Expansion als Staatsziel
Rezension. Ein Aufsatzband über die deutsche Hegemonialpolitik liefert komplexe Einsichten zur Vorgeschichte und zu den Ursachen des Ersten Weltkriegs
Von Alexander Bahar *
Wer die aktuelle politische Weltlage in ihrer ganzen Explosivität begreifen will, der muß sich mit der europäischen Krise des Jahres 1914 beschäftigen. Unheilvolle Parallelen drängen sich dabei auf.
Ein 2009 in zweiter Auflage erschienener Aufsatzband aus dem Jahr 1983 zur »Policy of Pretension« des deutschen Kaiserreichs liefert hierzu eine Fülle an Material und unbequemen Einsichten. Dabei wird das teilweise verwirrende Spektrum des innenpolitischen Kräftespiels im Deutschen Reich akribisch herausgearbeitet. Autor ist der Historiker und Publizist Bernd F. Schulte, ein Schüler des berühmten Hamburger Zeitgeschichtlers Fritz Fischer. Schulte war Dozent an Hamburger Hochschulen und hat Filme und Fernsehsendungen produziert.
Die für den historischen Laien bisweilen schwer zugänglichen, weil aus der Fachdiskussion heraus entstandenen Aufsätze und Vorträge schlagen einen Bogen über 25 Jahre Weltkriegsforschung. »Dieser Band faßte 1982/83 jene Fragen und Antworten zum Forschungsstand ›Erster Weltkrieg‹ zusammen, die in der damaligen westdeutschen Geschichtsschreibung nicht zur Kenntnis genommen wurden«, heißt es in der Vorbemerkung zur Neuauflage.
Obwohl die Entstehungszeit der Aufsätze zum Teil weit über dreißig Jahre zurückliegt, haben die darin behandelten Fragen wenig an Aktualität eingebüßt. Und es gilt heute verstärkt, was der Autor als wesentlichen Grund für das Publikumsinteresse an der Erstauflage nennt, als die sogenannte NATO-Nachrüstung die Menschen bewegte: Es »entstand der Eindruck, nicht mehr in einer Nachkriegszeit, sondern in einer Vorkriegszeit zu leben«.
Die von Schulte in seiner Einleitung zur Erstauflage mit Bedauern konstatierte »Tendenzwende innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft«, die Mitte der 1970er Jahre einsetzte, »weg von einer progressiven Interpretation (Theorie-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte) zurück zu der traditionellen, neubelebten Diplomatiegeschichte alter Prägung in einer ›neuen politischen Geschichte‹, unter Verwendung modisch gewordener Versatzstücke aus der Politikwissenschaft (›Polykratielehre‹)«, hat längst, spätestens aber im Gefolge der Abwicklung der DDR- (Geschichts-)Wissenschaft, alle Bereiche der historischen Forschung erfaßt. Die offiziöse »historische Analyse«, die sich in Schultes Worten 1983 noch »anschickt (e), in die Diktion apologetischer, letztlich das Schicksal bemühender Erklärungsversuche zurückzufallen«, hat diesen Anpassungs- und Verfallsprozeß inzwischen weitgehend vollzogen.
Die »Fischer-Kontroverse«
Ausgangs- und Orientierungspunkt von Schultes Aufsätzen bildet die sogenannte Fischer-Kontroverse der 1960er Jahre. Zur Erinnerung: Der Hamburger Zeitgeschichtsprofessor Fritz Fischer hatte mit einem 1959 veröffentlichten Aufsatz sowie insbesondere mit seiner 1961 erschienenen Monographie »Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18« die deutsche Geschichtswissenschaft gründlich aufgemischt. Mit pointierten Thesen setzte sich Fischer darin deutlich von dem in Deutschland bis dahin gültigen Forschungsstand ab – und löste so eine hitzige Kontroverse aus.
Fischers Arbeiten beruhten auf akribischen Quellenrecherchen, vor allem der gründlichen Auswertung der Akten des Auswärtigen Amtes und der Reichskanzlei. Im Potsdamer Zentralarchiv war er auf das »Septemberprogramm« des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg aus dem Jahr 1914 gestoßen, das in Erwartung eines raschen deutschen Sieges weitreichende Annexionen in Frankreich und den Beneluxstaaten sowie koloniale Inbesitznahmen in Zentralafrika vorsah. Dieses Programm, schrieb Fischer, stellte »keine isolierten Forderungen des Kanzlers dar, sondern repräsentierte Ideen führender Köpfe der Wirtschaft, Politik und des Militärs«, die darin formulierten Richtlinien seien »im Prinzip Grundlage der gesamten deutschen Kriegszielpolitik bis zum Ende des Krieges« gewesen (Griff, Sonderausgabe 1967, S. 95).
Ein Tabubruch
Deutschland, so legten es die Quellen nahe, war also keineswegs rein defensiv in den Krieg »hineingeschlittert«, sondern hatte von Anfang an weitreichende hegemoniale Kriegsziele verfolgt. Als Nachkriegsordnung schwebte den verantwortlichen Stellen die Schaffung eines von Deutschland beherrschten »Mitteleuropa« vor, das sich als Zollverband unter deutscher Führung von Frankreich bis Polen erstrecken sollte. Weitergehend stellte Fischer heraus, daß das projektierte Ziel einer deutschen Hegemonie in Europa schon lange Zeit vor dem Krieg konzipiert worden war.
Konkret konnte Fischer zudem nachweisen, daß das Attentat vom 28. Juni 1914 in Sarajewo für die deutsche Reichsleitung der willkommene Anlaß für die Verwirklichung ihrer weitreichenden Ziele war, daß sie Österreich-Ungarn zum Krieg gegen Serbien geradezu gedrängt und – im Gegensatz zu ihren offiziellen Bekundungen – eine friedliche Beilegung oder doch zumindest eine Eindämmung des Konflikts systematisch hintertrieben hatte.
Fischer schloß: Indem sie »im Vertrauen auf die deutsche militärische Überlegenheit es im Juli 1914 bewußt auf einen Konflikt mit Rußland und Frankreich ankommen ließ«, trage »die deutsche Reichsführung den entscheidenden Teil der historischen Verantwortung für den Ausbruch des allgemeinen Krieges« (Griff, Sonderausgabe 1967, S. 82). »Nach außen und gegenüber der eigenen Nation« habe die Reichsleitung im Juli 1914 planmäßig die Fiktion eines »Überfalls« inszeniert (ebd., Vorwort, S. 7). Die »gegenüber Rußland so systematisch aufgebaute Kriegsschuldfiktion« habe durch die »Mobilisierung der antizaristischen Affekte innerhalb der Sozialdemokratie« »eine Ausschaltung jeder grundsätzlichen Opposition der Sozialdemokratie« und damit die nationale Einheitsfront des 4. August 1914 ermöglicht (ebd., S. 80/88). Der deutschen Geschichtswissenschaft warf der Hamburger Historiker vor, daß sie diese »Überfallthese« der deutschen Reichsleitung unkritisch übernommen habe (ebd., Vorwort, S. 7). Fischers Thesen wurden seinerzeit von der offiziösen westdeutschen Geschichtswissenschaft als Tabubruch empfunden und mehrheitlich empört zurückgewiesen.
Eskalation zum Weltkrieg
In späteren Werken akzentuierte und verschärfte Fischer seine Position: Deutschland habe spätestens seit 1911 bewußt auf einen allgemeinen Krieg hingearbeitet. Zunehmend betonte Fischer dabei auch das über den Ersten Weltkrieg hinausreichende »Zusammenspiel von Wirtschaft und Politik« und verwies damit auf die gesellschaftlichen und politischen Entstehungsbedingungen des Faschismus und des »Dritten Reiches«.
Stand bei Fischer die Kriegszielpolitik des deutschen Kaiserreichs im Mittelpunkt des Forschungsinteresses, spürt Schulte den auf einen Krieg zusteuernden Entscheidungsprozessen innerhalb der deutschen politischen und militärischen Führungselite bis ins letzte Drittel des 18. Jahrhunderts nach. Wie der Hamburger Historiker nachweist, lief das Konstrukt der »Policy of Pretension«, der deutschen Hegemonialpolitik, seit 1905 nahezu zwangsläufig früher oder später auf einen Kriegsentschluß hinaus. Konkret akzentuiert Schulte in diesem Zusammenhang das Instrument der Krisenkonferenzen im deutschen Kaiserreich, wobei sich eine rote Linie von der Krisenkonferenz im März 1905, über die im Juni 1909 bis hin zu den entscheidenden Konferenzen vom November/Dezember 1912 ziehen läßt: der Krisenkonferenz in Springe vom 23.November 1912 und dem sogenannten Kriegsrat vom 8. Dezember 1912 ziehen lasse. In allen Fällen handelte es sich um Zusammenkünfte auf höchster politischer und militärischer Ebene. Wie Schulte im Detail nachweist, belegen die Krisenkonferenzen nicht nur eine zielstrebige deutsche Vorbereitung auf den Krieg, sondern sind darüber hinaus auch als »Eskalationsstufe zum Weltkrieg« (S. 18) zu verstehen.
Bei der deutsch-österreichischen Krisenkonferenz im Jagdschloß »Saupark« in Springe waren die Crème de la crème der regionalen Würdenträger wie auch der Berliner und Wiener Führungsspitzen vertreten. Die Konferenz stand im Schatten der Ereignisse auf dem Balkan, wo die türkische Machtposition erdrutschartig unter den Schlägen der griechischen, montenegrinischen und bulgarischen Armeen zusammengebrochen war. Durch den damit verbundenen Ausfall der Türkei als möglicher Bündnispartner des Deutschen Reiches– in erster Linie gegenüber Rußland am Kaukasus– waren tiefgreifende strategische Kräfteverschiebungen zwischen der Tripleallianz und dem Dreibund eingetreten. Zugleich war damit auch ein verstärkter Druck der russischen Armee auf Österreich-Ungarn und die deutsche Ostgrenze zu erwarten, den der Große Generalstab noch 1911 durch die beschleunigte Aufrüstung der türkischen Armee glaubte auffangen zu können. Die gestärkte Stellung des infolge der Balkankriege auf nahezu die doppelte Fläche angewachsenen Serbiens gegenüber Österreich-Ungarn ließ in Wien darüber hinaus Befürchtungen hinsichtlich einer Einwirkung Serbiens auf die Slawen innerhalb der Donaumonarchie aufkommen.
Aufrüstungskurs
Im Ergebnis der Konferenz erteilte zwar Wilhelm II. »seinem fürstlichen Gesprächspartner Franz Ferdinand für den Moment eine klare Absage (…), einem Krieg Österreichs mit Serbien militärische Unterstützung zu leisten«. Andererseits erhielt aber der Generalstabschef, wie Schulte anhand der Quellen nachweist, schon hier die entscheidenden rüstungspolitischen Zusagen von seiten des Reichskanzlers von Bethmann Hollweg für eine massive personelle Aufstockung des deutschen Heeres (S.332).
Nach seiner Rückkehr aus Springe schrieb Generalstabschef Moltke am 25.11.1912 an das Kriegsministerium: »Wir müssen m. E. noch weiter gehen und unserem gesamten Heere die Stärke geben, die allein den endgültigen Erfolg in dem nächsten Kriege verbürgt, den wir zwar mit Bundesgenossen, aber doch im wesentlichen mit eigener Kraft um Deutschlands Größe zu führen haben. Wir müssen uns entschließen, wenigstens unser Menschenmaterial auszunutzen.« (S. 20)
Der türkische Zusammenbruch auf dem Balkan bildete auch den Hintergrund des von Wilhelm II. am 8. Dezember 1912 einberufenen »Kriegsrats«, an dem u. a. der Chef des Reichsmarineamtes, Admiral Alfred von Tirpitz, der Admiralstabschef Heeringen, der Generalstabschef Moltke und der Chef des Marinekabinetts, Admiral von Müller, teilnahmen. Verschärft wurde die Lage durch einen Bericht des deutschen Botschafters in London, wonach Großbritannien jetzt nachdrücklich mit der uneingeschränkten Unterstützung Frankreichs drohte, falls es zum Krieg auf dem Balkan zwischen Österreich und Serbien käme. Aus Sicht Wilhelms II. fiel damit die gesamte Politik des Reichskanzlers von Bethmann Hollweg seit 1909 in sich zusammen, deren vorrangige Aufgabe darin bestanden hatte, Großbritannien in einem kommenden Kontinentalkrieg durch gute beiderseitige Beziehungen zu einer neutralen Haltung zu bewegen. Nach dem Tagebuch des Marinekabinettschefs, Admiral von Müller, äußerte sich der Kanzler während der Zusammenkunft: »Um den Krieg mit ganzer Wucht gegen Frankreich zu führen«, müsse die Flotte »sich natürlich« unverzüglich »auf den Krieg mit England einrichten«. Generalstabschef Moltke soll darauf geantwortet haben, er »halte einen Krieg für unvermeidbar. (nd) je eher je besser.« Demgegenüber widersprach Tirpitz laut einer erstmals 1982 von Schulte veröffentlichten Tagebuchnotiz des engen Tirpitz-Mitarbeiters Kapitän z. S. Hopman, es liege »im Interesse der Marine (…), (den) Krieg wenn möglich noch 1-2 Jahre hinauszuschieben. Auch (die) Armee könne bis dahin noch viel tun zur besseren Ausnutzung unseres Bevölkerungsüberschusses«. Nach Tirpitz’ Einspruch wurde die Forderung des Kaisers, den Krieg sofort auszulösen, mit Rücksicht auf den Stand der Flottenrüstung für den Augenblick zwar zurückgewiesen, eine kriegerische Auseinandersetzung im gleichen Zug jedoch für frühestens 1914 ins Auge gefaßt.
In der Folge forderte Wilhelm II. unverzügliche Maßnahmen von Armee und Flotte zur Vorbereitung einer Invasion Großbritanniens sowie die propagandistische Vorbereitung eines erwarteten umfassenden Krieges mit Stoßrichtung vor allem gegen Rußland. Von den Diplomaten erwartete der Kaiser die Optimierung der Bündnislage durch Verträge mit Rumänien, Bulgarien, Griechenland und der Türkei. »Auf diese Weise plante der Monarch, der deutschen Armee – analog zu ihrem Operationsplan – die Zeit zum Vernichtungsschlag gegen Frankreich zu sichern«, schreibt Schulte (S. 337 f.).
Bereits einen Tag später, am 9. Dezember 1912, wies Wilhelm II. seinen Kriegsminister Josias von Herringen an, eine »Große Heeresvermehrung« vorzubereiten. Dies bedeutete nichts anderes als einen höchstinstanzlichen Kurswechsel: gegen die Flotten- und zugunsten der Armeerüstung. Derart abgesichert, ergriff in der Folge Generalstabschef Moltke »die Initiative in der Durchführung der Kriegsvorbereitung« (S. 349), die gleichzeitig die Wende deutscher Politik zurück zur Kontinentalpolitik festlegte. Am 9. Januar 1913 umriß der Generalstab in einer ausführlichen Erörterung mit Vertretern des Kriegsministeriums seine Forderungen. Ein künftiger Krieg sollte demnach mit Rücksicht auf die Armeerüstung vorrangig ein mittelfristig (bis 1916) zu führender Kontinentalkrieg gegen die Flügelmächte Frankreich und Rußland sein. Dieser Stoßrichtung trug der vom Generalstab im Februar 1913 verabschiedete Schlieffen-Plan Rechnung, der vorsah, die Seemacht Großbritannien zu Lande (in Frankreich) zu treffen. »Damit war jedoch«, schließt Schulte, »die Intention des Kaisers, der den Seekrieg mit England im Auge hatte, beiseite geschoben, und das Konzept Bethmann Hollwegs, das gegen Rußland (festlandorientiert und damit armeebasiert) gerichtet war, hatte gesiegt.« (S. 35)
Geschichtslügen gekontert
Bereits am 20. Januar 1913 stellte der Generalstab den »Aufmarschplan Deutschlands« in einem Dreibundkrieg fertig. Auf der Basis dieser Vorentscheidungen und auf Initiative des Monarchen kam es schließlich im Juni 1913 zu der von Moltke unterstützten »Großen Heeresvermehrung«, nach Schulte nichts anderes als die »Vorbereitung der Armee für den großen Krieg mit den Flügelmächten Frankreich und Rußland und damit zugleich für den europäischen Krieg, der in neunzig Prozent zum Weltkrieg führen würde«. (S. 37)
»Nicht ausschließlich Wilhelm II.«, das zeigen laut Schulte »die Quellen zu den Krisenkonferenzen in Springe und Berlin, sondern der Verbund von Politik und den Kräften der kaiserlichen Umgebung, das heißt des Hofes (mit ›Maison Militaire‹), der Militärs, aber auch der Vertreter der ›pressure groups‹ aus Industrie, Landwirtschaft und Bürokratie bestimmten den Kurs der deutschen Politik.« (S. 344) Völlig widersinnig sei daher die dem traditionellen Ansatz zugrundeliegende Annahme, »die ›au fond‹ friedensliebenden Führungseliten des Kaiserreichs seien unter dem Druck einer kriegswilligen Öffentlichkeit letztlich zum Kriege gezwungen worden«, urteilt der Autor und schließt: »Eine solche Geschichtsschreibung stellt die historische Wirklichkeit auf den Kopf.« (ebd.)
Indem er die Institution der »Kriegskonferenzen« im Kaiserreich als zentrale Schaltstellen der politischen Entscheidungsfindung auf höchster Ebene bloßlegt, entzieht der Band der These der sogenannten Düsseldorfer Schule den Boden, die u.a. von Wolfgang Mommsen adaptiert wurde, es sei aufgrund der inneren Strukturen des wilhelminischen Kaiserreichs, dem informellen Regierungsstil Wilhelms II., von einer Polykratie, einer angeblichen »Zerklüftetheit der Entscheidungsträger« in Berlin und einer angeblichen »Unregierbarkeit des deutschen Reiches« auszugehen. Die insbesondere von Mommsen vertretene »Polyvalenzthese« entlarvt Schulte als bloße »politikwissenschaftliche Sprachregelung«, die bei aller Bemühtheit nicht den Eindruck verdrängen könne, »daß (hier) die historische Analyse hinter dem Nebel modischer Begrifflichkeit sich anschickt, in die Diktion apologetischer, letztlich das Schicksal bemühender Erklärungsversuche zurückzufallen«. (S. 15)
Damit untermauert Schulte die von Fischer seinerzeit im Verlauf der Debatte entwickelte These eines Angriffs-, Durchbruchs- oder Hegemonialkrieges des Deutschen Reiches, der fortgeschrittene Vertreter der Verteidigungskriegsthese wie Egmont Zechlin und Karl Dietrich Erdmann die These eines deutschen Präventivkriegs entgegenstellt hatten.
Gegen den Zeitgeist
In weiteren Aufsätzen geht Schulte der Frage nach, warum das Deutsche Reich im Weltkrieg nicht den von den Führungseliten in Wirtschaft, Militär und Politik erwarteten militärischen Erfolg erzielte. Laut Schulte ist dies insbesondere in den tiefer liegenden strukturellen Defiziten des deutschen Staatswesens und dessen Streitkräften – etwa hinsichtlich Ausbildungsstand und Waffentechnik – begründet. In überlebten gesellschaftlichen Strukturen erstarrt, habe die politische und militärische Führung die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Ein nur mittelmäßiges Management habe schließlich Fehlschläge wie die Marneschlacht verursacht, die irreparabel waren. Den Fokus richtet der Autor auch auf den – angesichts von Staatsstreich-, Anarchismus-, Streik-, Revolutions- und Bürgerkriegsdrohung – von den kaiserlichen Militärbehörden immer schärfer konturierten Sicherheitsaspekt, der im Hinblick auf die deutschen Kriegsvorbereitungen analysiert und ausgeleuchtet wird.
Der auch 27 Jahre nach dem Erscheinen der Erstauflage offenkundige Wert des Buches für das Verständnis der Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs wird leider durch einige unübersehbare Mängel geschmälert. Das ist zum entscheidenden Teil der Tatsache geschuldet, daß es sich um eine Sammlung unabhängig voneinander und nicht aufeinander abgestimmter Fachaufsätze und -vorträge handelt, die zudem noch im Nachgang zu einer historischen Kontroverse entstanden sind. Das erklärt die vielen Redundanzen. Auch ist es dem Autor nicht gelungen, den Verlauf und die Bedeutung dieser durchaus interessanten und für die deutsche Geschichtswissenschaft aufschlußreichen Kontroverse in seiner Einführung allgemeinverständlich darzustellen. Hinzu kommen editorische Mängel. So ist bei manchen Beiträgen nicht eindeutig ersichtlich, wann und wo sie zuerst erschienen sind. Auch der unkommentierte Abdruck von Besprechungen eigener Bücher des Autors und das Fehlen eines wissenschaftlichen Apparats wirken sich ungünstig auf die Lektüre aus. Die sehr ausführliche Darstellung verliert sich zudem zu oft in Details, wobei die Frage nach der historisch-politischen Relevanz in den Hintergrund tritt. Ein guter Lektor wäre hier hilfreich gewesen. Der stand wohl nicht zur Verfügung, denn der Band ist als »Book on Demand« erschienen, praktisch also im Eigenverlag. Womit wir bei der grundsätzlichen Frage angelangt wären: Welcher arrivierte Verlag würde sich eines derart sperrigen wie verdienstvollen, weil gegen den Zeitgeist schwimmenden Werks heute noch annehmen?
Bernd F. Schulte: Deutsche Policy of Pretention - Der Abstieg eines Kriegerstaates 1871–1914. Books on Demand, Norderstedt 2009, 396 Seiten, 22,80 Euro * Hamburger Studien zu Geschichte und Zeitgeschehen. Reihe II. Band 1, ISBN 978-3837022513
* Aus: junge Welt, 1. September 2010
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