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Kriegsverbrechen vor Gericht

Katrin Hassels Dissertation befasst sich mit Kriegsverbrecherprozessen 1945-1948 in der britischen Besatzungsbehörde

Katrin Hassel: Kriegsverbrechen vor Gericht. Nomos, Baden-Baden 2009, ISBN 978-3-8329-3825-3; 342 S., 85,00 €

Schon während des 2. Weltkrieges befassten sich die Alliierten mit der Frage, wie die Verantwortlichen für Krieg und Massenmord juristisch zur Rechenschaft gezogen werden könnten. Während es über den Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess und die zwölf Nürnberger Nachfolgeprozesse eine Vielzahl von Einzelpublikationen gibt, sind eine Vielzahl der weiteren Prozesse bisher nur randständig untersucht worden, obwohl zwischen Herbst 1945 und Ende März 1948 allein in West-, Nord- und Südeuropa etwa 1.000 Kriegsverbrecherprozesse stattfanden, bei denen etwa 2.700 Angeklagte entweder zum Tode oder zu hohen Haftstrafen verurteilt worden waren. Die vorliegende Dissertation Katrin Hassels entstand im Internationalen Forschungs- und Dokumentationszentrum Kriegsverbrecherprozesse der Philipps-Universität Marburg und befasst sich speziell mit den Kriegsverbrecherprozessen in der britischen Besatzungsbehörde vor Militärgerichten unter dem »Royal Warrant«. Ein solcher »königlicher Erlass« vom 18. Juni 1945 stellte die Grundlage dar, auf der die jeweiligen Verfahren durchgeführt wurden.

Den Ausführungen zu den genannten Verfahren stellt die Verfasserin zwei rechtshistorische Kapitel voran; im ersten erinnert sie in konziser Weise an erste Ansätze zur strafrechtlichen Definition von »Kriegsverbrechen« und an die Einführung der entsprechenden Begrifflichkeiten in die Rechtssprache. Anhand des Versailler Vertrags zeigt sie dann, dass die in dessen Artikeln 228 bis 230 festgelegten Regelungen hinsichtlich der Anklage und Aburteilung der deutschen Kriegsverbrechen unzureichend waren. Bereits die erste Forderung der Alliierten nach Auslieferung von ca. 900 Deutschen vom Februar 1920 rief eine Welle nationalistischer Empörung hervor, was zu der Entscheidung führte, auf die Auslieferungen vorläufig zu verzichten. Stattdessen sollten die Verfahren gegen die Kriegsbeschuldigten in Deutschland durchgeführt werden. Im Mai 1920 erhielt die deutsche Regierung eine erste, von der sogenannten »Interalliierten gemischten Kommission« zusammengestellte Liste mit den Namen von 45 Personen, die sich nach Überzeugung der Alliierten Kriegsverbrechen schuldig gemacht hatten. Weder Wilhelm II noch Ludendorff oder Hindenburg standen auf der Liste, allerdings eine Reihe von Personen, denen Verbrechen wie die Misshandlung von Kriegsgefangenen oder die Versenkung von Lazarettschiffen zur Last gelegt wurden. Auch dieses Verfahren löste heftige Proteste in Deutschland aus und in der Folgezeit gelang es dem zuständigen Reichsgericht – wie Hassel an verschiedenen Beispielen zeigen kann – die Verfahren zu verschleppen und das Strafmaß niedrig zu halten. In den 1.635 Verfahren wurden lediglich vier Personen als Kriegsverbrecher im eigentlichen Sinne (vier weitere wegen Plünderung) bestraft.

Diese Erfahrung war den Alliierten noch sehr präsent, als sie über die Notwendigkeit, die Prozeduren und die Strukturen der juristischen Aburteilung der deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg nachdachten, die vor allem in Gestalt der »United Nations War Crime Commission« (UNWCC) bedeutsam werden sollte. Diese wurde im Oktober 1943 gegründet und stellte im Frühjahr 1948 ihre Arbeit ein. Die Verfasserin stellt insbesondere die 15 Bände (»Law Reports«) vor, in denen insgesamt 89 Verfahren dokumentiert sind, darunter der erste Bergen-Belsen-Prozess. Dieses zweite Kapitel wird durch knappe Ausführungen zu den Nürnberger Prozessen ergänzt; die Verfasserin stellt fest: „Die Grundsätze des IMT-Status sind heute völkergewohnheitsrechtlich anerkannt. Die im IMT-Statut enthaltenen Verbrechenstatbestände bilden die Grundlage des materiellen Völkerrechts.“ (S. 95)

Den Untersuchungsgegenstand im engeren Sinne – die 329 Prozesse – behandelt die Verfasserin in zwei weiteren Kapiteln. Eines befasst sich detailliert mit der Rechtsgrundlage der Kriegsverbrecherprozesse vor den britischen Militärgerichten, dem »Royal Warrant« vom 18. Juni 1945. Dabei verweist die Verfasserin auf den Entstehungskontext und stellt jeweils die einzelnen »Regulations« vor; von diesen enthält ausschließlich die »Regulation 1« materielles Recht, indem der Straftatbestand »Kriegsverbrechen« näher bestimmt ist. Die anderen 12 »Regulations« enthalten ausschließlich Verfahrensrecht, d.h. Aspekte der Verfahrenseröffnung, der Zusammensetzung des Militärgerichts, der Beweisregeln, Strafmaß, Rechte des Angeklagten sowie der Strafmilderung bzw. der Strafumwandlung (Haftstrafe statt Todesstrafe). Katrin Hassel zeigt hier jeweils wie sich die Formulierung der »Regulations« schrittweise entwickelt hat.

Das letzte umfangreiche Kapitel stellt eine Auswertung der Gerichtsverfahren dar; dabei diskutiert die Verfasserin zunächst die in der Literatur anzutreffenden unterschiedlichen Zahlen hinsichtlich der Verfahren und der Angeklagten; ihr zufolge kann von 329 Prozessen mit 964 Angeklagten ausgegangen werden (S. 155), denen vor allem in Hamburg im Curio-Haus (190 Verfahren), Braunschweig (28), Celle (17) und Wuppertal (14) der Prozess gemacht wurde. In ihrer Untersuchung der Prozesse stellt Katrin Hassel auch die Gerichtsbesetzung, die inkriminierten Handlungen und Tatorte, den Status und die Nationalität der Angeklagten, die Nationalität der Opfer sowie die gerichtlichen Sanktionen vor: „Von den 964 Angeklagten wurden 263, also gut ein Viertel (27%), freigesprochen, 194 zum Tode verurteilt (20%) und 467 (49%) zu Freiheitsstrafen. Bei 40 Personen (4%) gab es kein Urteil“ (S. 176). In zahlreichen Tabellen und Grafiken liefert die Autorin zudem umfangreiche statistische Daten zu den Strafarten und Freiheitsstrafen, jeweils für die Gesamtheit der Angeklagten und geschlechtsspezifisch sowie für die einzelnen Jahre differenziert. Katrin Hassel kommt zu dem Urteil, dass „die Militärgerichte unter dem Royal Warrant in der britischen Besatzungszone den ihnen zur Verfügung stehenden Strafrahmen vollständig ausnutzten. Hätten die britischen Richter tatsächlich Siegerjustiz betrieben, wie ihnen immer wieder vorgeworfen wurde, müsste ein deutliches Übergewicht bei den hohen Strafen liegen. Stattdessen wurde das ganze Spektrum der Strafen relativ gleichmäßig ausgenutzt, vom Freispruch über niedrige und hohe Freiheitsstrafen bis hin zur Todesstrafe“ (S. 221).

Der von Katrin Hassel vorgelegte Band ist eine wertvolle Ergänzung und Erweiterung des Forschungsstandes zu der juristischen Bearbeitung der NS-Verbrechen. Die Ausführungen sind auch für juristisch nicht vorgebildete LeserInnen stets nachvollziehbar.

Fabian Virchow


Dieser Beitrag erschien in: Wissenschaft & Frieden 3/2009

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