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Faktentreue, bitte!

Wer machte wann gegen wen mobil? Deutschland gegen Polen

Von Karlen Vesper *

Falsch, Frau Steinbach. Faktentreue, bitte! Dies ist um so dringlicher geboten, wenn Deutsche über ein Kapitel Geschichte sprechen, das sie oder ihre Vorfahren mordend geprägt haben. Die Mobilmachung war in Polen am 30. August 1939 erfolgt. Im März des Jahres hatte es nur eine Teil-Mobilmachung gegeben. Und die hatte ihren Grund – im zunehmend unverschämteren, dreisteren Verhalten Hitlerdeutschlands gegenüber dem östlichen Nachbarn.

Am 24. Oktober 1938 hatte der deutsche Außenminister Joachim von Ribbentrop die Wiedereingliederung der »Freien Stadt Danzig« ins Deutsche Reich sowie freien Transitverkehr von Berlin nach Königsberg über Autobahn und Schienen gefordert. Am 26. März 1939 wies die polnische Regierung diese Forderung definitiv zurück und beharrte auf den durch den Versailler Vertrag definierten Status quo. Warschau fürchtete nun, nicht zu unrecht, eine handstreichartige Annexion von Gdansk. Darum die Teilmobilisierung. Und angesichts aggressiver Akte Deutschlands in jenen Tagen, die Polen in die Zange nahmen:

Am 15. März war die deutsche Wehrmacht in Prag einmarschiert; sie besetzte den noch nicht annektierten Teil des in München '38 verratenen und verkauften Tschechien; die Slowakei wurde ein Vasallenstaat Hitlers. Am 22. März wurde, nach vorangegangenem starken Druck deutscherseits auf Litauen, das Memelland okkupiert. Am 25. März erläuterte Hitler dem Oberbefehlshaber des deutschen Heeres, Walter von Brauchitsch: Polen müsse so niedergeschlagen werden, dass es in den nächsten Jahrzehnten keine Rolle mehr spiele. Das alles geschah im März 1939.

Am 11. April gibt Hitler dann die »Weisung für die einheitliche Kriegsvorbereitung der Wehrmacht für 1939/40« aus, die den Plan des Oberkommandos der Wehrmacht für einen Überraschungsangriff auf Polen (»Fall Weiß«) enthält. Am 28. April artikuliert der Diktator in einer Reichstagsrede weitere Gebietswünsche, darunter wieder Danzig, und kündigt den deutsch-polnischen Nichtangriffsvertrag von 1934 auf. Vor Oberbefehlshabern der Wehrmacht sagt er am 23. Mai: »Danzig ist nicht das Objekt, um das es geht. Es handelt sich für uns um Arrondierung des Lebensraumes im Osten …« Mit den Militärs trifft er sich erneut am 22. August auf dem Berghof; Ziel des anvisierten Feldzuges sei die »Vernichtung Polens«. Ab dem 22. August 1939 initiieren SS-Angehörige, als polnische Freischärler getarnt, »Grenzzwischenfälle«. Dem Ausland soll suggeriert werden, dass Polen kriegerische Handlungen gegenüber Deutschland verübe. Am 23. August wird in Moskau der »Hitler-Stalin-Pakt« unterzeichnet. Am 29. August fordert Berlin erneut die Angliederung Danzigs, einen »polnischen Korridor« sowie Sonderrechte für die Deutschen in Polen.

Am 1. September 1939 fliegen um 4.45 Uhr die ersten Stukas über die Grenze; es beginnt der Einmarsch von 1,5 Millionen Wehrmachtsoldaten in Polen. Überraschend, und doch nicht überraschend. Polen war gewarnt. Zum einen durch die von deutscher Seite ganz unverhüllt vorgetragenen territorialen Gelüste, zum anderen durch seinen exzellenten Geheimdienst. »Die Abteilung ›N‹ (für Deutschland) der polnischen Militärspionage hatte Quellen erschlossen, die über Jahre hinweg reichlich sprudelten«, schrieb der Berliner Militärhistoriker Gerd Kaiser in diesem Blatt vor einem Jahr. Es waren vor allem Frauen aus dem deutschen Adel, die »erstklassige Informationen« für Major Georg von Sosnowski Ritter von Nalecz, Kopf des »hocheffektiven« Spionagerings des Generalstabs der polnischen Streitkräfte in Berlin lieferten. Die aus »besten Familien« stammenden Damen hatten Schlüsselstellungen in den Sekretariaten des Reichwehrministeriums inne und Zugang zu Geheimplanungen der Wehrmachtführung, weiß Kaiser. Sie hatten Einblick in Mobilisierungs- und Aufmarschpläne, in Schubladenentwürfe für künftige Militäroperationen sowie in wichtige Rüstungsprojekte. Gegenüber ND berichtet Kaiser auch vom »Plan Zachod« (Plan West) des polnischen Generalstabs. Indes hing jener »noch Kavalleristenträumen von Angriffen hoch zu Ross und mit eingelegter Lanze an«. Dementsprechend sei es um die Ausstattung der polnischen Armee bestellt gewesen. Eine Umsetzung des polnischen Schubladenentwurfes »Marsz na Berlin« wäre wenige Meter hinter der Grenze gescheitert.

Nein, nicht Polen hat Deutschland angegriffen, auch keinerlei Kriegsvorbereitung gegen das bis an die Zähne bewaffnete »Reich« betrieben. Polen glich 1939 eher dem von der Schlange hypnotisierten Kaninchen. Innerhalb von drei Wochen war das Land überrannt. Sechs Millionen Polen starben durch deutsche Mörderhand.

* Aus: Neues Deutschland, 11. September 2010


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