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Von der Schuld des Westens

Reichweite und Grenzen der Pax Sovietica – zu einem Buch von Jochen Laufer

Von Rolf Badstübner *

Gestüzt auf langjährige Archivstudien und gründliche Auswertung der Forschungsliteratur, aber bei immer noch prekärer Quellenlage, legt Jochen Laufer eine Gesamtdarstellung der sowjetischen Außen- und insbesondere Deutschlandspolitik von 1939 bis 1945 vor. Darin geht er der Frage nach, wie es dazu kommen konnte, dass die UdSSR aus dem »Vaterländischen Krieg« mit seinem »Stalin-Effekt« zu einer Weltmacht aufstieg, die der Nachkriegsfriedensordnung unübersehbar den Stempel ihrer Pax Sovietica aufdrücken konnte. Da die sowjetische Geschichte dieses Zeitraums quasi in Stalin personifiziert erscheint, bildet die Beschäftigung mit dessen Wirken den roten Faden der Darstellung. Dabei wird der Diktator nach seinem in sich höchst widersrpüchlichem Wirken und dessen unterschiedlichen Ergebnissen beurteilt.

Laufer gelingt es, Mentalität, Absichten und Ziele Stalins zu Tage zu fördern und plausibel zu machen, auch wenn letzte Gewissheit nicht erreicht werden kann. Ausgehend von der Charakterisierung der internationalen Beziehungen als desolat, zeichnet der Autor das Bild von einer sich seit 1933 im permanenten Vorkriegszustand wähnenden bzw. befindlichen Sowjetunion, deren Führung davon ausging, dass die westlichen Mächte einen Angriff Nazideutschlands auf die Sowjetunion begrüßen oder sogar unterstützen würden.

Maximale Sicherheit für die Sowjetunion

Laufer sieht die Stalinsche Politik langfristig auf wirksamen Schutz und Erreichung maximaler Sicherheit für die UdSSR ausgerichtet. Die sowjetische Aufrüstung trat in einen »Wettlauf« mit Nazideutschland ein. In dem Maße, wie die Schlagkraft der Roten Armee sich erhöhte, wuchs ihr Nimbus und bei Stalin die Überzeugung von ihrer Unbesiegbarkeit (wenngleich sie 1937 im Zuge der wahnwitzigen »Säuberungen« durch die in diesem Buch nicht erwähnte Hinrichtung von drei Marschällen, 13 Generälen und über 5000 Offizieren wieder unterminiert worden ist).

Die sowjetische Militärdoktrin zielte darauf, einen Angreifer zurück zu schlagen und auf seinem eigenen Territorium zu vernichten. Zugleich vollzog Stalin eine »geschichtspolitische Wende«. Er begann, sich »an den traditionellen Zielen Russlands zu orientieren und in machtpolitischen Kategorien zu denken ... In den dreißiger Jahren setzte der Kremlchef den ›Sowjetpatriotismus‹ als neue sowjetische Staatsideologie durch« und verband dies mit einer Neubewertung der Geschichte des Zarismus.

Laufer lässt offen, wie weit fortan weiterverfolgte leninistische Denkkategorien für eine russisch-sowjetische Großmachtpolitik instrumentalisiert wurden. Aber nur von daher lassen sich die Vorgänge um den Nichtangriffspakt mit Hitler verstehen. »Die Westmächte hatten ... mit dem Münchner Abkommen einen Präzedenzfall geschaffen, Stalin zog 1939 nach.« Er betrachtete das geheime Zusatzabkommen als die Möglichkeit, durch die »Verschiebung« der sowjetischen Westgrenze zu Lasten Polens, Finnlands und Rumäniens sowie die »Wiedereingliederung« der baltischen Staaten in die UdSSR »historisches Unrecht« wiedergutzumachen und die Sicherheitszone gegen Westen enorm zu vergrößern.

Nach der Entfesselung des Zweiten Weltkrieges durch Nazideutschland, bei dem es sich aus sowjetischer Sicht um einen Krieg zweier imperialistischer Gruppierungen handelte, konnte Stalin in einem Gewaltakt die »Westverschiebung« realisieren. Dass er den Nichtangriffspakt als Wendepunkt in der Geschichte Europas feiern ließ, antifaschistische Propaganda unterband, deutsche Antifaschisten ausliefern ließ und schließlich ernsthaft erwog, dem »Dreierpakt« beizutreten, wird erwähnt, aber nicht weitergehend problematisiert.

Entgegen anderen Auffassungen stellt Laufer fest: »Der deutsche Angriff traf die Rote Armee keineswegs unvorbereitet.« Er vermittelt das Bild, dass Stalin alle notwendigen Vorbereitungen gegen einen faschistischen Angriff traf, Pläne eines Präventivschlages ablehnte und glaubte, den Angriff durch Taktieren noch hinauszögern zu können. Zunächst sah man es in Washington und London gar nicht ungern, dass die zwei Diktaturen sich gegenseitig schwächten und man rechnete eher mit einer Niederlage der UdSSR. Die Hilfslieferungen liefen schleppend an und hielten sich in Grenzen von vier Prozent der eingesetzten Waffen.

Es gelang der UdSSR 1943 weitgehend aus eigener Kraft, die entscheidende Wende des Zweiten Weltkrieges einzuleiten und viele Völker (Ost)Europas vom Faschismus zu befreien. Die Auswirkungen und Folgen der wiederholten Verschiebung der schon für 1942 versprochenen zweiten Front waren gravierend, denn es wurde dadurch »nicht nur über das Leben von Millionen Menschen in Deutschland und den besetzten Gebieten, sondern auch über die Zukunft Deutschlands und Osteuropas entschieden.«

Laufer geht in diesem Zusammenhang ausführlich den Krisen und Belastungen nach, in denen sich die Anti-Hitler-Koalition dennoch herausbildete. So überwand seiner Meinung nach Stalin »die durch Katyn ausgelöste Krise durch die Auflösung der Kommunistischen Internationale«. Für Stalin war die Anerkennung der sowjetischen Grenzen von 1941 sowie von vorgelagerten Sicherheits- bzw. Einflusszonen Ziel seiner Pax Sovietica. Er konnte auf der Außenministerkonferenz Ende 1943 und auf den Gipfelkonferenzen von Teheran und Jalta die Anerkennung der Curzon-Linie als sowjetische Westgrenze, verbunden mit dem Prinzip der Westverschiebung Polens, durchsetzen. Indem die Westmächte 1943 in Italien eigenmächtig ohne Einbeziehung der UdSSR vorgingen und es so »vor sowjetischen Einfluss abschirmten«, so Laufer, »ebneten sie den Weg für die Schaffung einer sowjetischen Einflusszone in Osteuropa«. Zugleich ging es aber um mehr – nämlich, um die Fortsetzung der Anti-Hitler-Koalition im Sinne einer systemübergreifende Kooperation bei der Gestaltung der Nachkriegs- und Friedensordnung mit dem Ziel, eine erneute Aggression durch Deutschland und mehr noch einen Dritten Weltkrieg wirksam zu verhindern. Die gemeinsame Besetzung und Verwaltung Deutschlands spielte hierfür eine Schlüsselrolle.

In den sowjetischen Nachkriegsplanungen ging man zunehmend von einer langfristigen Zusammenarbeit mit den anglo-amerikanischen Mächten aus und damit faktisch von einer Einordnung in das vor allem von Roosevelt verfolgte Projekt der »einen Welt« mit einer dominanten Weltorganisation (Pax Americana). Dabei findet sich bemerkenwerter Weise, wie Laufer hervorhebt, in keiner der bisher zugänglichen sowjetischen Quellen »eine Spur für konfrontative, antiwestliche Nachkriegsplanungen«. Das galt auch für Deutschland. Lange Zeit gingen die »Großen Drei« davon aus, Deutschland aufzuteilen. Über Stalins Umschwenken im Frühjahr 1945 kann auch Laufer keine weiterführenden Erkenntnisse beisteuern. Er betont aber: »Über die Details der sowjetischen Nachkriegsplanung blieb die KPD-Führung in Moskau im Unklaren.« Dafür, dass Stalins Deutschlandpolitik »darauf zielte, ganz Deutschland unter sowjetischen Einfluss zu bringen, finden sich keine überzeugenden Beweise«. Die zur Potsdamer Konferenz vorbereiteten Deutschlandmaterialien zielten unter Berücksichtigung westlicher Papiere »auf eine breite Zustimmung zu antimilitaristisch-antifaschistischen Grundsätzen für die Umgestaltung Deutschlands«.

Laufer behandelt jedoch nachfolgend die Deutschlandfrage einseitig unter dem Aspekt der Absicherung der sowjetischen Position bzw. ihrer Besatzungszone, wobei ihm zuzustimmen ist, dass dabei der Reparationsfrage eine entscheidende Rolle zukam. Aber es bleibt wie vieles andere unverständlich, dass der sowjetische Vorschlag in Potsdam, eine deutsche Zentralverwaltung zu bilden, nicht ernst gemeint und der Aufruf der KPD nur »auf die SBZ« ausgerichtet gewesen sein soll. Sicher war Stalins Vorpreschen mit der Bodenreform problematisch, aber es gab in dieser Frage einen alliierten Grundkonsens, ebenso auch darüber, dass die grundlegenden Umgestaltungen in Deutschland möglichst schnell nach der Kapitulation in Angriff genomen werden sollten.

Gemäß alliierten Prinzipien

Vor allem ist der heutzutage üblichen, nichtsdestrotrotz falschen Behauptung zu widersprechen, dass die Umgestaltungspolitik im Osten Deutschlands am stärksten in Richtung Auseinanderentwicklung der Besatzungszonen gewirkt habe, wurde sie doch (was in diesem Buch ausgeblendet bleibt) von starken und massiven Bodenreform- und Sozialisierungsbestrebungen in den Westzonen flankiert, die auch in Gesetzen und Verfassungen fixiert wurden. Zudem befand sie sich doch weitgehend mit alliierten Prinzipien und Zielen in Übereinstimmung. Insofern muss man doch wohl die Gründe für die Auseinanderentwicklung woanders suchen.

Es liegt eine Publikation vor, die viele neue Erkenntnisse und Denkansätze enthält und die jedem, der sich mit dieser Thematik befasst, nur empfohlen werden kann.

Jochen Laufer: Pax Sovietica. Stalin, die Westmächte und die deutsche Frage. Böhlau Verlag Köln/Weimar/Wien 2009. 639 S., geb., 69,90 €.

* Aus: Neues Deutschland, 23. Januar 2010


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