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Nichts dazugelernt

Bundestag verweigert ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen Entschädigung

Von Frank Brendle *

Der Bundestag hat in der letzten Sitzung der Wahlperiode am vergangenen Freitag einen Antrag von SPD und Grünen, ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen symbolische Entschädigungszahlungen zu gewähren, abgelehnt. Die Koalitionsfraktionen argumentierten mit »totalitarismustheoretischen« Aufrechnungen.

Weil SPD und Grüne ihren Antrag erst Anfang Juni kurzfristig eingebracht hatten, war eine richtige Debatte nicht mehr möglich. In der ersten Lesung vor vier Wochen waren die Redebeiträge lediglich zu Protokoll gegeben worden. Bei der Abstimmung am Freitag ging es gar gänzlich ohne Debatte, nach einigen Sekunden war der Versuch, die Mißhandlung und Ermordung dieser Gefangenen als Teil deutscher Kriegsverbrechen wenigstens ansatzweise zu sühnen schon zunichte gemacht.

SPD-Familienpolitiker Stefan Schwartze wies in seiner – nicht gehaltenen – Rede darauf hin, daß gefangene Rotarmisten KZ-ähnliche Bedingungen erlitten und millionenfach »durch Arbeit vernichtet« oder einfach dem Hungertod preisgegeben wurden. Der Schutz der Genfer Konvention sei ihnen bewußt versagt worden. »An den sowjetischen Kriegsgefangenen wurde Völkermord begangen«, so Schwartze. Neben einem individuellen »Anerkennungsbeitrag« von 2500 Euro forderten SPD und Grüne deswegen eine »Intensivierung der Erinnerungskultur«.

Für die Linksfraktion begrüßte Ulla Jelpke den Antrag, fragte aber nach, warum die Überlebenden nur 2500 Euro erhalten sollten, da zivile Zwangsarbeiter teilweise das Dreifache dieser Summe erhalten hätten. Außerdem schlug sie vor, die Angehörigen von Partisanenverbänden einzubeziehen. Der SPD hielt sie vor, daß ausgerechnet ihr heutiger Kanzlerkandidat Peer Steinbrück in seiner Funktion als Finanzminister im Jahr 2006 eine ähnliche Initiative der Linken abgelehnt hatte. Man müsse, so Steinbrück damals, berücksichtigen, »daß unrechtmäßig zugefügte Leiden auch deutschen Kriegsgefangenen widerfahren sind«, einseitige Lösungen solle es nicht geben. Vielleicht, so Jelpke, habe die SPD seither »dazugelernt«.

Steinbrücks damalige Äußerungen wurden jetzt von CDU-Mann Manfred Kolbe plagiiert. Auch die Sowjetunion habe Kriegsverbrechen begangen, und nicht zuletzt müsse man berücksichtigen, »daß unrechtmäßig zugefügte Leiden auch deutschen Kriegsgefangenen widerfahren sind und einseitige Regelungen nicht infrage kommen sollten«. Außerdem berief sich Kolbe auf formale Argumente: Die Sowjetunion habe schon 1953 auf Reparationen verzichtet und diesen Verzicht 1990 bekräftigt. Für die FDP sprang Holger Krestel der ­Union bei: Er nannte die Behandlung gefangener Rotarmisten »nur eine von vielen Menschenrechtsverletzungen, die sich die Kriegsgegner gegenseitig antaten«.

»Das ist ein Rückfall in den Kalten Krieg«, kommentierte Eberhard ­Radczuweit gegenüber jW empört. Der ehrenamtliche Geschäftsführer des Vereins »Kontakte« ist der eigentliche Initiator der Entschädigungsforderung. Der Verein kümmert sich um Opfer der Faschisten in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Den damaligen Kriegsgefangenen überweist er aus Spenden je 300 Euro Entschädigung, wesentlich höher sind die humanitären Leistungen, wie Brennstoffhilfen oder die Übernahme medizinischer Behandlungen. Im Jahr 2006 hatte Radczuweit beim Petitionsausschuß eine Entschädigung der Überlebenden gefordert. »Die folgenden Jahre vergingen mit ergebnislosen Diskussionen im Petitionsausschuß«, faßte er den Verlauf zusammen.

Auf die Unvergleichbarkeit des Kriegsgefangenenschicksals hatte schon in den 1990er Jahren der Historiker Christian Streit (»Keine Kameraden«) hingewiesen: Von 5,7 Millionen Rotarmisten, die in deutsche Gefangenschaft gerieten, waren rund 3,3 Millionen gestorben – verhungert, erfroren, an Krankheiten zugrunde gegangen. Das lag nicht an logistischer Überforderung der Wehrmacht, sondern an den deutschen Kriegszielen, die den Tod von Millionen »überzähliger« Sowjetbürger vorsahen. Ihre Behandlung als »Untermenschen« war kaum weniger mörderisch als die der jüdischen Bevölkerung.

An finanziellen Schwierigkeiten würde eine Entschädigung nicht scheitern: Dem Verein »Kontakte« zufolge leben heute noch 2000 bis 4000 ehemalige sowjetische Kriegsgefangene.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 3. Juli 2013


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