folgender Ausführungen sein.

Neue Thesen?

Diesen Ausführungen sollen allerdings einige Zeilen vorausgehen, inwiefern Sinns »grünem Paradoxon« jene Originalität zukommt, die er gern für sich in Anspruch nimmt, zumal diese Frage in besonderer Weise die eigene Forschung des Verfassers zum Thema substantiell tangiert.

Seit 1993 habe ich in mehreren Büchern [2], in zahlreichen Artikeln – z.B. in der Politischen Ökologie, in den Blättern für deutsche und internationale Politik, in Spektrum der Wissenschaften, in der Zeit, in der Frankfurter Rundschau – und bei etlichen Diskussionsveranstaltung und Hearings, darunter auch im Finanzausschuß des deutschen Bundestages, sehr eindringlich die Schwächen der Kyoto-Instrumente mit teilweise sogar identischen Begründungen, wie sie nunmehr Sinn vorbringt, aufgezeigt. In meinem bereits 2000 veröffentlichten Buch »Das Dilemma der ökologischen Steuerreform« beschreibe ich ausführlich mit dem »Dilemma« der kontraproduktiven Wirkung von selektiv und auf der Nachfrageseite eingesetzten Klimaschutzmaßnahmen exakt das, was Sinn acht Jahre später als »grünes Paradoxon« bezeichnet. Ich erwähne dies deshalb, weil es fast unvorstellbar ist, daß diese durchaus der breiten Öffentlichkeit zugänglichen Publikationen dem Umfeld des Instituts für Wirtschaftsforschung in München verborgen geblieben sind.[3] Ungeachtet der Frage der Originalität kommt Hans-Werner Sinn mit seiner Kritik an den selektiv und aktionistisch agierenden Protagonisten des Klimaschutzes auf jeden Fall das Verdienst zu, gesellschaftliche Akteure für ganzheitliche ökonomische Analysen des Klimaproblems sensibilisiert zu haben, die kapitalismuskritische Autoren schwer erreichen können.

Bevor jedoch geklärt wird, ob Sinn die Klimaschutzdebatte befruchtet und bei der gegenwärtigen Sackgasse, in der sich der Kyoto-Prozeß am Vorabend der noch in diesem Jahr fälligen Verlängerung des Kyoto-Protokolls befindet, neue Wege aufzeigt, muß auf den fundamentalen Mangel seiner Analyse hingewiesen werden, den er mit fast allen neoklassischen und neoliberalen Ökonomen teilt: Er klammert nämlich den Faktor Macht bei der Preisbildung und der Ölrendite-Aufteilung zwischen den Eigentümerstaaten, den multinationalen Konzernen und den ölverbrauchenden Staaten ahistorisch vollständig aus und unterschlägt im Ergebnis damit, daß sich hinter der Klimaschutzfrage auch eine Frage der globalen Verteilung von Ölrenten unvorstellbaren Ausmaßes verbirgt. Ohne eine Einbeziehung dieser Frage können ganz sicher neue Illusionen, jedoch keine glaubwürdigen und praktikablen Konzepte entstehen. Sinns Analyse niedriger Ölpreise im 20. Jahrhundert bleibt durch diese Schwäche auf jeden Fall unzulänglich. Er verliert folgerichtig über die Auswirkungen hegemonialer Außenpolitik der USA auf die Öl- und Energiemärkte, die diese bezüglich den im Mittleren Osten gelagerten Ölquellen verfolgen, keine einzige Zeile. Hier kann lediglich ein knappes Ergebnis einer umfassenden Analyse dieser Aspekte, soweit für das Verständnis der Kritik an Sinn erforderlich, wiedergegeben werden.[4]

Die imperialistischen Interventionen der USA verfolgten im 20. Jahrhundert sehr erfolgreich stets das Ziel, die Ölpreise, soweit und solange es möglich war, niedrig zu halten. Die neoklassische Ökonomie ignorierte nicht nur die ökologisch zerstörerische Rolle niedriger Ölpreise, sie interpretierte diese sogar als ökonomisches Indiz für die Unbegrenztheit fossiler Ressourcen.[5] Um Sinns Konzept jedoch im Lichte der aktuellen Entwicklung der Energieweltmärkte beurteilen zu können, soll hier folgender Fakt festgehalten werden: Die Ära der politisch bestimmten und niedrigen Ölpreise scheint ein für allemal zu Ende zu gehen. Fortan dominieren Knappheitspreise auf den Öl- und Energiemärkten und in der Regel auch auf hohem Niveau. Diese werden tatsächlich durch Marktkräfte (Angebot und Nachfrage, die zunehmende Knappheit, ferner die Grenzkosten erneuerbarer Energien und gelegentlich auch die Finanzspekulationen) reguliert.[6]

Ohne den historischen Bezug nimmt Sinn die Tatsache von gegenwärtig hohen Ölpreisen und den Umstand, daß Ressourcenanbieter über Marktmacht verfügen, immerhin zur Kenntnis und setzt der neoklassischen Vergeßlichkeit und Ignoranz ein Ende, indem er anerkennt, daß Ressourcenanbieter auch Marktakteure sind und bei einer Klimaschutzpolitik, die wirken soll, nicht weiter außen vor gelassen werden dürfen.

Was aber folgert Sinn aus seiner richtigen Einsicht über die Realität der Anbieterstaaten fossiler Energien als Marktakteure. Will er diese Marktkräfte in ein globales Regulierungsmodell integrieren und eine tragfähige Klimaschutzstrategie vorschlagen, die die Marktfehler vermeidet und im Sinne der Senkung von Kohlenstoffemissionen wirklich funktioniert? [7]

Umverteilung der Ölrenten

»Marktapologeten räumen gelegentlich ein«, schreibt Joseph Stiglitz, »daß Märkte versagen, ja sogar katastrophal versagen können, behaupten jedoch, letztlich korrigierten die Märkte sich selbst.«[8] Sinn ist ein solcher Marktapologet. Er gesteht an vielen Stellen seiner Studie auch tatsächlich ein, der Klimawandel sei der größte Marktfehler in der Geschichte, da der Markt die Klimaschäden durch den Verbrauch von Kohlenstoffen als volkswirtschaftliche Kapitalkosten nicht erfasse. Wer aber glaubt, Sinn beabsichtige, dieses Problem, durch eine politische Regulierung bewältigen zu wollen, der muß sich getäuscht fühlen. Um das Marktversagen zu korrigieren, fällt ihm tatsächlich nichts Besseres ein, als – genauso, wie Stiglitz es meint –, erneut ein Marktinstrument vorzuschlagen: Eine Quellensteuer auf die Kapitalerträge der Ressourceneigentümer soll es richten. Eine an der »Quelle« zu erhebende Steuer, sagt Sinn, »macht diese Anlagen unattraktiver und veranlaßt die Ressourceneigentümer, einen größeren Teil ihres Vermögens im Boden statt bei ihrer Bank zu halten, also die fossilen Kohlenstoffe langsamer zu fördern«. (Sinn 2009, S. 427) Auf den ersten Blick scheinen Quellensteuern wegen ihrer flächendeckenden Wirkung gegenüber selektiv auf nationaler Ebene erhobenen Ökosteuern eine qualitative Verbesserung darzustellen. Bei genauerem Hinsehen löst sich dieser scheinbare Vorteil jedoch in Luft auf: Denn Quellensteuern auf die Erträge der Ressourceneigentümer hatten auf deren Marktverhalten eine ähnliche Wirkung wie Ökosteuern auf fossile Energiepreise. Beide Instrumente bewirken im Ergebnis sinkende Einnahmen bei den Ressourceneigentümern. Und in beiden Fällen sehen sich diese mit einer drohenden Teilenteignung konfrontiert und reagieren darauf mit Produktionssteigerung, um ihre Erträge zu stabilisieren. In beiden Fällen führt das Marktverhalten der Ressourceneigentümer also zum »grünen Paradoxon«. Weshalb aber die Anbieter bei Belastung ihrer Erträge durch Quellensteuern ihre Produktion verlangsamen, bei Belastung durch Ökosteuern dagegen beschleunigen sollten, bleibt ein Rätsel, das die Inkonsistenz von Sinns Argumentation offen legt.

Ferner legt Sinn mit seiner Darstellung, in welchem Teil der Welt die Quellensteuern eigentlich erhoben werden sollten, offen, welches zusätzliche Ziel er außer dem Klimaschutz noch verfolgt: »Im übrigen verschafft auch die Quellensteuer der westlichen Welt Steuereinnahmen«, begründet Sinn den für westliche Industrieländer positiven Verteilungseffekt seines Vorschlags, um diesen offensichtlich auch finanz- und verteilungspolitisch zu legitimieren: »Die von den Ressourcenanbietern verdienten Gewinne«, fährt er fort, »werden ja auf den Kapitalmärkten der Verbraucherländer angelegt und erzeugen Zinseinkommen, die der Quellenbesteuerung unterworfen werden können.« (Sinn 2009, S. 432)

Quellensteuer auf Zinseinkommen – ist das eigentlich nicht zu begrüßen? Tatsächlich ist die Besteuerung der in den westlichen Industrieländern selbst erwirtschafteten Zinseinkommen eine sozial gerechtfertigte Maßnahme. Die Erhebung einer Quellensteuer in den Verbraucherstaaten auf die Gewinne, die in den Ressourcenstaaten erwirtschaftet werden, ist jedoch eine imperialistische Einkommensumverteilung. Genau letztere Variante schwebt Sinn vor, und er will mit seinem »narrensicheren« Vorschlag offensichtlich den Ressourcenanbieterstaaten jährlich Hunderte Milliarden Ölrenten aus der Tasche ziehen, um diese den Ökonomien der westlichen Verbraucherstaaten zuzuführen. Insofern stellt sich Sinns Vorschlag einer Quellensteuer funktional als eine Neuauflage von Ökosteuern heraus. Beides sind zu allererst Marktinstrumente einer Umverteilung der Ölrenten zu Lasten der Ressourceneigentümerstaaten. Sie unterscheiden sich in erster Linie dadurch, daß sie sich auf unterschiedliche historische Rahmenbedingungen beziehen: Ökosteuern sind ein Preisaufschlag und daher ein geeignetes Instrument für die Ölniedrigpreisära im 20. Jahrhundert. Mit Quellensteuern liefert Sinn ein Instrument für die Ära hoher Ölpreise, das auf Abschöpfung von gestiegenen Einnahmen der Ressourcenstaaten zielt.

Super-Kyoto

Ob aber Quellensteuern dem Klimaschutz nutzen, wie Sinn annimmt, steht auf einem völlig anderen Blatt. Denn er eröffnet mit diesem Vorschlag eine für den Klimaschutz folgenreiche Konfrontation mit den Ressourceneigentümern. Offensichtlich ist ihm selbst die fehlende Konsistenz seines Vorschlages nicht ganz entgangen. Daher macht er auch aus seiner Unsicherheit mit einigen Einwänden keinen Hehl und will die Quellensteuer lediglich als eine Ergänzung zu einem »Super-Kyoto-System« verstanden wissen, das den juristischen und politischen Rahmen einer »weltweiten Mengenbewirtschaftung eines lückenlosen Emissionshandelssystems« darstellen sollte, um das man nicht herumkäme, »so bedenklich manche Begleiterscheinungen einer solchen zentralplanerischen Lösung auch sein mögen« (Sinn 2009, S. 433). Bei dieser letzten Option, die im Unterschied zu allen anderen Möglichkeiten der »Königsweg« sein soll, handelt es sich um »die Bildung eines lückenlosen Nachfragekartells, an dem sich alle Verbraucherländer beteiligen« (Sinn 2009, S. 417).

Dieses Nachfragekartell bzw. Super-Kyoto soll unter der Verantwortung der UNO stehen und durch verbindliche Beteiligung aller Verbraucherstaaten an einer klimazuträglichen Mengenbewirtschaftung von Kohlenstoffemissionen ein lückenloses Emissionshandelssystem organisieren. Sinns Super-Kyoto hat gegenüber dem gegenwärtigen Kyoto-System den Vorteil, daß alle Verbraucherstaaten an einem Strang ziehen und klimapolitisch kontraproduktive Effekte wie das »grüne Paradoxon« nicht entstehen würden, wenigstens nicht mehr durch Ausscheren auf der Verbraucherseite.

Welche Rolle sollen aber die Anbieter übernehmen, die Sinn eigentlich in ein globales Klimaschutzkonzept einbeziehen wollte? Dazu Sinn selbst: »Die Mengenbeschränkung könnte in Form eines weltumspannenden Zertifikatesystems realisiert werden, wie es seit 2008 von der UNO schon für eine Teilmenge von Ländern organisiert wird. Dann würde zwar die Zuweisung der Kohlenstoffmengen auf die einzelnen Länder immer noch durch einen Marktmechanismus gesteuert, nur wären es nicht mehr die Ressourceneigentümer, die den Zeitpfad des Abbauvolumens für die Welt festlegen, sondern die UNO. Der Macht der UNO könnten sich die Ressourcenanbieter nicht mehr entziehen.« (Sinn 2009, S. 418)

Zusammengefaßt soll das neue Kyoto formal unter dem Dach der UNO stehen, wobei der Nachfrageseite, d.h. den Hauptverbraucherstaaten (USA, EU, Japan und Schwellenländern), de facto die absolute Steuerungs- und Kontrollmacht überlassen bleibt, während dem Ressourcenanbieter die Rolle eines zahnlosen Tigers zugestanden wird. Hatte es aber diese Form der einseitigen Nachfrage-Anbieter-Beziehung im US-dominierten Ölpreisregime in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht schon einmal gegeben? Zwar ist in Sinns globalem Modell neu, daß an die Stelle der Hegemonialmacht USA die UNO treten soll, unverändert bleibt jedoch das Problem bestehen, daß die Ressourceneigentümer auch in einem UN-dominierten Modell nicht als autonom handelnde Subjekte, sondern als Getriebene der Nachfrageseite definiert werden. Mehr noch: Sinn schwebt es vor, die Anbieterseite geradezu an die Wand zu fahren: »Wenn sich alle Verbraucherländer einer Mengenbeschränkung unterwerfen, dann finden die Ressourcenanbieter für ihr Angebot keine Nachfrage und müssen sich beugen, ob sie es wollen oder nicht. Die Erwartungen über die Zukunft spielen dann keine Rolle mehr. Mit Mengenbeschränkungen, die für alle Nachfrager gelten, werden die Verhältnisse quasi mit dem Vorschlaghammer dorthin gezwungen, wo man sie haben will.« (Sinn 2009, S. 417f.)

Wurde im hegemonialen US-Ölpreis- und Ölrentenverteilungssystem mit allen denkbaren politischen und militärischen Mitteln die Marktmacht der Ressourcenanbieter marginalisiert, um die Ölpreise auf niedrigem Niveau zu halten und die Ölrenten in die westlichen Finanzzentren umzuleiten, schwebt Sinn mit seinem Vorschlag letztlich etwas Ähnliches vor. Denn durch die Mengenbeschränkung auf der Nachfrageseite, so Sinn weiter in seiner Analyse, würde einerseits die Nachfrage nach Ressourcen preisun¬elastisch und andererseits der Ölpreis durch die Konkurrenz der Ressourceneigentümer sogar sinken. »Das Ergebnis wäre für die Verbraucherländer«, so Sinns Schlußfolgerung, »in doppelter Hinsicht attraktiv. Zum einen würde der fossile Kohlenstoff nicht so schnell abgebaut, was den Klimawandel verlangsamt. Zum anderen müßten die Verbraucherländer nicht mehr soviel für die Brennstoffe zahlen. Zwar wären die Energiekosten für die individuellen Verbraucher höher, weil sie auch noch die Zertifikate erwerben müssen, doch würde der Fiskus eines jeden Landes über mehr Einnahmen verfügen, was den Bürgern über zusätzlich bereitgestellte öffentliche Güter oder niedrigere Steuern zugute käme. Die Verbraucherländer in ihrer Gesamtheit, Bürger und Fiskus zusammengenommen, zahlen auf jeden Fall weniger für die fossilen Ressourcen, weil sie ihre Nachfrage einschränken und den Weltmarktpreis drücken. In seinem Kern läuft das so beschriebene Super-Kyoto-System aus ökonomischer Sicht auf eine Teilenteignung der Ressourceneigentümer und den partiellen Ersatz der Marktsteuerung durch eine zentralplanerische Mengensteuerung hinaus.« (Sinn 2009, S. 419f.)

Imperialistisches Projekt

Sinns Super-Kyoto erweist sich zuallererst – darüber dürfte kaum Zweifel bestehen – als ein ausgeklügeltes superimperialistisches System der Eigentums- und Einnahmeübertragung von den Ressourcenstaaten auf die Verbraucherstaaten. Er will zwar Klimaschutz, jedoch einen solchen, der dem Westen keine ökonomischen Nachteile, sondern sogar Vorteile bringt. Sinn setzt auf Enteignung der Öl- und Gaseigentümerstaaten, er bewegt sich dadurch in einem konfrontativen Denkgebäude, in dem es Gewinner und Verlierer gibt und eine globale Kooperation ausgeschlossen ist. Sein Konzept ist genauso auf die Interessen der Nachfrageseite ausgerichtet wie das gegenwärtige Kyoto–System auch. Der Unterschied besteht lediglich in der Radikalität, mit der Sinn den Klimaschutz imperialistisch betreiben will.

Wie soll dieses konfrontative Konzept funktionieren, und werden sich die Anbieterstaaten auf die Rolle überhaupt einlassen, die hier für sie vorgesehen sind? Natürlich nicht, das weiß Sinn auch: »Die Ressourcenländer werden sich mit Händen und Füßen gegen eine solche Lösung wehren. Sie werden versuchen, die Bildung eines weltumspannenden Nachfragekartells durch die UNO zu verhindern und möglichst viele Länder durch Sonderlieferungen billigen Kohlenstoffs aus dem Kartell herauszubrechen.« (Sinn 2009, S. 421)

Freiwillig werden die Anbieterstaaten also die gewünschte Rolle nicht übernehmen; auch Sinns Klimaschutzkonzept würde, gerade weil es eine konfrontative Strategie darstellt, auf seine Weise das » grüne Paradoxon« hervorrufen, das er vorgibt, verhindern zu wollen. Möglicherweise schwebt ihm insgeheim vor, die Anbieterstaaten durch flächendeckende militärische Interventionen zu enteignen und sämtliche Öl- und Gasquellen, zumal für den guten Klimaschutzzweck, der UNO zu übertragen. Dazu äußert sich Sinn nicht offen, jedoch salomonisch: »Nur der Schrecken der weiteren Erwärmung der Atmosphäre, gepaart mit dem Umstand, daß die Verbraucherländer ständig erhebliche Teile ihres Realeinkommens zur Ersteigerung immer geringer werdender Kohlenstoffmengen werden aufwenden müssen, macht das weltumspannende Nachfragekartell, das die UNO plant, attraktiv. Die Politik hat die Wahl zwischen Scylla und Charybdis.« (Sinn 2009, S. 421)

Selbst wenn Sinn hier die Menschheit nicht vor die Alternative stellt, entweder eine Klimakatastrophe oder eine konfrontativ-imperialistische Enteignung hinzunehmen, muß jede Klimaschutzstrategie, die eine Seite der globalen Akteure zu Verlierern macht, letztlich in die militärische Sackgasse einmünden, ohne im geringsten zur Verhinderung der Klimakatastrophe einen Beitrag zu leisten. Das Klimaproblem ist ein globales Problem, und es kann gelöst oder wenigstens entschärft werden, wenn statt Konfrontation und Diskriminierung der einen Seite die Kooperation aller – der Verbraucher wie der Anbieter von fossilen Energieträgern – zur ethischen Grundlage eines neuen Kyoto-Modells gemacht würde, dessen Konturen längst formuliert wurden.[9]

Anmerkungen
  1. Nicholas Stern: The Economics of Climate Change. The Stern Review, Cambridge 2007
  2. Mohssen Massarrat: Endlichkeit der Natur und Überfluß in der Marktökonomie, Metropolis-Verlag, Marburg 1993; und: Das Dilemma der ökologischen Steuerreform, Metropolis-Verlag, Marburg 2000
  3. In einem Brief wehrt sich Sinn mit dem Verweis gegen einen möglichen Plagiatsvorwurf – den ich an keiner Stelle erhoben hatte – ich hätte das »intertemporale Optimierungskalkül gar nicht benutzt«, weshalb ich seine Forschungsergebnisse nicht »vorweggenommen« haben könnte
  4. Ausführlicher dazu siehe die Langversion dieses Beitrages, Mohssen Massarrat: »Sinns ›Paradoxon‹ oder warum Marktkräfte das Klima nicht schützen können«, in: Z. Nr. 91 September 2012
  5. Allen voran sei hier der Ökonomie-Nobelpreisträger Robert Solow genannt, der in seinem von den neoklassischen Mainstreamökonomen vielzitierten Standardbeitrag das Problem der Knappheit fossiler Ressourcen schlicht leugnete. Robert M. Solow: The Economics of Ressources or the Ressources of Economics, in: The American Economic Review, 1974, vol. LXIV, No. 2
  6. Ausführlicher vgl. Massarrat, Mohssen: »Rätsel Ölpreis«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 10/2008
  7. Dazu sei hier auf das »Hotelling-Ricardo-Marx-Theorem«, ein von mir entwickeltes dreidimensionales Marktmodell, verwiesen, das auch die theoretische Grundlage eines größeren Teils meiner Forschung zu den Energieweltmärkten darstellt. Vgl. Massarrat, 2000
  8. Stiglitz, Joseph: »Wachstum mit links«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 9/2011, S. 58
  9. Vgl. dazu die Langversion dieses Beitrages, in Massarrat, 2012, a.a.O.
* Mohssen Massarrat ist Politik- und Wirtschaftswissenschaftler. Eine Langfassung des hier abgedruckten Textes erscheint in der September¬ausgabe der Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung.

Aus: junge Welt, Montag, 27. August 2012


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