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Der Überfall auf die UdSSR

Geschichte. "Barbarossa", 22. Juni 1941: Das unlösbare Problem der deutschen Weltherrschaftskrieger

Von Dietrich Eichholtz *

Siebzig Jahre sind vergangen seit dem Alptraum des 22. Juni 1941, als frühmorgens der deutsche Imperialismus mit seinem verräterischen Überfall auf die UdSSR die größte militärische Operation in der gesamten überlieferten Geschichte auslöste. Sie forderte in fast vier Jahren so viel Opfer wie bisher kein anderer Waffengang. Das soll nie vergessen sein. Wenn auch die Welt sich seit der Zerschlagung des deutschen Faschismus, jenes barbarischen, völkermordenden Systems, verändert hat, so ist die Gefahr schrecklicher Kriege mit neuen, schrecklicheren Waffen noch heute nicht gebannt.

Mehr als drei Millionen Mann und 4000 Panzer wälzten sich am 22. Juni in drei todbringenden Heeressäulen in das auf Krieg, Tod und Verwüstung zu diesem Zeitpunkt unvorbereitete Land. 2500 deutsche Flugzeuge zerstörten in wenigen Stunden Tausende sowjetische Maschinen, die noch regungslos, vielfach ungetarnt auf ihren Plätzen standen. Die folgenden fünf Monate waren eine Katastrophe für das Sowjetvolk. Die deutsche Wehrmacht gelangte bis vor Leningrad, vor Moskau, an die Dnepr- und an die Donmündung, nach Kiew und Charkow. Weiter kam sie nicht. Die sowjetische Gegenoffensive von Dezember 1941 bis März 1942 verschaffte dem faschistischen Gegner einen Vorgeschmack auf sein späteres Scheitern.

Der furchtbare Schlag, die riesigen Verluste an Soldaten und Zivilisten in den ersten Monaten trafen das Land um so härter, als die Moskauer Führung trotz zuverlässiger Warnungen von innen und außen bis zum letzten Tag auf dem fatalen Fehler beharrte, ihre Truppen im Westen davon abzuhalten, eine wirksame Verteidigung vorzubereiten. So konnte das Land keine vermehrte Sicherheit aus dem Umstand gewinnen, daß es seine Westgrenze seit 1939 in ihrer ganzen Ausdehnung vom Donaudelta bis Petsamo (Peenga) überall erheblich hatte vorschieben können.

Völkermord

Der Krieg im Osten war kein gewöhnlicher imperialistischer Krieg. »Wehrmacht zerschlagen. Staat auflösen« – diese Zielstellung Hitlers betraf das damals größte Land der Erde, den einzigen Staat sozialistischer Ordnung auf der Welt, mehr als dreißigfach so groß wie Deutschland, und die damals stärkste Militärmacht, entsprechend einer Bevölkerung von fast 200 Millionen Menschen. Die faschistische Clique und ihre militärische Führung gingen in ihrem Vernichtungsstreben weit über alles hinaus, was man seit der kolonialen und vorkolonialen Epoche und den Wunschvorstellungen aus dem Ersten Weltkrieg für möglich gehalten hatte; freilich waren bereits im eroberten Polen derartige menschenfeindliche Pläne ins Werk gesetzt worden.

In den Grundzügen existierten solche Pläne schon am 22. Juni 1941. Sie wurden 1942/43 in den eroberten Gebieten unter maßgeblicher Mitwirkung der Himmlerschen Ämter, des Reichs­ernährungsministeriums (geleitet von Herbert Backe), der Kontinentale Öl AG, der diversen anderen NS-»Ostgesellschaften« und zentraler industrieller Interessengruppen (IG Farben, Montankonzerne, Siemens, AEG, Zeiss und anderer) im Stile von »eigennützigen Hyänen des Schlachtfeldes« (Schwerin v. Krosigk) in Angriff genommen.

Der Rassismus in seiner brutalsten und umfassendsten Form diente als »Begründung« für die Ermordung und Aushungerung von Millionen und für die Vertreibung (»Aussiedlung«) von Dutzenden Millionen Slawen und Juden, schließlich auch für die Ausbeutung von Millionen verschleppter Männer und Frauen als Arbeitssklaven in Deutschland und innerhalb der Wehrmacht.

Die hauptsächlichen Aktionsfelder dieser grausigen Politik waren – selten zusammenhängend untersucht:
  • die ausnahmslose Ausrottung der jüdischen Bevölkerung,
  • die Vernichtung sämtlicher Führungskräfte des Sowjetstaates, darunter die Kommunistische Partei, der Komsomol, die Politischen Kommissare in der Armee, die sowjetische Intelligenz, die leitenden Kader in Wirtschaft und Verwaltung,
  • auf besonderen Befehl Hitlers die Ermordung der gesamten männlichen Einwohnerschaft der größten Städte, besonders Stalingrads; die Aushungerung Leningrads,
  • die auf Ausrottung zielende Hungerstrategie gegen »-zig Millionen Menschen« (Backe) in den auf Nahrungsmittelzufuhr angewiesenen russischen und belorussischen Gebieten,
  • die Ermordung vieler Hunderttausender sowjetischer Kriegsgefangener durch bewußt eingesetzten Hunger und durch Erschießen in den Gefangenenlagern, später auch in Konzentra­tionslagern,
  • die Zwangsrekrutierung von mehr als zwei Millionen sowjetischer Menschen (Zivilarbeiter und Kriegsgefangene) für die deutsche Kriegswirtschaft,
  • der »Generalplan Ost«.
Der »Generalplan Ost« und seine späteren Fassungen als »Gesamtplan« und »Generalsiedlungsplan« waren weitreichende Planungen, entworfen für die spätere »Eindeutschung« der eroberten sowjetischen Gebiete. Hieran hatten die von Himmler in seiner Eigenschaft als »Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums« Beauftragten schon vor dem 22. Juni 1941 zu arbeiten begonnen. Die Deutschbesiedlung war für große Teile der europäischen UdSSR vorgesehen; im Norden vom Leningrader Gebiet (»Ingermanland«) bis nach »Taurien« und zur Krim im Süden reichend. Die Begrenzung nach Osten blieb noch offen.

Das Gebiet sollte mittels »Aussiedlung« von mehr als 30 Millionen Eingesessenen nach »Westsibirien«, mit deren »Untergang« die Planer rechneten, für deutsche Siedler (Gutshöfe, Großbauern- und »Wehrbauern«stellen) freigemacht werden. Die Deutschen dort, so hieß es in Himmlers Reichskommissariat, »müßten die Stellung der Spartiaten, die aus Letten, Esten u.dgl. bestehende Mittelschicht die Stellung der Periöken, die Russen dagegen die Stellung der Heloten haben«.

Himmler phantasierte von 400 bis 500 Jahren deutscher Siedlung im »Ostraum«, in denen schließlich das Gebiet bis zum Ural von »500 bis 600 Millionen Germanen« bewohnt sein werde.

Untergang der Naziplanungen

Die immer noch anschwellende wissenschaftliche Literatur über den Krieg im Osten ist heute hier und da zu einem zutreffenden Urteil gelangt: Es war der drei Jahre lang, bis Mitte 1944, überwiegend allein gegen die deutsche Wehrmacht und ihre Hilfstruppen ausgefochtene Krieg auf sowjetischem Boden, in dem die Wehrmacht ausblutete, der die vollständige deutsche Niederlage vom Mai 1945 vorbereitete und die Rote Armee schließlich nach Berlin führte.

Bis zum 22. Juni 1941 hatte die Wehrmacht in halb Europa gesiegt. Was jetzt begann, betrachteten die Spitzen des Regimes, ihren »Führer« nicht ausgenommen, militärisch als Fortsetzung der bisher im Stil von »Blitzsiegen« gewonnenen Feldzüge. Im Vollgefühl ihrer in weniger als anderthalb Jahren erfochtenen Erfolge stellten sich die Verursacher des neuen Krieges seinen Verlauf als »schnellen Feldzug« von wenigen Monaten, ja Wochen vor. Vier – vielleicht sechs – Wochen nach dem Überfall schienen ihre Pläne militärisch noch aufzugehen. Schon im Juli/August 1941 lief ihnen ihre Planung aus dem Ruder. Damit brach die ganze riesenhafte Eroberungs-, Mord- und Vernichtungsplanung ihres Krieges um die künftige Weltvorherrschaft am sowjetischen Widerstand zusammen. Die folgenden Niederlagen vor Smolensk, Leningrad, Moskau, Stalingrad, Kursk usw. legten die entscheidenden Grundlagen für die Rettung der europäischen Friedensordnung und Kultur vor Völkermord und Nazigreueln.

Niemals haben sich bis dahin Politiker und Generale derart katastrophal verkalkuliert wie Hitler und die deutsche Generalität bei ihrem Entschluß, die UdSSR »in einem schnellen Feldzug niederzuwerfen« (Weisung 21 vom 18. 12. 1940). Diesen Entschluß allein der abstrusen Gedankenwelt eines megalomanen »Führers« zuzuschreiben, zeugt von erstaunlicher Unkenntnis der historischen Voraussetzungen seit den Anfängen der imperialistischen Entwicklung des deutschen Kaiserreiches, seit dem Ersten Weltkrieg und dem Aufkommen des Faschismus.

In der Welt der deutschen Militärs waren die Schwäche des russischen Gegners im Ersten Weltkrieg, der Zusammenbruch des Zarismus, die deutschen Siege bis hin zum Frieden von Brest-Litowsk stets in lebhafter Erinnerung. Ganz besonders aber waren der Haß gegen die neue bolschewistische Macht prägend und die »Schmach« des deutschen Rückzugs aus der Ukraine und vom Kaukasus bei der deutschen Niederlage 1918, als man unter Bruch des Brester Friedens bis nach Georgien und fast bis zum Kaspischen Meer gelangt war. Hitler war im Ersten Weltkrieg nie im Osten gewesen, hatte aber diese Erfahrungen schon in den ersten Nachkriegsjahren gierig in seinen Gesprächen mit Erich Ludendorff, der abgedankten grauen Eminenz des kaiserlichen Heeres, aufgesogen.

So war es der 1938 frisch eingesetzte Chef des deutschen Heeresgeneralstabs, General Franz Halder, der schon im April 1939 nach der Okkupation Prags zustimmend prophezeite, man könne nun endlich gegen Polen vorgehen, das in zwei Wochen zu »zermalmen« sei, und dann mit der siegreichen Armee, »erfüllt von dem Geist gewonnener Riesenschlachten«, dem »Bolschewismus« entgegentreten und auch im Westen Krieg führen. Derselbe Halder begann im Juni 1940, unmittelbar nach dem überraschenden Sieg über Frankreich und der Flucht der britischen Kontinentalarmee über den Kanal, mit Planungen für einen Aufmarsch gegen die Sowjetunion. In diese Planungen, die bereits vom Geist einer unvorstellbaren Hybris und Überschätzung der eigenen Kräfte beherrscht waren, schaltete sich im Juli 1940 Hitler ein. Er bestätigte den Heeresplanern, die UdSSR als »ostasiatischer Degen Englands« müsse »erledigt« werden. Nach Halders Notizen (31.7.1940) gab er als Termin vor: »Mai 1941. 5 Monate Zeit zur Durchführung.«

Die hierauf in den Stäben produzierten Operationsentwürfe und Feldzugspläne verraten den Ehrgeiz ihrer Verfasser, Hitlers Fünf-Monate-Frist womöglich noch zu unterbieten. Einer der ersten Entwürfe, vom 5. August 1940, nahm die Dauer des Feldzugs »mindestens« mit neun Wochen, »im ungünstigsten Fall« mit 17 Wochen an, das heißt bis September (oder gar nur bis Juli) 1941. Erobert und besetzt werden sollten die Gebiete um Moskau, um Leningrad und um die »kriegswirtschaftlichen Hauptgebiete« in der Ukraine und im Donezbecken. In Hitlers fester Absicht lag es von vornherein, die sowjetischen Großstädte einschließlich ihrer Bevölkerung als »bolschewistisch« auszulöschen.

Auf einer der letzten Tagungen der Wehrmachtführung vor dem Überfall (30.4.1941) legte der Oberbefehlshaber des Heeres, Generalfeldmarschall Walther v. Brauchitsch, seine Überzeugung vom baldigen Ende des Feldzugs dar: »Voraussichtlich heftige Grenzschlachten, Dauer bis zu vier Wochen. Im weiteren Verlauf wird dann aber nur noch mit geringerem Widerstand zu rechnen sein.«

Allgemein wurde für die Zeit danach mit dem Aufhören einer zusammenhängenden Verteidigung und mit dem Zusammenbruch des Sowjetstaates gerechnet. Die endgültige deutsche »Wehrgrenze« sollte dann vom Weißen Meer (Archangelsk) über 3000 Kilometer bis zum Kaspischen Meer (Astrachan) gesichert werden, von wo aus die Luftwaffe den Ural erreichen könnte. Spätestens dann rechneten die Strategen mit dem Gewinn des kaukasischen Öls und kalkulierten einen Marsch tropisch ausgerüsteter Divisionen in den Nahen Osten ein, nach dem Irak, dem Iran und dem Persischen Golf.

Die Unsicherheit der Militärs hinsichtlich der militärischen und wirtschaftlichen Stärke des Gegners war und blieb groß. Die Nachrichten über die militärische Potenz und die angebliche technische Zurückgebliebenheit der Roten Armee stammten überwiegend aus eigenen Quellen, von Generalen wie Ernst Köstring und Heinz Guderian. Über die gewaltigen wirtschaftlichen, besonders industriellen Veränderungen im europäischen Rußland und im Ural, die sich in den dreißiger Jahren vollzogen hatten, herrschte breite Unkenntnis bei den allermeisten Militärs.

Die sowjetische Bevölkerung galt in ihrer Masse als »rassisch minderwertig« und als ernsthafter Gegner nur, soweit »bolschewistisch durchseucht«. Daß sie nach fast einem Vierteljahrhundert Sowjetmacht treu zur sozialistischen Heimat und geschlossen um ihre Führung stehen könnte, war für die Faschisten eine undenkbare Vorstellung.

Hitler selbst sprach immerhin von der riesigen Ausdehnung der Operationsräume, die man erobern und beherrschen müsse: »Wir müssen von Anfang an Erfolge haben. Es dürfen keine Rückschläge eintreten.« (17.3.1941). Er gab intern sogar zu: »Wir wissen nicht, welche Kraft dahinter liegt, wenn wir die Türe im Osten wirklich aufstoßen.«

Wirtschaft und Rüstung

Manche Autoren, nicht nur deutsche, meinen, der Krieg gegen die UdSSR wäre nicht ausreichend, ja unverantwortlich schlecht vorbereitet gewesen. Das Argument hat einen häßlichen apologetischen Beigeschmack: Hätte man sich doch nur besser vorbereitet! Die wirtschaftlichen Ressourcen halb Europas, so heißt es häufig, hätten den deutschen Eroberern zur Verfügung gestanden. Mag eine solche Aufrechnung – von Zahlen aus der Friedensperiode – richtig sein, so hat sie doch keinerlei Beweiskraft. Im Gegenteil, seit den Siegen im Frühjahr/Sommer 1940 erwiesen sich die eroberten Potentiale fast alle als notleidende, als am Tropf hängende Volkswirtschaften. Vor allem infolge der britischen Seeblockade fehlten den besetzten Staaten plötzlich ihre Öl-, Kohle-, Getreide- und Futtermittelimporte, da die Abriegelung deren Kolonialreiche (Frankreich, Niederlande, Belgien) unzugänglich machte.

Der deutsche Imperialismus hatte nicht die Absicht, die Bedürftigen, abgesehen vom Verbündeten Italien, zu alimentieren. Er hatte selber große Probleme, besonders auf dem Treibstoff-, Eisenerz-, Aluminium-, Kupfer- und Ernährungsgebiet. In der Sowjetunion wollte man sich »gesundstoßen«, wie sich Goebbels und Göring hören ließen, während Hitler vor allem rassistische und antibolschewistische Kriegsgründe hervorhob. Doch auch für ihn war die Vorstellung ein Schreckgespenst gewesen, daß Deutschland – während des Nichtangriffspaktes – in wirtschaftliche Abhängigkeit von der UdSSR geraten könnte.

Wenn der NS-»Generalbevollmächtigte für das Kraftfahrwesen«, General v. Schell, Ende Mai 1941 über den Treibstoffmangel nachdachte und vorschlug, man müsse vielleicht an eine »gewisse Entmotorisierung der Wehrmacht« denken, so rührte er in der Tat an den neuralgischsten Punkt der Kriegführung im Osten: das Versorgungssystem und die Beweglichkeit der gesamten deutschen Militärmaschine. Wenig Klarheit gibt es heute noch über die Schwächen des deutschen Versorgungssystems in den weiten Räumen der Sowjetunion. Drang aber die Wehrmacht weiter als wenige hundert Kilometer in das Land ein, so blieb bei dem schwachen, weitspurigen Eisenbahnnetz nur der LKW-Transport, um mittels gestaffelter Umschlagstützpunkte in erster Linie für den Nachschub der 33 motorisierten schnellen Divisionen zu sorgen. Die übrigen 100 Divisionen marschierten zu Fuß in Rußland ein, mit 15000 langsam zockelnden Panjewagen. Die 600000 bis 750000 mit der Armee mitgeführten Pferde hatten Geschütze und Karren mit Munition und Versorgung zu ziehen.

Deshalb hing alles davon ab, daß die Rote Armee unter den ersten entscheidenden Schlägen zusammenbräche, bevor Herbstschlamm und Winterkälte die Angreifer in größere Bedrängnis brächten.

Die verbreitete These, daß 1940/41 in Deutschland eine »friedensmäßige Kriegswirtschaft« einsetzte, ist ein Mythos. Von zunehmender Rücksicht auf die eigene Bevölkerung kann keine Rede sein. Größere Reserven an arbeits- bzw. kampffähigen Männern gab es in der Heimat keine mehr. Von den 20- bis 30jährigen waren im Sommer 1941 schon 85 Prozent unter den Soldaten. Es herrschte schwerer Arbeitskräftemangel, so daß Hunderttausende ausländische Zwangsarbeiter – Polen, Tschechen, französische Kriegsgefangene – schon vor dem Überfall in Landwirtschaft und Industrie eingesetzt waren.

Die Kriegsindustrie arbeitete auf vollen Touren, wenn auch von einem undurchsichtigen Behördendschungel mehr schlecht als recht dirigiert. Schwergewicht der industriellen Rüstung lag auf der Verdoppelung und Modernisierung der Panzerwaffe und auf der Ausrüstung für die zehn motorisierten Infanteriedivisionen. Neue Kapazitäten und Firmen traten dem Kartell der Panzerproduzenten bei (MAN, Alkett, Daimler-Benz und andere), die unter Walter Rohland (Vereinigte Stahlwerke) im »Hauptausschuß Panzerwagen und Zugmaschinen« vereinigt waren. Das hielt man für das Nötigste, zumal in den höchsten Kreisen die Rede davon war, daß die russische Tankwaffe »respektabel« und zahlenmäßig die »stärkste der Welt«, aber in der »Masse alt« sei (Hitler).

In die Flugzeugproduktion wurden Unsummen an Investitionen gesteckt; mit der nach Plan vierfach zu vergrößernden Flugzeugarmada rechnete man aber erst nach »Barbarossa«, für den zukünftigen »Kampf gegen Kontinente« (Hitler), in erster Linie gegen die US-amerikanische Rüstungsmacht.

Aus diesen Tatsachen ist zu schließen, daß die Rüstungsanstrengungen den militärischen Planungen für »Barbarossa« und für Nach-»Barbarossa« durchaus entsprachen und die gegebenen Möglichkeiten annähernd ausschöpften. Für Hitlers Großplanungen würden sich, so die Kalkulation, nach dem »schnellen« Sieg wirtschaftliche Ressourcen in unbegrenzter Fülle auftun, die voraussichtlich Großbritannien zum Einlenken, das heißt zu einer »Teilung der Welt« unter deutscher Führung nötigen und den USA die Lust zum Kriegseintritt nehmen würden.

Kriegführung und Ideologie

»Barbarossa« sei »Hitlers Krieg«, Krieg überhaupt das Arkanum des »Führers« gewesen – darin besteht die Quintessenz unzähliger Geschichts- und biographischer Werke. Das ist freilich nicht die ganze Wahrheit. Zweifellos war Hitlers Rolle im Zweiten Weltkrieg die eines angemaßten und seit den deutschen Erfolgen 1940 von der Masse seiner Anhänger auch gläubig anerkannten Kriegsherrn und Feldherrn, der in schauerlicher Hybris einen hervorragenden Platz im Pantheon der Geschichte beanspruchte. Seine Weltanschauung war kein originäres Produkt, sondern ein mörderisches Gemisch von seit Jahrzehnten virulenten rassistischen, besonders antisemitischen Lehren, von barbarischem Chauvinismus und – seit dem Ersten Weltkrieg – von haßerfülltem Revanchismus und Antibolschewismus.

Diese Ideologie, bei Hitler und seinen Parteigängern in konzentriertester Ausprägung vorhanden, war in erheblicher Breite in der deutschen Gesellschaft anzutreffen. Besonders die Militärkaste war traditionell mit ihr vertraut. Es war kein Wunder, daß auch sie in ihrer Mehrheit in der UdSSR einen ihr vorbestimmten Feind sah. Diese Kaste bezog im Krieg unzählige Truppenverbände und einfache Soldaten in die faschistischen Verbrechen ein. So lebt der Streit um die angeblich »saubere Wehrmacht« bis heute fort.

* Aus: junge Welt, 22. Juni 2011


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