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"Pforte zur dauernden Herrschaft über die Welt"

Geschichte. Vor 70 Jahren beschloß die deutsche Führung unter der Deckbezeichnung »Fall Barbarossa«, die Sowjetunion zu überfallen

Von Martin Seckendorf *

Am 18. Dezember 1940 unterzeichnete »Der Führer und Oberste Befehlshaber der Wehrmacht« Adolf Hitler die »Weisung Nr. 21 Fall Barbarossa«. Darin wurde befohlen: »Die deutsche Wehrmacht muß darauf vorbereitet sein, auch vor Beendigung des Krieges gegen England Sowjetrußland in einem schnellen Feldzug niederzuwerfen (Fall Barbarossa). (...) Vorbereitungen, die eine längere Anlaufzeit benötigen, sind – soweit noch nicht geschehen – schon jetzt in Angriff zu nehmen und bis zum 15.5.41 abzuschließen (...). Das Endziel der Operation ist die Abschirmung gegen das asiatische Rußland aus der allgemeinen Linie Wolga–Archangelsk.« (Hervorhebungen im Original – M.S.)

Damit war die verhängnisvollste, die »Zentralentscheidung« des gesamten Krieges, wie das Nazi­organ Zeitschrift für Politik im Dezember 1941 den Entschluß nannte, gefallen. Die Weisung war ein entscheidender Schritt zur Realisierung des Hauptkriegszieles der deutschen Faschisten. Dieses umfaßte die Zerschlagung der UdSSR als staatliche Basis der kommunistischen Weltbewegung und eines zum Kapitalismus alternativen Gesellschaftsmodells sowie die Eroberung des »Riesenreichs im Osten« zur kolonialistischen Ausbeutung, als Absatzmarkt und zur »Gewinnung« von Land für »germanische Siedler«. Die Eroberung der Sowjet­union sollte die dauerhafte Herrschaft über Europa sichern und die Voraussetzung für den Kampf gegen andere Kontinente zur Erringung der Vorherrschaft in der Welt schaffen.

Übereinstimmung der Eliten

Bei den Diskussionen, die um »Weisung Nr. 21« für einen Blitzkrieg gegen die Sowjetunion geführt wurden, zeigte sich bei den in Deutschland Herrschenden eine bis dahin kaum beobachtete Einmütigkeit. Während im Vorfeld der Aktionen gegen Westeuropa scharfe Meinungsverschiedenheiten innerhalb der herrschenden Klasse aufbrachen,[1] gab es bei den Planungen gegen die Sowjetunion solche Differenzen nicht. Die entscheidenden Kräfte aus Politik, Wirtschaft und Militär waren sich darin einig, daß der Überfall auf die UdSSR gewünscht und militärisch zeitlich wie kräftemäßig im geplanten Umfang machbar sei.

Die Übereinstimmung bei aggressiven Akten gegen die Sowjetunion hatte Tradition. Spätestens seit der entlarvenden Kriegszieldiskussion im Ersten Weltkrieg und der Oktoberrevolution 1917 war sichtbar geworden, daß die Schaffung eines deutschen Ostimperiums bis zum Kaukasus und zum Ural sowie die Vernichtung des Bolschewismus unabhängig von tagespolitischen Wendungen programmatische Konstanten der maßgebenden politischen, wirtschaftlichen und militärischen Kräfte Deutschlands waren.

In diesen Punkten trafen sie sich mit den Faschisten. In seiner Schrift »Mein Kampf« hatte Hitler 1924 die Grundlinien eines von der Nazipartei geführten Staates im Verhältnis zur Sowjetunion festgelegt. Die NSDAP verfolge das Ziel, so Hitler, »dem deutschen Volk den ihm gebührenden Grund und Boden auf dieser Erde zu sichern. (…) Wenn wir aber heute in Europa von neuem Grund und Boden reden, können wir in erster Linie nur an Rußland und die ihm untertanen Randstaaten denken.« »Das Riesenreich im Osten« müsse von der Herrschaft des »jüdischen Bolschewismus« befreit werden und sei dann »reif für den Zusammenbruch«, da auch die »rassisch minderwertigen« Slawen zur Staatsgestaltung unfähig seien. Das Ende der Bolschewiki werde deshalb »auch das Ende Rußlands als Staat sein«. – Eine 1924 geäußerte Meinung, die die rassistisch radikalisierte Diagonale der Auffassungen der deutschen Eliten darstellt. Am 3. Februar 1933, wenige Tage nach seiner Ernennung zum Reichskanzler, erläuterte Hitler der Reichswehrführung das Regierungsprogramm. Nach der »Ausrottung des Marxismus mit Stumpf und Stiel« im Innern und gigantischer Aufrüstung plane man die »Eroberung neuen Lebensraumes im Osten. (nd) dessen rücksichtslose Germanisierung«.

»Schlagkraft im Osten«

Ein weiterer Beleg für die Übereinstimmung der Auffassungen der sogenannten alten Eliten mit der NSDAP-Programmatik war die vorauseilende, ja treibende Rolle des Generalstabs des Heeres unter General der Artillerie Franz Halder bei der Vorbereitung eines Feldzuges gegen die Sowjetunion. Für das Offizierskorps war es selbstverständlich, daß nach dem Sieg im Westen nun die eigentliche Aufgabe der Wehrmacht, der Überfall auf die Sowjetunion, in Angriff zu nehmen sei. Dazu bedurfte es keiner besonderen Weisung Hitlers als Oberster Befehlshaber. Halder und das Oberkommando des Heeres (OKH) beschäftigten sich seit der Niederlage Frankreichs Ende Juni 1940 intensiv mit der Frage der Schaffung einer offensiven militärischen »Schlagkraft im Osten«. Er verlegte ohne Befehl Hitlers die verstärkte 18. Armee aus dem Westen in die östlichen Wehrkreise Deutschlands und in die besetzten Gebiete Polens. Armeeoberbefehlshaber war der osterfahrene General Georg von Küchler. Seit 1918 hatte er im Freikorps »Brigade Kurland« im Baltikum gegen die Rote Armee gekämpft.

Der Aufmarsch gegen die UdSSR und die entsprechenden operativen Planungen liefen unter der Deckbezeichnung »Otto«. Hauptkraft der »Otto«-Verbände war die Panzergruppe unter General Heinz Guderian mit zwei Panzerkorps, die wie zuvor in Frankreich einen Blitzfeldzug gegen die Sowjetunion führen sollte. Am 3. Juli 1940 besprach Halder mit seiner Operationsabteilung die Frage, »wie ein militärischer Schlag gegen Rußland zu führen sei, um ihm die Anerkennung der beherrschenden Rolle Deutschlands in Europa abzunötigen«. Einen Tag später instruierte er in diesem Sinne den Oberbefehlshaber der 18. Armee und dessen Chef des Stabes, Generalmajor Erich Marcks, der sehr bald einen detaillierten Aufmarschplan vorlegte. »Otto« war so angelegt, daß die Wehrmacht bereits im Spätsommer 1940 mit 80 Divisionen (und 400000 Mann in Reserve) aus den Kasernen heraus über die Sowjetunion herfallen könnte.

Halder hatte damit ohne Befehl des »Obersten Befehlshabers der Wehrmacht« den Aufmarsch für einen Angriff auf die Sowjetunion in Gang gesetzt, dessen erste Ziele die Besetzung der baltischen Staaten, Belorußlands und der Ukraine waren.

Erst vier Wochen später wurde dem OKH von Hitler, zunächst noch recht vage, mitgeteilt, es solle »russisches Problem in Angriff nehmen. Gedankliche Vorbereitungen (für einen Feldzug gegen die UdSSR – M.S.) treffen«. Am 29. Juli beauftragte Hitler das Wehrmachtsführungsamt im Oberkommando der Wehrmacht (OKW), die Voraussetzungen für einen im Mai 1941 zu beginnenden Angriff auf die Sowjetunion zu schaffen. Am 31. Juli 1940 erörterten die Spitzen der Wehrmacht mit Hitler zum ersten Male ausführlich einen Krieg gegen die Sowjetunion. Auf der Beratung sagte Hitler: »Im Zuge dieser Auseinandersetzung muß Rußland erledigt werden«, die UdSSR sei zu »zerschlagen«. Als Angriffstermin wurde »Frühjahr 1941« genannt. Mit dieser Beratung begann die breite militärische und rüstungswirtschaftliche Vorbereitung des Überfalls. Am 9. August erging dann die OKW-Weisung »Aufbau Ost« zum Ausbau Ostpreußens und des besetzten Polens als Basis für den Feldzug.

Bei den Planungen des Überfalls spielten zwei Offiziere im Generalstab des Heeres eine herausgehobene Rolle: Adolf Heusinger war seit 1937 in der Operationsabteilung des Generalstabes des Heeres tätig. Ab Oktober 1940 wurde er Chef dieser entscheidenden Abteilung des Generalstabes und Stellvertreter Halders. Der zweite Offizier ist Reinhard Gehlen. Seit Juni 1940 war er Adjutant von Halder und übernahm im Oktober 1940 die Gruppe Ost der Operationsabteilung. Gehlen leitete seit 1942 den OKH-Spionagedienst »Fremde Heere Ost«. Nach 1945 wurde er Begründer und langjähriger Leiter des Bundesnachrichtendienstes. Heusinger war der ranghöchste Soldat Westdeutschlands und hatte viele Jahre höchste Kommandostellen in der NATO inne.

Herrenmenschen

Erhebliche Auswirkungen auf die Vorbereitung des Überfalls auf die Sowjetunion hatte der unerwartet schnelle Sieg in Westeuropa im Frühjahr 1940 (siehe jW-Thema vom 7.6.2010). Frankreich galt den deutschen Militärs als die größte Militärmacht Europas. Nun wurde dessen Armee binnen weniger Wochen besiegt. Der Blitzsieg über den »Erzfeind« Frankreich, der Deutschland die »Schmach von Versailles« bereitet hatte, löste einen heute kaum noch verständlichen chauvinistischen Jubel aus. In den Monaten nach dem Sieg erfuhr das Naziregime die vermutlich breiteste Zustimmung der deutschen Bevölkerung. Vor allem wurde das »persönliche Regiment« Hitlers gestärkt, die wenigen oppositionellen Kräfte in den herrschenden Eliten verstummten weitgehend. Hitler, dessen Eingreifen in die operative Planung des Feldzuges gegen Frankreich der schnelle Sieg zugeschrieben wurde, galt bei vielen Deutschen als großer Feldherr. Die Generalität, nach dem Frankreichfeldzug mit Dotationen, Orden und Beförderungen überhäuft, wurde ein noch willfähriger Diener der Naziführung, die ihrerseits daraus stärkere Mitsprache bei militärischen Entscheidungen ableitete. Dadurch erklärt sich auch das Hervortreten der Person Hitlers in den Dokumenten über die Vorbereitung des Krieges gegen die Sowjetunion.

Die Nazipropaganda nutzte die wesentlich von ihr geschürte chauvinistische Welle, um bei der Vorbereitung der Soldaten auf den Krieg gegen die Sowjetunion, der vorerst auch propagandistisch noch verdeckt erfolgen mußte, ein »rassisch« begründetes Überlegenheitsgefühl zu vermitteln. In den Richtlinien des Oberbefehlshabers des Heeres vom 21. Februar 1941 über die Erziehungsziele in der Wehrmacht heißt es, »Führer und Mann« müßten durchdrungen sein »von dem Vertrauen auf die Überlegenheit des deutschen Soldaten über jeden Gegner und den unbeirrbaren Glauben an den endgültigen Sieg«. Die Herrschenden in Deutschland zogen aus dem schnellen Sieg in Frankreich sogar für die Lagebeurteilungen solche Schlüsse hinsichtlich des Kräfteverhältnisses zur Roten Armee. So waren Hitler und das OKH anfänglich sogar der Meinung, man könne noch im Herbst 1940 den Angriff beginnen, da die Rote Armee doch erheblich schwächer als die französische sei. Bekräftigt wurde der Überlegenheitsdünkel durch die Stalinschen Säuberungen, denen ein beträchtlicher Teil des sowjetischen Offizierskorps zum Opfer gefallen war. Die Rote Armee galt den deutschen Offizieren, verstärkt durch die traditionelle Einstellung einer rassisch-kulturellen und technisch-organisatorischen Überlegenheit der »Germanen« über die »slawischen Untermenschen«, als tönerner Koloß ohne Kopf, sie verfüge, wie Hitler am 9. Januar gegenüber der Wehrmachtsspitze äußerte, »über keine Führer und ist schlecht gerüstet«. Auch das Erscheinungsbild der sowjetischen Streitkräfte im sowjetisch-finnischen Winterkrieg 1939/40, in dem diese gegen die zahlen- und waffenmäßig weit unterlegenen Finnen schwere Verluste erlitten, trug zu den, wie sich später erweisen sollte, gravierenden Fehleinschätzungen über die Rote Armee und über die Sowjetunion bei. Im Juli 1940 meinte Hitler vor dem Wehrmachtsführungsamt des OKW mit Blick auf den finnisch-sowjetischen Krieg: »Die russischen Massen sind einem modern ausgerüsteten Heer mit überlegener Führung nicht gewachsen.« Am 5. Dezember 1940 sagte er auf einer Beratung zur Vorbereitung der Weisung »Fall Barbarossa«: »Der russische Mensch ist unterwertig. Die Armee ist führerlos. (...) Wir haben (...) einen sichtlichen Höchststand in Führung, Material, Truppe, die Russen einen unverkennbaren Tiefstand.« Deshalb sei der gewählte Angriffstermin »besonders günstig«. Nach dem Kriegstagebuch des OKW fuhr Hitler fort: »Es sei zu erwarten, daß die russische Armee, wenn sie einmal angeschlagen sei, einem noch größeren Zusammenbruch entgegengehe als Frankreich 1940.« Die deutsche Führung räumte zwar ein, daß Verbesserungen der sowjetischen Streitkräfte in Organisation, Führung und Ausstattung möglich seien, aber nur in einem »asiatischen Tempo«, wie die Luftwaffenführung am 2. Mai 1941 einschätzte.

Aus dem Westfeldzug wurden auch auf rüstungsmäßigem Gebiet wichtige Schlußfolgerungen gezogen. Im Westen waren zum ersten Male Panzer als selbständig operierende Waffe in zehn großen Verbänden eingesetzt worden. Dieser Taktik wurde die Entscheidung im Kampf gegen Frankreich zugeschrieben. Nach einer Notiz des Wirtschafts- und Rüstungsamtes im OKW vom 20. August 1940 war deshalb für den Angriff auf die Sowjetunion »die Vergrößerung der schnellen Truppen, in Sonderheit die Vermehrung der 10 Panzerdivisionen auf 20« festgelegt worden. Tatsächlich konnte die Wehrmacht am 22. Juni 1941 gegen die Sowjetunion 14 voll motorisierte Divisionen und 19 Panzerdivisionen (eine Panzerdivision kämpfte in Afrika) einsetzen, die zu einem erheblichen Teil mit den neuen Modellen Panzer III und IV ausgestattet waren. Die modernen Verbände galten als Hauptkraft zur Verwirklichung der Blitzkriegsdoktrin. Sie sollten die sowjetischen Linien durchbrechen, zu weiträumigen Zangenbewegungen ansetzen und die Masse der sowjetischen Streitkräfte in riesigen Kesseln westlich der Dnjepr-Dwina-Linie einschließen und vernichten.

Kampf um Weltherrschaft

Der Krieg im Westen wurde auch mit dem Ziel geführt, Großbritannien vom Kontinent zu vertreiben, damit Deutschland freie Hand »im Osten« habe. Am 10. Oktober 1939 schrieb Hitler dem Oberbefehlshaber des Heeres, bei der bevorstehenden Offensive im Westen gehe es um die Ausschaltung der westlichen Gegner in einem Ausmaß, daß sie sich einer deutschen »Weiterentwicklung nach Osten« nicht mehr entgegenstellen könnten. Die deutsche Führung glaubte, daß die Briten, durch den schnellen Sieg über Frankreich beeindruckt, zu einer Übereinkunft auf der Basis einer »Teilung der Welt« bereit seien. Da die Regierung unter Winston Churchill, auf Unterstützung durch die USA hoffend, weiter kämpfen wollte, erhöhten die Deutschen den militärischen Druck bis hin zu Vorbereitungen für eine Invasion der britischen Inseln. Halder notierte am 30. Juni 1940: »England wird voraussichtlich noch einer Demonstration unserer militärischen Gewalt bedürfen, ehe es nachgibt und uns den Rücken frei läßt für den Osten.« Am 11. Juli 1940 aber informierte der Vertreter des Auswärtigen Amtes beim OKH, Hasso von Etzdorf, darüber, daß Churchill die Parole ausgegeben habe, »Krieg bis zum Sieg«. Etzdorf war nach 1945 westdeutscher Botschafter in London.

Die operativen Studien der deutschen Militärs hatten ergeben, daß eine Besetzung der britischen Inseln äußerst kräfteaufwendig sowie mit hohem Risiko verbunden sei und keinen Gewinn bei den dringend benötigten Rohstoffen und Lebensmitteln bringe. Da es zudem nicht gelang, die Luftherrschaft über den Inselstaat zu erreichen, was als Vorbedingung für eine deutsche Landung galt, wurde die Invasion abgesagt.

Die Haltung Londons war auch für die Sowjet­union von Belang. Den sowjetischen Stellen waren die »Otto«-Bewegungen nicht entgangen. Die Gegenmaßnahmen waren, wie sich im Sommer 1941 schmerzhaft bestätigen sollte, unzureichend. Stalin war der Auffassung, daß Deutschland keinen Zweifrontenkrieg wagen werde. Solange sich das Nazireich mit Großbritannien im Krieg befinde, sei kein deutscher Angriff zu befürchten.

Abenteuerliche Planung

Obwohl Großbritannien nicht einlenkte, somit auch die Gefahr einer Blockade des deutschen Machtbereichs bestand, entschloß sich die deutsche Führung zum Angriff auf die Sowjetunion. Ein Krieg gegen die UdSSR werde wegen der angenommenen deutschen Überlegenheit nach Schätzungen des OKW nur maximal 22 Wochen dauern. Britannien könne auf dem Kontinent in dieser Zeit militärisch nicht aktiv werden. Dadurch sei die Gefahr eines Zweifrontenkriegs gebannt. Vor allem wäre, so die Erwartungen, Deutschland nach Niederwerfung der Sowjetunion der Herr über Europa. Die unterworfene UdSSR werde die wirtschaftliche Basis des Nazireiches derart stärken, daß alle Blockademaßnahmen neutralisiert werden. Durch die Unterwerfung der UdSSR aber sei der Kampf gegen andere Kontinente um die Vorherrschaft in der Welt möglich. Schon vor Kriegsbeginn hatte Hitler dem Danziger Senatspräsidenten Hermann Rauschning gesagt, daß ein Sieg über die Sowjetunion »uns die Pforte zur dauernden Herrschaft über die Welt aufstoßen« werde. Vor den Spitzen der Wehrmacht stellte er am 5. Dezember 1940 fest: »Die Entscheidung über die europäische Hegemonie fällt im Kampf gegen Rußland.« Ende September 1941 meinte Hitler im »Führerhauptquartier«, der Kampf um »die Hegemonie in der Welt wird für Europa durch den Besitz des russischen Raumes entschieden: Er macht Europa zum blockadefestesten Ort der Welt.« Bereits am 31. Juli 1940 hatte Hitler auf die weltpolitische Dimension eines Sieges über die Sowjetunion aufmerksam gemacht. Halder notierte die Ausführungen: »Englands Hoffnung ist Rußland und Amerika. Wenn die Hoffnung auf Rußland wegfällt, fällt auch Amerika weg, weil Wegfall Rußlands eine Aufwertung Japans in Ost­asien in ungeheurem Maß folgt.« Man erwartete, daß die USA 1942 in der Lage wären, in den Krieg einzugreifen. Deshalb, so Hitler am 17. Dezember 1940, müßten 1941 »alle kontinentaleuropäischen Probleme« gelöst sein. Am 9. Januar erklärte er, wenn die UdSSR »zerschlagen« sei, müßten auch die Briten nachgeben oder der »Kampf gegen England« sei »unter günstigsten Umständen weiterzuführen. Die Zertrümmerung Rußlands werde es auch Japan ermöglichen, sich mit allen Kräften gegen die USA zu wenden. Das würde die letzteren vom Kriegseintritt abhalten.«

Die, wie sich nach vier bis fünf Wochen Krieg in der Sowjetunion erweisen sollte, Fehleinschätzungen sowohl der deutschen Möglichkeiten als auch des »Feindes«, der Sowjetarmee, wurden die Grundlage abenteuerlicher strategischer und operativer Planungen. Das Endziel, die Linie »Wolga–Archangelsk«, sollte »vor Einbruch des Winters« erreicht und die Sowjetunion zerschlagen sein. Dazu sollte »die im westlichen Rußland stehende Masse des russischen Heeres (...) in kühnen Operationen unter weitem Vortreiben von Panzerkeilen vernichtet, der Abzug kampfkräftiger Teile in die Weite des russischen Raumes verhindert werden.« Am 9. Januar 1941 präzisierte Hitler die Ziele: »Vernichtung des russischen Heeres, die Wegnahme der wichtigsten Industriegebiete und die Zerstörung der übrigen Industriegebiete (...) außerdem müsse das (Öl-)Gebiet von Baku in Besitz genommen werden.« Das würde zwangsläufig zum Zusammenbruch des Stalin-Regimes und zum Auseinanderfallen der Sowjetunion führen.

Nach dem Erlaß der »Weisung Nr. 21« setzten neben der weiteren militärischen Vorbereitung umfangreiche Planungen zur Verwirklichung der politischen und wirtschaftlichen Endziele des kolonialistischen Eroberungskrieges und antikommunistischen Vernichtungsfeldzuges gegen die Sowjetunion ein. »Barbarossa« wurde die bis dahin am besten vorbereitete Aggression der Faschisten.

Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion war der Beginn einer unfaßbaren Katastrophe für die Menschen in der Sowjetunion wie schon ein Blick auf die Opferzahlen zeigt: Nach neueren Schätzungen starben im Großen Vaterländischen Krieg der Völker der Sowjetunion etwa 28 Millionen Zivilisten und mehr als acht Millionen Rotarmisten.

[1] Der Angriff gegen Frankreich und die Benelux-Staaten im Mai 1940 wurde nicht weniger als 39mal verschoben. Die konservative Opposition vor allem in Militärkreisen schmiedete sogar Putschpläne gegen Hitler.

* Dr. Martin Seckendorf ist Historiker und Mitglied der Berliner Gesellschaft für Faschismus- und Weltkriegsforschung e.V.

Aus: junge Welt, 18. Dezember 2010



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