Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Auf Kriegskurs

Vor 75 Jahren fand die »Hoßbach-Besprechung« statt

Von Martin Seckendorf *

Der »Führer und Reichskanzler« Adolf Hitler hatte für den 5. November 1937 in der Reichskanzlei eine besondere Sitzung anberaumt. Teilnehmer an der Besprechung waren der Oberbefehlshaber der Wehrmacht und Reichskriegsminister Werner von Blomberg, der Oberbefehlshaber des Heeres, Werner von Fritsch, der Oberbefehlshaber der Luftwaffe, Hermann Göring und der Oberbefehlshaber der Kriegsmarine, Erich Raeder, sowie der Reichsaußenminister Konstantin von Neurath.

Friedrich Hoßbach, Wehrmachtsadjutant Hitlers, fertigte am 10. November eine Niederschrift über die Sitzung an. Revisionistische Historiker nutzten die Differenz zwischen der Sitzung und der Niederschrift, um sie in Zweifel zu ziehen. Diese Versuche sind inzwischen gescheitert.

Das Internationale Militärtribunal zur Aburteilung der deutschen Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg wertete die Hoßbach-Niederschrift als »eines der Schlüsseldokumente« für die Untersuchung der schwerwiegendsten Anschuldigung gegen die deutschen Angeklagten, nämlich der Bildung einer Verschwörung zur Begehung »von Verbrechen gegen den Frieden«.

»Raumerweiterung«

In seiner einleitenden Rede behauptete Hitler, der Lebensraum des deutschen Volkes sei zu klein. Durch Autarkie, wie er noch im August 1936 vermöge seiner Denkschrift »Über die Aufgaben des Vierjahresplans« verordnet hatte, oder durch einen verstärkten Handelsaustausch könnten weder die benötigten Rohstoffe noch die Lebensmittelversorgung erreicht werden. Eine Senkung des Lebensstandards käme zur Behebung von Schwierigkeiten, die durch die Hochrüstung hervorgerufen worden waren, nicht in Betracht. Hitler sprach hier eine grundlegende Lehre an, die die Herrschenden aus der Niederlage im Ersten Weltkrieg und der Novemberrevolution gezogen hatten. Die »Heimatfront« müsse in einem künftigen Krieg stabil bleiben. Wenn nicht schnell gehandelt werde, drohe den Deutschen in kurzer Zeit eine Hungerkrise, die auch das NS-Regime mit in den Abgrund reißen könnte, behauptete er.

Ziel müsse die baldige »Raumerweiterung« sein. Es gehe »nicht um die Gewinnung von Menschen sondern von landwirtschaftlich nutzbarem Raum« und von Rohstoffgebieten. Der neue Raum sollte »im unmittelbaren Anschluß an das Reichsgebiet« liegen. Die Verbindungswege zu überseeischen Kolonien würden von dem seegewaltigen England kontrolliert und könnten wie im Ersten Weltkrieg leicht unterbrochen werden. Die Herrschaft über den Kontinent galt ihm als Weg zur Errichtung eines großen »Weltgebildes« der Deutschen.

Die Unterwerfung der Tschechoslowakei und Österreichs schien dem »Führer« aus mehreren Gründen ein attraktives Ziel. Es handelte sich um Länder mit begehrten Rohstoffen wie Eisen, und Kohle. So verkündete Göring schon im März 1937 vor dem Eisen- und Stahl-Arbeitskreis des Vierjahresplanes, daß bei Modellrechnungen für den Kriegsfall »auch die Bezüge aus Österreich in seiner ganzen Ausdehnung zugrunde zu legen« seien. Beide Länder verfügten über eine entwickelte Industrie auch im Bereich der Rüstung und über hohe Devisenbestände. Nazi-Deutschland versprach sich von einer »Inbesitznahme« auch Arbeitskräfte und Soldaten für mehrere Divisionen. Schließlich wies Hitler darauf hin, daß man trotz der dichten Besiedlung beider Länder »Nahrungsmittel für 5–6 Millionen Menschen« herausholen könne. Voraussetzung sei aber, daß die Zahl der »Esser« drastisch gesenkt werde. Ihm schwebte vor, daß etwa 15 Prozent der Bevölkerung beider Staaten zu verschwinden hatten. Hitler skizzierte hier einen Grundzug aller späteren deutschen Besatzungspolitik: Um Lebensmittel für die Okkupanten zu erhalten, wollte man die Einwohnerzahl der besetzten Gebiete »absenken«.

Außerdem bildeten im Falle der zu erwartenden kriegerischen Auseinandersetzungen bei gewaltsamen deutschen Aggressionen Österreich und die Tschechoslowakei eine gefährliche Flankenbedrohung, die durch die »Inbesitznahme« auszuschalten sei. Deshalb sollten die beiden Staaten zuerst und möglichst gleichzeitig niedergeworfen werden.

Hitler machte deutlich, daß die »Raumerweiterung« nicht ohne die Androhung oder Anwendung militärischer Gewalt erfolgen könne. Doch die schmale Ressourcendecke wurde durch die unverminderte Hochrüstung immer dünner. Noch im Januar 1939 zeichnete der Beauftragte für den Vierjahresplan, Göring, auf dem Gebiet der synthetischen Treibstoffe ein düsteres Bild.

Eine Drosselung der Rüstung kam nicht in Frage. Aus der dadurch erzeugten, durch die seit 1936 betriebene Autarkie-Politik nicht zu behebenden ökonomischen Zwangslage zog Hitler den Schluß: Man könne »nicht länger warten«. Er formulierte in diesem Zusammenhang ein weiteres Prinzip aller späteren deutschen Aggressionen: Mit einer Abfolge von Raubkriegen wollte man nicht nur die militärpolitische, sondern auch die wirtschaftliche Lage Nazi-Deutschlands Schritt für Schritt verbessern. Ein Beutezug sollte die materiellen Voraussetzungen für die nächste ins Auge gefaßte Aggression verbessern.

Hitler wies nachdrücklich darauf hin, daß der »Weg der Gewalt« für die Lösung der »Raumfrage« unerläßlich, aber »niemals risikolos« sei. Der »Entschluß zur Anwendung von Gewalt unter Risiko« sei getroffen worden, betonte er.

Unter dem verharmlosenden Begriff »Risiko« faßte Hitler die Möglichkeit, daß die Westmächte und die Sowjetunion den Opfern deutscher Aggression zu Hilfe kommen könnten und Nazi-Deutschland einen Mehrfrontenkrieg führen müsse – angesichts des Koalitionsdebakels im Ersten Weltkrieg eine Horrorvorstellung für die deutschen Eliten. Auch von Blomberg und von Fritsch wiesen in der Diskussion »auf die Notwendigkeit hin, daß England und Frankreich nicht als unsere Gegner auftreten dürfen«. Das war der einzige Vorbehalt der Oberbefehlshaber gegen das vorgetragene Aggressionsprogramm.

Bei den Aktionen gegen Österreich und Tschechoslowakei sah Hitler die Gefahr eines Eingreifens anderer Mächte noch nicht, da nach seiner Meinung die Briten diese Gebiete »abgeschrieben« hätten.

Blitzkrieg

Bei weiteren Aggressionen aber werden andere Mächte militärisch eingreifen wollen, meinte er. Als »Ausweg« bot Hitler den überraschenden Überfall mit nachfolgendem Blitzkrieg an. »Das Maß der Überraschung und der Schnelligkeit unseres Handelns« sei für das Verhalten anderer Mächte bei einer Nazi-Aggression entscheidend. »Unsere Operationen« müßten überfallartig und »blitzartig schnell« erfolgen«, war sein Rezept. Ein »Blitzkrieg« verhindere lange Feldzüge und feindliche Koalitionen. Die militärischen Operationen müßten so beeindruckend schnell abgeschlossen sein, um damit vollendete Tatsachen zu schaffen, die andere Mächte von einem Eingreifen abhielten. Das Blitzkriegskonzept war angesichts des deutschen Rüstungsstandes nicht die Lösung, sondern das eigentliche Risiko. Zwar war die Mannschaftsstärke der Wehrmacht beeindruckend. Doch es fehlten die technischen Voraussetzungen zur Führung blitzartiger Operationen: Die Motorisierung machte kaum Fortschritte, mittlere und schwere Panzer waren nicht vorhanden.

Bis November 1941 ging das Konzept auf, auch wegen für den deutschen Imperialismus günstiger Umstände. Vor Moskau scheiterte die Doktrin. Das war die Wende des Zweiten Weltkrieges. Auf einen anderen Krieg hatte sich der deutsche Faschismus nicht vorbereitet.

Die Besprechung am 5. November 1937 bedeutet einen tiefen Einschnitt in den Verlauf der Geschichte seit Ende des Ersten Weltkrieges. Ein bald zu beginnender Krieg war jetzt beschlossene Sache.

* Aus: junge Welt, Samstag, 03. November 2012


Zurück zur Seite "Geschichte des (2. Welt-)Krieges"

Zurück zur Homepage