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Opferklagen und Kriegsschuldlüge

Vor 65 Jahren wurde der Zweite Weltkrieg entfesselt

Von Wolfgang Wippermann*

Wir Deutschen wissen sehr wohl, »wer den Krieg angefangen hat und wer seine ersten Opfer waren«. Dies hat Bundeskanzler Gerhard Schröder jüngst in Polen erklärt. Wenn er sich da mal nicht irrt. Im Internet (siehe bei Google unter dem Stichwort »Kriegsschuld« oder »Kriegsschuldlüge«) werden Zweifel an dem geübt, was unbezweifelbar ist: an der alleinigen Kriegsschuld Deutschlands. Wie ist dies möglich?

Hat Deutschland nicht seit 1933 widerrechtlich aufgerüstet, 1936 ebenfalls widerrechtlich das entmilitarisierte Rheinland besetzt und noch im gleichen Jahr, 1936, in den spanischen Bürgerkrieg interveniert, der damit kein bloßer Bürger- sondern gewissermaßen der Vorkrieg zum Zweiten Weltkrieg wurde? Auch wenn das westliche Ausland dem erzwungenen Anschluss Österreichs und der Annexion des tschechischen Sudetenlandes im Jahr 1938 zugesehen hat, so waren dies ebenso widerrechtliche, ja verbrecherische Akte wie die Zerschlagung der »Rest-Tschechei« am 15. März 1939 und die Besetzung Memels am 23. März 1939.

Dass am 1. September 1939 nicht polnische Truppen Deutschland, sondern deutsche Truppen Polen überfallen haben, kann ohnehin niemand leugnen. Und doch sät eine – ich formuliere bewusst – Bande von Historikern systematisch und koordiniert Zweifel an der alleinigen deutschen Kriegsschuld Deutschlands. Angeführt wird sie vom Leiter der »Zeitgeschichtlichen Forschungsstelle Ingolstadt« Alfred Schickel. In zahlreichen und viel gelesenen Publikationen macht er nicht Hitler, sondern den USA-Präsidenten Roosevelt verantwortlich.

Roosevelts Krieg?

Roosevelt sei es gewesen, der schon 1937 aus seiner zutiefst deutschfeindlichen Einstellung keinen Hehl gemacht habe. Zum Beweis führt Schickel Roosevelts »Quarantänerede« vom 5. Oktober 1937 an, in der dieser dazu aufgerufen hatte, die faschistischen (aber auch, ja sogar vornehmlich die kommunistischen) Diktaturen unter Quarantäne zu stellen, d.h. zu isolieren. Wie bereits erwähnt, sind jedoch England und Frankreich Roosevelts Rat nicht gefolgt und haben Hitler nicht isoliert, sondern umschmeichelt und »beschwichtigt«. Diese Appeasement-Politik haben sie bis in das Jahr 1939 fortgesetzt. Erst am 31. März 1939 fanden sich England und Frankreich bereit, jedenfalls den Bestand (nicht unbedingt die Grenzen) Polens zu garantieren. Schickel meint, dass diese so genannte Garantieerklärung Polens auf Druck Roosevelts erfolgt sei und von den Polen als »Blankoscheck« für ihre deutschfeindlichen »Provokationen« verstanden worden sei. Darüber hinaus hätten »diese« Polen bereits »Teilungspläne für Deutschland erörtert« und die »Vertreibung« der Deutschen geplant. Dem unmittelbar bevorstehenden »polnischen Angriff« sei Hitler dann am 1. September 1939 zuvorgekommen, habe aber noch am 5. Oktober ein »großzügiges Friedensangebot« an die Westmächte gerichtet, bei deren Annahme der Zweite Weltkrieg »vermeidbar« gewesen wäre.

Ganz abgesehen davon, dass ein bereits begonnener Krieg nicht mehr vermeidbar ist, kann dies alles, gelinde gesagt, nur Schwachsinn genannt werden. Doch Schickel ist dafür nicht etwa getadelt, sondern auf Antrag der bayerischen Regierung mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet worden. Man fasst es nicht! Da werden ostdeutsche Glatzköpfe, die sich ein Hakenkreuz oder ein sonstiges nationalsozialistisches Symbol auf die Birne malen oder tätowieren lassen, sofort verhaftet, während Schickel seinen nicht minder gefährlichen Schwachsinn verbreiten darf und dafür auch noch geehrt wird. Und warum? Weil Schickel zwar auch ein Schwachkopf ist, aber ein sudetendeutscher. Er gilt daher als »Opfer«. Opfer der »Vertreibung« oder der, wie es Schickel nennt, »Endlösung der Sudetenfrage«. Und für solche »Opfer« soll es in Berlin ein »Zentrum gegen Vertreibung« geben!

Erika Steinbach, die Vorsitzende der Vertriebenen, wird es natürlich sofort abstreiten und ihre Hände in Unschuld waschen, aber es ist Fakt, dass derartige revisionistische Kriegsschuldthesen im Dunstkreis der Vertriebenen vertreten werden. Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Opferklage und der Kriegsschuldlüge. Beide kommen aus der Vertriebenen-Ecke. Verständlich, dass man in Polen darauf sowie generell auf die deutsche Täter-Opfer-Umkehrung sehr allergisch reagiert. Wir sollten dies ernst nehmen und insbesondere die Kriegsschuldlügen energisch zurückweisen. Doch wie?

Hitlers Krieg?

In unseren Hand- und Schulbüchern wird natürlich nicht Roosevelt, sondern Hitler die Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges gegeben. Hitler, so heißt es, habe diesen Krieg schon lange geplant. Doch wo steht das? In »Mein Kampf«, das in diesem Zusammenhang immer angeführt wird, taucht Polen überhaupt nicht auf. An zwei Stellen ist nur ganz kurz von der Politik des deutschen Kaiserreiches gegenüber der polnischen Minderheit die Rede. Die so genannten Intentionalisten unter den Historikern, die die Hitlersche Außenpolitik auf sein vorher gefasstes Programm zurückführen wollen, haben Schwierigkeiten, die konkrete Polen-Politik Hitlers zu erklären. Schließlich war er es, der am 26. Januar 1934 einen Nichtangriffspakt mit Polen schloss, in dem beide Seiten auf die Anwendung von Gewalt verzichteten, was de facto die Anerkennung der polnischen Westgrenze bedeutete. So etwas hätte keine Regierung der Weimarer Republik gewagt. Die deutsch-polnischen Beziehungen waren auch danach sehr gut. Auf jeden Fall weit besser als in der Weimarer Zeit. Die Diktatoren beider Länder (auch Polen war eine Diktatur, aber keine faschistische) scheinen sich sogar gut verstanden zu haben. Noch im September 1938 hat sich Polen an der Vergewaltigung der Tschechoslowakei beteiligt und das tschechische Olsagebiet annektiert.

Erst danach hat sich Polen dem öffentlichen Druck Hitlers, auf Danzig und den »Korridor« zu verzichten, widersetzt und dem eher geheimen Werben für den Abschluss eines gemeinsamen antisowjetischen Bündnisses entzogen. Dann war die Sache klar. Noch während Hitler öffentlich davon sprach, dass er doch nur das – unzweifelhaft überwiegend deutsche – Danzig wieder haben wolle, verkündete er intern (am 23. Mai 1939, nach der Aufzeichnung von Oberstleutnant Schmundt), dass es in Wirklichkeit »um die Erweiterung des Lebensraums im Osten« ginge. Von diesem »Lebensraum« war in der Tat viel in »Mein Kampf« die Rede. Doch er sollte »auf Kosten Russlands« erobert werden. Polen lag auf dem Weg zu diesem »Lebensraum«. Und dieser Weg wurde ausgerechnet von Stalin freigemacht, der in beispielloser Verblendung am 23. August 1939 jenen schändlichen Pakt mit Hitler schloss, der den Angriff auf Polen ermöglichte, das dann zwischen beiden Diktatoren geteilt wurde.

Doch damit war Hitler noch nicht am Ziel. Seine eigentlichen Ziele waren »Lebensraum im Osten«, wie gesagt »auf Kosten Rußlands«, und die »Endlösung der Judenfrage«. Hitler scheint sogar geglaubt zu haben, dass England und Frankreich den Raub des vergleichsweise kleinen Polens letztlich doch akzeptieren würden. Wie auch immer. Der Krieg gegen Polen, den manche Deutsche immer noch »Polenfeldzug« nennen, war »nur« eine Etappe auf dem Weg zu Hitlers wichtigem und entscheidendem Krieg – dem Krieg gegen die Sowjetunion. Was war der Polenkrieg wirklich?

Der Krieg der Eliten

»Polens Existenz ist unerträglich, unvereinbar mit den Lebensbedingungen Deutschlands. Es muß verschwinden und wird verschwinden durch eigene, innere Schwäche und durch Rußland – mit unserer Hilfe.« Dies hat nicht der Ex-Gefreite Hitler, sondern General v. Seeckt gesagt. Und zwar schon am 11. September 1922. Er gab damit eine Auffassung wieder, die von vielen Generälen und generell von den Angehörigen der deutschen Eliten geteilt wurde. Polens pure »Existenz« war für sie »unerträglich«. Schon deshalb, weil es Polen zur Zeit von Deutschlands angeblicher Größe – von den polnischen Teilungen bis 1918 – gar nicht gegeben hatte. Das danach wieder existierende Polen galt als »unvereinbar mit den Lebensbedingungen Deutschlands«. Einmal, weil es nicht mehr Reservoir für Rohstoffe für die Industrie und billige Arbeitskräfte für die Landwirtschaft im ostdeutschen Junkerland (die »genügsamen polnischen Schnitter«) war. Zum anderen fehlte der Aufmarschraum für den neuen »deutschen Drang nach Osten«, der keineswegs allein von Hitler, sondern auch von den deutschen Eliten geplant war. Sie, die deutschen Eliten, waren sich zudem in der Verachtung der Polen mit vielen, wenn nicht den meisten Deutschen einig. Die Vorurteile gegenüber den Polen und ihrer »polnischen Wirtschaft« waren tief verwurzelt und weit verbreitet. Sie wurden nur noch von denen gegenüber den »Bolschewiken« übertroffen. Wegen dieser ihrer antibolschewistischen Einstellung lehnten daher auch verschiedene Angehörige der Eliten den übrigens keineswegs allein von Seeckt gemachten Vorschlag ab, Polen gemeinsam mit dem »bolschewistischen Rußland« zu zerschlagen, wie es dann Seeckts gelehriger Schüler Hitler getan hat. Auch der damalige Außenminister Gustav Stresemann warnte am 7. September 1925 vor einem »deutsch-russischen Bündnis«. Könne es doch dazu führen, dass »Europa bis zur Elbe bolschewisiert« werden würde. Dies bedeutete jedoch keinesfalls, dass Stresemann die Polen in Ruhe lassen und die deutsch-polnische Grenze anerkennen wollte. Sein Ziel war vielmehr »die Korrektur der Ostgrenzen: die Wiedergewinnung von Danzig, vom polnischen Korridor und eine Korrektur der Grenze in Oberschlesien«. Dies solle, wie Stresemann brieflich dem – von ihm ehrfurchtsvoll mit »Eure Kaiserliche Hoheit« angeredeten – Sohn des abgedankten Kaisers versicherte, möglichst ohne Gewalt durch bloßes »Finassieren« erfolgen. Doch dann verhaspelte sich der – nach 1945 zum »großen Europäer« gestempelte – Stresemann und sprach davon, dass man Polen »von Schützengräben zu Schützengräben treiben« müsse.

Nun gut, Stresemann und die anderen Außenpolitiker der Weimarer Republik haben keine »Schützengräben« in und gegen Polen ausgehoben, sondern »nur« einen wirtschaftlichen und einen politisch-diplomatischen Krieg gegen Polen geführt, wobei vor allem das »Recht« der deutschen Minderheit in Polen als Hebel eingesetzt wurde. (Ein »Recht auf Heimat« gab es damals noch nicht, das ist erst nach 1945 von den Vertriebenen erfunden worden.)

Damit keine Missverständnisse entstehen: Polen ist am 1. September 1939 von Hitler-Deutschland und nicht von Stresemann oder der Weimarer Republik überfallen worden. Doch der Krieg, den Hitler begann, ist von den deutschen Eliten vorbereitet und schließlich und nicht zuletzt auch von ihnen geführt worden. Es war ihr Krieg, an dem sie damals und auch später nicht viel auszusetzen hatten. Dies trifft auch auf viele Angehörige des bürgerlich-militärischen Widerstandes zu, die sich in ihren Nachkriegsplänen auffallend wenig zu Polen geäußert haben. Auf die ehemaligen Ostgebiete des kaiserlichen Deutschlands, von der Wehrmacht wieder gewonnen, wollten sie ohnehin nicht verzichten.

Dass der von den deutschen Eliten gewollte und geführte Krieg gegen Polen dann letztlich mit dem Verlust weiterer deutscher Ostgebiete endete, wollten eben diese deutschen Eliten lange Zeit nicht wahrhaben. Die von der DDR bereits 1950 anerkannte deutsch-polnische Grenze ist erst 1970 von Willy Brandt und 1992 erneut von Helmut Kohl anerkannt worden. Hoffentlich endgültig.

* Dr. Wolfgang Wippermann, Professor an der FU Berlin, Gastdozenturen u.a. in Innsbruck, Peking, Minneapolis, veröffentlichte zahlreiche Bücher über den »deutschen Drang nach Osten«, »Europäischen Faschismus im Vergleich«, »Antisemitismus und Antiziganismus«, Historikerstreit und Goldhagen-Kontroverse sowie Totalitarismustheorien.
Der obige Beitrag erschien am 28. August 2004 im Feuilleton der Tageszeitung "Neues Deutschland".



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