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Katastrophen

Ein aktuelles Antikriegsbuch

Von Kurt Schneider *

Eine Gesamtsicht auf jenen globalen Krieg, der als Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts die »Voraussetzung kommender Katastrophen, einschließlich des Zweiten Weltkrieges«, war, will David Stevenson, Professor für Internationale Geschichte an der London School of Economics, bieten. Im Unterschied zu anderen Katastrophen – zum Beispiel zu den über dreißig Millionen Opfern der Grippe-Pandemie der Jahre 1918/19 – war der Erste Weltkrieg eine »durch politisches Handeln hervorgerufene Katastrophe«. Nicht an einem unsichtbaren Virus, sondern in Folge einer erkennbaren »bewussten Politik« starben Menschen verschiedener Nationalitäten. Begonnen als traditioneller Staatenkrieg mit kalkuliertem Einsatz politischer und militärischer Machtmittel, entwickelte dieser Krieg erstmals in der Geschichte eine nicht mehr beherrschbare Eigendynamik. Er wurde zu einer Zeitenwende, von Oswald Spengler als »Untergang des Abendlandes« und von Wolfgang J. Mommsen als der »Anfang vom Ende des bürgerlichen Zeitalters« bezeichnet.

Stevenson, der zu den bedeutendsten Weltkriegshistorikern zählt, hat »den Krieg als Ganzes« dargestellt und deshalb die ihm zugrunde liegenden Prozesse und Entscheidungen hervorgehoben, »die Millionen von Menschen mit verheerender Feuerkraft ausstatteten, sie zum tödlichen Kampf gegeneinander hetzten und unter den schrecklichsten Bedingungen Jahr für Jahr dahinvegetieren ließen«. Er geht der Frage nach, wie es zum Ausbruch von Gewalt kam, warum sie eskalierte, wie sie beendet wurde und welche Auswirkungen sie hatte. Er schildert das Kampfgeschehen auf sämtlichen Kriegsschauplätzen und behandelt die Ausweitung, Strategie, Technologie, Logistik und Taktik des Krieges, die gravierende Einwirkung der Rüstung auf die Entwicklung der Wirtschaft, Fragen der Menschenkraft und Truppenmoral sowie innenpolitische Entwicklungen in den kriegführenden Ländern, darunter die Leiden und Nöte der Zivilbevölkerung und die Differenzierungsprozesse in der Arbeiterbewegung.

Hinsichtlich der realen Auswirkungen des Ersten Weltkrieges, den er als Prototyp einer neuen Form der Konfliktaustragung bezeichnet, spannt er den Bogen bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. Er verweist darauf, dass, wenn auch der Erste Weltkrieg mit seinem Vermächtnis und seinem kollektiven Erinnerungspotenzial aus der vordersten Front der zeitgenössischen Ereignisse zurücktritt, dennoch jede Entscheidung zum Krieg mit der historischen Tatsache konfrontiert werden muss, dass ein Krieg die Dinge, die Ursache für seinen Beginn waren, nur noch schlimmer machen kann. »Alle militärischen Unternehmungen, so legitim ihre Motive auch sein mögen, bergen das Risiko, dass sie das Prinzip der Verhältnismäßigkeit zwischen Zweck und Mittel verletzen und dass sie zu einem schlechten Krieg und zu einem schlechten Frieden führen werden.« Ebenso können Nachwirkungen eines Krieges nicht zuverlässig vorhergesagt werden.

Ganz in diesem Sinne sieht Stevenson die aus der Analyse der Globalität des Ersten Weltkrieges gewonnenen Einsichten als universell anwendbar, als »machtvolle Warnung« davor, die Erkenntnis zu verdunkeln, dass Kriege immer eine Tragödie waren. Da nach dem Kalten Krieg die heißen Kriege keineswegs abgenommen haben, sondern »vielmehr zu einer häufigen und gewohnten Erscheinung geworden« sind, ist sein Buch ohne Zweifel ein Antikriegsbuch, von höchst aktueller Bedeutung.

David Stevenson: 1914-1918. Der Erste Weltkrieg. Artemis & Winkler, Düsseldorf. 799 S., geb., 39,90 EUR

* Aus: Neues Deutschland, 2. August 2007


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