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Wie die Deutschen an den Krieg gewöhnt wurden

Geschichte. Vor 70 Jahren überfiel Nazideutschland Polen

Von Kurt Pätzold *

Die Leser des Stuttgarter Neuen Tageblattes, einer Zeitung, nicht anders als alle anderen deutschen vom Goebbels-Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda gelenkt, lasen in der Ausgabe vom 17. September 1939 »Zehn Gebote für die Heimatfront«. Das erste lautete: »Du sollst unter allen Umständen deine Ruhe bewahren.« Wie las sich derlei Forderung beispielsweise für ein Elternpaar, das einen Sohn in der Wehrmacht beim Angriff auf Warschau wußte? Dennoch war der Satz wie die ganze Liste der Gebote nicht einem Einfall eines Journalisten entsprungen, der einen besonders originellen Beitrag zur Lage und mit diesem den Nachweis seiner Tauglichkeit an der »Heimatfront« zu erbringen suchte. Was da stand, ordnete sich in die von der Führungsspitze des Reiches vorgegebene und strikt zu befolgende Taktik ein. Sie zielte darauf, den »Volksgenossen« zu vernebeln, was die Entscheidung des 1. September 1939 mit dem Einfall der deutschen Wehrmachtstruppen ins Nachbarland Polen für sie, ihr Leib und Leben, ihr Hab und Gut bedeutete und welche Folgen sich aus dem Kriegsbeginn ergeben könnten. Sie würden, so das Kalkül, das peu à peu schon selbst bemerken und sich an den Alltag des Krieges gewöhnen.

Krieg? Nein. Auseinandersetzung

Zu dieser Taktik gehörte, daß von der Propaganda zunächst sogar das Wort Krieg vermieden wurde. Das gab Hitler selbst in seiner Rede am Morgen des 1. September vor, die er den »Männern des Deutschen Reichstags« hielt. Mit der Lüge vom polnischen Angriff auf deutsches Staatsgebiet wurde die »Antwort« verbunden, daß nun »Gewalt gegen Gewalt« gesetzt und das Reich geschützt werde. Die Berichte in den Zeitungen und im Rundfunk sprachen auch in den folgenden Tagen noch von einer »Auseinandersetzung« oder von einem »Kampf«. Kein Gedanke sollte aufkommen, daß es Deutschlands Staatsführung war, die in Europa eine mehr als zwanzig Jahre währende Friedensperiode beendet hatte. Heer, Luftwaffe und Kriegsmarine waren demnach mit der Durchsetzung berechtigter eigener nationaler Ansprüche beschäftigt, wobei sie - bedauerlicherweise - Waffen einsetzen mußten. Sie hatten begonnen, Ordnung zu schaffen, die mit anderen Mitteln nicht zu erreichen gewesen sei, und - vollkommene Verkehrung des wirklichen Geschehens - Frieden zu stiften, den Polen störe und angeblich gerade hatte beenden wollen.

In diesem Sinne hatte die Stuttgarter Postille über die Situation am ersten Kriegssonntag so berichtet: Der Schwabe, schon von Natur aus ruhig und gefaßt, habe diese Wesensart auch an diesem Tage gezeigt. Der Sonntagsbetrieb sei verlaufen wie üblich, die Lokale gut besetzt gewesen und die Sportveranstaltungen hätten ihre Besucher gehabt. Gleiches gelte für die Reichsgartenschau und auch für die Filmtheater. Der Autor faßte seine Beobachtungen so zusammen: »Nirgendwo aber ein Anzeichen von Nervosität und Hast.« Dieser Bericht hatte die Dachzeile erhalten »Eiserne Entschlossenheit«.[1]

Die Wortwahl änderte sich, als der Kriegseintritt Großbritanniens und Frankreichs (3.9.1939)gemeldet und kommentiert wurde. Jetzt lautete die Aufmachung »Die Westmächte brechen den europäischen Frieden«, als hätte sich Deutschlands Überfall auf Polen auf einem anderen Kontinent zugetragen. England sei der »Weltfriedensbrecher«. In diesen Kontexten wurde nun von Krieg und Frieden geschrieben, der »Kriegspartei« auf gegnerischer Seite und deren »brutaler Gewaltpolitik«. Ein aus diesem Anlaß publizierter Aufruf Hitlers an das Volk brandmarkte die »britische Welteroberungspolitik« und die »britischen Macht- und Geldpolitiker«. Im Appell des Führers an die Armee wurden nicht näher bezeichnete »kapitalistische Kriegshetzer« und »plutokratische Gegner« attackiert. England, so die für den einfältigen Michel bestimmten »Aufklärungen«, habe keinerlei Grund, sich in die Auseinandersetzungen in Osteuropa einzumischen, einer Region, in der es keine eigenen Interessen besitze. Mit Bezug auf das kürzlich geschlossene britisch-polnische Beistandsabkommen hieß es, das Verständnis der Naziführer verratend, ein Vertrag sei kein Grund für diesen Schritt.

Das Bild, das die Propaganda von den Ursachen des Zweiten Weltkriegs zeichnete, stellte England als den einzigen Kriegsinteressenten dar, der, um einen Vorwand für dessen Eröffnung zu erhalten, Polen zu seinem angeblich provokatorischen und aggressiven Kurs angefeuert habe. Die britische Politik, so wurde nun, einen kühnen Geschichtsbogen schlagend, behauptet, sei seit der Reichsgründung 1871 darauf gerichtet gewesen, Deutschland klein und ohnmächtig zu halten. Darauf sei bereits der Weltkrieg von 1914 englischerseits gerichtet gewesen. Und im Sinne der seit Jahren betriebenen Verteufelung der Juden wurde dem hinzugesetzt, im Inselreich sei es »die jüdisch-plutokratische Herrenschicht« oder, dies war die Formulierung in Hitlers Aufruf an die NSDAP, »der jüdisch-demokratische Weltfeind«, die den Krieg wollten.

Arbeiten und schweigen

Deutschland hingegen müsse nun einen »Verteidigungskampf« führen, der bald auch »Existenzkampf« genannt wurde, denn England, sei von einem »Vernichtungswillen« angetrieben. Schon wenig später war das sprachliche Horrorbild mit unübertrefflichem Vokabular ausgemalt: »Deutschland soll ausgerottet werden.«[2] Um den Verdacht eigener Kriegsinteressen vollends zurückzuweisen, wurde beteuert: Das deutsche Volk könne sich darauf verlassen, im eigenen Lande werde niemand an diesem Krieg etwas verdienen. »Ernst und entschlossen«, das waren fortan die am meisten benutzten Wörter, mit denen das gewünschte Verhalten der »Volksgenossen« im Kriege bezeichnet und beschrieben wurde. Am besten täten die Deutschen, wenn sie über den Krieg nicht redeten. Zwei Wochen nach Kriegsbeginn sich gegen die »Flüsterer« wendend, gab das schwäbische Blatt die Verhaltensdevise aus »Arbeiten, seine Pflicht tun und schweigen«. Letzteres müsse auch in der eigenen Familie gelten.[3]

An dieses in der Frühphase des Krieges geltende Propagandakonzept hielt sich auch Hermann Göring strikt, als er am 10. September 1939 vor der Belegschaft der Rheinmetall-Borsig-Werke in Berlin-Tegel sprach, und das auf seine nach Popularität heischende hemdsärmelige Weise. Eine dem gedruckten Text gegebene Überschrift lautete »Der Brite war immer gegen Deutschland«.[4] Diese Sprachwahl verkleinerte den Gegner zunächst durch die Benutzung des Singulars, wie bisher schon mit dem bevorzugten Ausdruck »der Jude«. Auf der gleichen Propagandalinie lag, daß vom britisch-französischen Bündnis und den sich summierenden Kräften der beiden Großmächte geschwiegen wurde. Konsequent erweckte die deutsche Propaganda der Eindruck, das Reich habe es nur mit einer Feindmacht zu tun. Die, mit der es eine gemeinsame Grenze von etwa 300 Kilometern gab, an der sich inzwischen Armeen gegenüberstanden, blieb unerwähnt.

Auf die Frage nach der Kriegsschuld antwortete Göring, der soeben zum Vorsitzenden eines Reichsverteidigungsrates ernannte Generalfeldmarschall, mit einem Wort: die Juden. Sie seien immer schon auch die Kriegsschieber gewesen, die diesmal - wie er zynisch bemerkte - im Reich aufgrund der gegen sie getroffenen Maßnahmen nicht zum Zuge kommen könnten. Die Deutschen kämpften hingegen vom Willen zum Frieden geleitet und der herrschte »am tiefsten in der Seele des Führers«. Daß dieser Staat der angeblich Friedwilligen in Polen schoß und bombte, erklärte Göring dem britischen Premierminister, »das hat mit Krieg gar nichts zu tun, Herr Chamberlain«. Die Wehrmacht wirkte demnach im Nachbarland als eine Art Löschkommando, das einen sich entwickelnden Brandherd bekämpfte, der Europa bedrohte.

Irreführung und Beruhigung

Derlei Bilder vom Geschehen waren ganz auf innenpolitische Wirkung berechnet, Ihre Glaubwürdigkeit sollte auch dadurch gesichert werden, daß bereits in den ersten Kriegstagen das Verbot des Abhörens »feindlicher« Rundfunkstationen erging und Verstöße dagegen unter schwere Strafen gestellt wurden. Irreführung und Beruhigung, darauf war auch diese Göring-Kundgebung vor den Arbeiter und Angestellten des Schwermaschinenbaubetriebs berechnet. Dabei war den Führern durchaus bewußt, daß sie sich auf in der Bevölkerung verbreitete Befürchtungen einzustellen hatten, die aus Erfahrungen des Ersten Weltkriegs herrührten. Zu denen gehörte die Erinnerung an die quälende Dauer der Kriegsleiden. Daher nährte Göring an jenem zehnten Kriegstag die Hoffnung, daß der Krieg zu seinem Ende kommen könne, bevor er sich noch vollends entfaltet hätte. Witzelnd und auf seine Rolle als hochdekorierter Weltkriegsoffizier der Fliegertruppe verweisend, erklärte er, daß er sich selbst schon gern wieder mit den Gegnern im Kampf messen würde, doch auch von ihm ein baldiges Ende der »Auseinandersetzung« vorgezogen werde.

Im Gedächtnis eines großen Teils der älteren Generation waren aus den Jahren von 1914 bis 1918 die Blockade, der Mangel an Nahrungsmitteln und die Hungersnot mit ihren Folgen für Gesundheit und Leben haften geblieben. Sie sollten in diesem Punkte ganz unbesorgt sein, versicherte der seit 1936 auch als Wirtschaftsdiktator agierende Vorsitzende der Vierjahresplanbehörde den Versammelten. Dagegen sei ebenso vorgesorgt wie für die Steigerung der Rüstungen. Und aller Ungewißheit über die Entwicklung des Luftkriegs, dessen Möglichkeiten sich am Einsatz der eigenen Luftwaffe in Polen abzeichneten, suchte Göring in der Borsig-Halle mit der Geste hin zu den dort produzierten Geschützrohren für Fliegerabwehrkanonen (Flak) zu begegnen. Wer dachte, der sah deren Beweiskraft freilich durch die in den Städten einsetzenden Luftschutzvorkehrungen und -übungen und die strikten Verdunklungsvorschriften geschmälert und auch durch die angedrohten Strafen gegen jene, die ihnen nicht nachkamen.

»Morgen werde ich verhaftet«

Die Propaganda sollte am Beginn dieses Krieges die Stimmung der Deutschen dadurch heben, daß sie unter ihnen zwei Überzeugungen verbreitete: Diesen Krieg könne nur Deutschland gewinnen, und er werde ganz anders verlaufen als der von 1914 bis 1918 geführte. Auch Göring hatte in seiner Rede die Devise ausgegeben: »Nicht nervös werden!« Damit sie befolgt werden könne, wurde nach Kräften für Ablenkung gesorgt und der Eindruck erweckt, daß das Leben ohne schwerwiegende Eingriffe und Einbußen weitergehen werde. Artikel in Zeitungen begründeten gegen offenbar existierende Bedenken, warum die Theater nicht nur weiter geöffnet, sondern auch bei deren Programm blieben, so daß sich Besucher bei Lustspielen unterhalten und amüsieren könnten. Auf Leinwänden der Kinos agierte Heinz Rühmann im »Paradies der Junggesellen«, wurde der »Irrtum des Herzens« gezeigt und eine »Hochzeit mit Hindernissen« geboten. Der letztgenannte Filmtitel erhielt eine besondere Bedeutung, als per Verordnung staatlich-bürokratische Hindernisse abgebaut wurden, die bis dahin einer rasch veranstalteten Hochzeit im Wege gestanden hatten. Viele Paare entschlossen sich, wohl auch wegen der finanziellen Folgen, zu einer Heirat, bevor der Partner des Bundes als Soldat »ins Feld« zog. Beziehungsreicher war angesichts der Tatsache, daß in Städten und Ortschaften auf Straßen und Plätzen Deutschlands die Lichter ausgingen, der Filmtitel »Flucht ins Dunkle«. In anderem Sinne galt das auch für den Streifen mit dem Titel »Morgen werde ich verhaftet«.

Die Beteuerung deutschen Friedenswillens, die für die übergroße Mehrheit der Bevölkerung wahr, für die Machthaber und eine Minderheit ihrer nationalchauvinistisch gestimmten Gefolgsleute aber verlogen war, verband sich indirekt mit dem Eingeständnis der Führung, daß die nahezu vor Jahresfrist von Hitler vor 400 Presseleuten ausgesprochene Forderung sich nicht hatte erfüllen lassen. Die sollten den Deutschen die internationalen Verhältnisse so darstellen, daß sie sich von der Vorstellung lösten, alle Ziele könnten auf friedlichem Wege erreicht werden. Die sollten es dahin bringen, daß die Volksseele schließlich nach Gewalt zu schreien beginne.

Die Stimme hatte sich jedoch nicht erhoben. Die Massen wünschten weiter in Frieden zu leben, und bis in die Tage, da die Spitze der Staatsführung und der Streitkräfte kaum noch mit anderem befaßt gewesen war als mit der Vorbereitung des Krieges gegen Polen, war ihnen ja auch versichert worden, daß eben dies erstrebt werde. Außenminister Joachim von Ribbentrop, um die Funktion des deutsch-sowjetischen Vertrages, den er eben in Moskau geschlossen hatte, wohl wissend, gab nach seiner Rückkehr in Königsberg während einer Zwischenlandung am 24. August die Versicherung, daß der »Führer« die gegenwärtige Krise meistern werde, wie er so viele Krisen zuvor schon gemeistert habe. Und das war nur eines der vielen gleichlautenden Versprechen gewesen, die das Volk betrogen, das sich selbst freilich und wider alle seit Jahren mögliche Anschauung den Wunsch zum Vater des Gedankens an den fortdauernden Frieden gemacht hatte. Am 1. September 1939 war es überrumpelt worden, aber nicht unverschuldet. Die antinazistische Losung des Jahres 1932 »Wer Hindenburg wählt, wählt Hitler, und wer Hitler wählt, wählt Krieg« hatte sich im ersten Schritt am 30. Januar 1933 und im zweiten am ersten Septembertag 1939 vollständig bewahrheitet. Wer an diese Warnung der Kommunisten und anderer Antifaschisten erinnerte, konnte freilich gewärtig sein, daß für ihn »Morgen werde ich verhaftet« galt.

Lange noch blieb die Propaganda dabei, jedwedes Interesse Deutschlands am Kriege und jedes Kriegsziel zu bestreiten. »Die Alleinschuld Englands am Kriege«, lautete die permanent verbreitete Version über seinen Ursprung.[5] Frankreich erschien als ein bloßer Gefolgsmann des britischen Weltreiches. Schlagzeilen wie »Die französischen Kriegshetzer entlarven sich« oder »Die Westmächte als Kriegsverlängerer entlarvt«[6] stellten Ausnahmen dar. Diese taktische »Rücksichtnahme« zielte auf die pazifistische Stimmung in der Bevölkerung Frankreichs, die sich erneut von einem Krieg auf eigenem Boden bedroht sah. Zunächst aber existierte an der deutsch-französischen Grenze ein Zustand, der alsbald als der »komische Krieg« (Drôle de guerre) bezeichnet wurde. Keine Seite schien bestrebt, den Gegner durch den Einsatz ihrer militärischen Möglichkeiten herauszufordern und eine Entscheidung zu suchen.

Drei oder fünf Jahre Krieg?

Inzwischen trachtete die deutsche Presse, ihren Lesern auf verschiedenste Weise Geschmack am Kriegführen zu machen. Da sich dramatische Ereignisse, die sich dafür eigneten, momentan nicht zutrugen, wurde auf solche aus früheren Kriegen zurückgegriffen, auf die des Preußenkönigs Friedrich II. und auf den Weltkrieg und da vorzugsweise auf Seekriegshandlungen. Publizisten von Erzählungen aus Kriegen, Feldzügen und Schlachten erlebten ihre seit Jahren anhaltende Hochkonjunktur noch einmal gesteigert. Hauptadressat der Einstimmung war die männliche Jugend, die Soldaten von morgen. Anfang November begannen in den deutschen Kinos an Sonntagvormittagen die »Filmfeierstunden« für die Angehörigen der Hitlerjugend. Reichspropagandaminister Goebbels eröffnete sie im Berliner Filmpalast am Zoo mit einer Rede, die in viele Säle im Reich übertragen wurde. Wieder stellte er den Ernst heraus, mit dem die Deutschen in diesen Krieg gingen. Den hätten sie auch dadurch erwiesen, daß sie »lärmende Siegesfeiern« - eine Anspielung auf den Ersten Weltkrieg - ablehnten. Jedoch, begeistert führten sie den Krieg schon, den Goebbels vorfristig einen »totalen« nannte. 251 HJ-Führer seien im Polenfeldzug »gefallen«. Das waren die aktuellen Vorbilder und dazu der Held, der ihnen dann in dem eben fertiggestellten Fliegerfilm »D III 88« vorgeführt wurde, ein Streifen über Abenteuerlust, Heldenmut, Kameraderie und diese bis in den Tod.

Zwei Monate nach dem Beginn des Krieges, der zuerst so nicht genannt wurde, gab Hitler selbst einen neuen, alle anfänglichen Gemütsrücksichten fallenlassenden Propagandakurs vor. Das tat er vor seinen »alten Kameraden«, die sich wie alle Jahre zuvor zur Erinnerung an den Putsch des 9. November 1923, bierselig in Erinnerungen schwelgend, im Riesensaal des Münchener Bürgerbräu zusammengefunden hatten. Hier konnte er des Jubelgeschreis sicher sein, als er die unter Deutschen ohnehin nur noch schwache Hoffnung, daß es zum großen Kampf und einem langen Kriege nicht kommen werde, in naßforschen und höhnenden Wendungen vollends begrub. Mit den britischen Politikern würde nun in der Sprache geredet, die sie offenbar einzig verstünden. In England sei von einem Krieg von drei Jahren die Rede gewesen, berichtete er und kommentierte, er habe dem »Feldmarschall« am Tage der britisch-französischen Kriegserklärung die Weisung erteilt, sich auf einen fünfjährigen Krieg vorzubereiten, fügte dem aber hinzu, er glaube nicht, daß er wirklich so lange dauern werde. Mit derlei Mätzchen stimmte der Oberste Befehlshaber die Deutschen auf das ein, was sie zu erwarten hätten. Beruhigend versicherte er zugleich, daß Deutschland diesmal den »Kampf unter viel leichteren Bedingungen« zu führen habe als in den Weltkriegsjahren. Es sei in jener Hinsicht stärker, seelisch, wirtschaftlich und militärisch, und so sei es »auf längste Zeit« eingestellt. Sein Fazit war: »Es kann hier nur einer siegen, und das sind wir.«

Wer diese Ansprache hörte oder las, war von Illusionen, wenn er sie noch gehegt hatte, befreit. Dieser Krieg würde ausgetragen werden müssen. Noch suchte der »Führer« zwar die Hoffnung von einem Krieg mit weniger Entbehrungen, Lasten und Ängsten aufrechtzuerhalten. Aber er hatte auch eingestanden, daß ihn keine Opferzahl schreckte. In der deutschen Geschichte, so endete seine Ansprache, wären während Jahrtausenden Millionen Menschen »gefallen«, und dieser Opfer müßten sich die Heutigen würdig erweisen.

Nicht ob, sondern wie und wann dieser Krieg sich nun weiter entwickeln würde, prägte das Fragen und Vermuten von nun an nicht nur an deutschen Biertischen. Das fragten sich vor allem die Militärbefehlshaber, deren Höchstgestellte ausnahmslos als Offiziere am Ersten Weltkrieg teilgenommen hatten und von denen sich viele lebhaft daran zu erinnern vermochten, wie der Ansturm des Jahres 1914 auf Frankreichs in Schlachtfelder verwandeltem Boden verebbt und aus dem Bewegungs- ein zermürbender Stellungskrieg geworden war. Das wünschten sie kein zweites Mal zu erleben, und das Gelüst, den Westfeldzug noch 1939 zu eröffnen, hielt sich in Grenzen. Es trat eine Pause ein. Die Zahl der Toten, die bei Scharmützeln starben, blieb gering. Die Deutschen erhielten Zeit, sich an einen Krieg zu gewöhnen, der vorerst nur episodenhaft, vielfach fern auf den Weltmeeren, stattfand - an die Rationierung der Lebensmittel, den einsetzenden Mangel an Konsumgütern, den aufblühenden Schwarzmarkt, die Feldpost und deren Vorschriften, die Verdunklungen, die Einrichtung der Luftschutzkeller und die Entrümpelung der Häuserböden und an die sich häufenden Befehle, Weisungen und Vorschriften, die ihnen sagten, was sie zu tun, was zu lassen hätten.

Fußnoten
  1. Stuttgarter Neues Tageblatt vom 4. September 1939, Morgenausgabe
  2. Ebenda, Ausgabe vom 9. November 1939, Leitartikel
  3. Ebenda, 14. September 1939
  4. Ebenda, 11. September 1939
  5. So die Aufmachung des Stuttgarter Neuen Tageblatts am 3. November 1939
  6. Ebenda, Ausgabe vom 1. November 1939
* Aus: junge Welt, 1. September 2009


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