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Gedächtnislücken beim Gedenken an den Zweiten Weltkrieg

Der 65. Jahrestag des Großen Sieges über Faschismus wurde in den GUS-Staaten, im Baltikum und in Georgien unter neuen Bedingungen begangen

Von Gennadi Bordjugow *

Der 65. Jahrestag des Großen Sieges über Faschismus wurde in den GUS-Staaten, im Baltikum und in Georgien unter neuen Bedingungen begangen.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion entstanden nicht nur neue unabhängige Staaten, sondern auch neue Grenzen. Einige hatten bereits postsowjetische bunte Revolutionen und erste Kriege mit den früheren sowjetischen Republiken durchgestanden. Die Militär- und Wirtschaftskonflikte zeugen davon, dass rasant ein neues geopolitisches System entsteht, das nicht mit einer eindeutigen Dominanz eines Landes unter den neu gebildeten Staaten zusammenhängt. Als einer der wichtigsten Faktoren bei der Erhaltung und Entwicklung der geistigen und materiellen Werte der Nation gilt der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg.

Vor fünf Jahren, kurz vor dem 60. Jahrestag des Sieges, wurde ein „Krieg der Denkmäler", „Krieg des Gedächtnisses" sowie die Versuche, die Rolle der Sowjetunion im Krieg herabzusetzen, bei der Planung der Feierlichkeiten mitberücksichtigt. Heute, fast 20 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion, gibt es trotz zahlreicher Prognosen mehr Möglichkeiten, um eine Einheit und Einigung zum Siegestag und dem „Raum des Gedächtnisses" zu erreichen. Dieser Raum kennt keine Grenzen und Nationalitäten und hat einen höheren Stellenwert als die jetzigen Umstände und die politische Konjunktur.

Bislang hat niemand geschafft, den 9. Mai dem Nationalismus und dem Ethnozentrismus zu opfern. Die künftigen Historiker werden deren Zeugnisse feststellen. Der Siegestag ist in vielen GUS-Staaten ein offizieller Feiertag. Um die Veteranen wird sich stark im sozialen Bereich gekümmert (Wohnsektor, medizinische Versorgung, Finanzbereich). Wo der Staat keine Unterstützung vorsieht, wirken andere Hebel.

In Georgien werden die Veteranen vom Bund der russischen Landsleute „Otschisna" (Vaterland) und vom Internationalen Wohlfahrtfonds „Nadeschda" (Hoffnung) zur Kur geschickt. In Tadschikistan unterstützen verschiedene Organisationen jeden Frontkämpfer. Zum zweiten Mal veranstaltet die lettische Gesellschaftsorganisation „9may.lv" die Aktion „Hilf den Veteranen" - sammelt Spenden, kauft Geschenke. Kurzum: Die Gesellschaft übernimmt die staatlichen Verpflichtungen (Kinder, Enkel, Urenkel der Veteranen).

Eines der anschaulichsten Merkmale der tiefen Verwurzelung dieses Feiertages sind neue Traditionen, besonders diejenigen, die aus der Gesellschaft kommen. So schwappte die in Russland entstandene Aktion „Georgsband" auf Georgien, Moldawien, Weißrussland, Tadschikistan, viele Regionen der Ukraine über. Kurz vor dem Siegestag startete in Kiew das internationale Projekt „Kraniche ziehen". An diesem Projekt nahmen mehr als 1000 Jugendliche teil. Sie befassten sich mit historischen Recherchen, besuchten Kriegsschauplätze, kümmerten sich um die Soldatengräber und schrieben die Erinnerungen der Veteranen auf.

Daraus enstand ein einzigartiges Archiv aus Dokumenten der Kriegsteilnehmer. Die Aktionen „Gedächtnis des Herzens", veranstaltet von der internationalen Stiftung Russki Mir (Russische Welt), und das „Frontalbum" von RIA Novosti stellen die Schicksale der Frontsoldaten vor.

Militärparaden fanden in 61 Städten Russlands, fünf Städten in der Ukraine, in den weißrussischen Städten Brest und Minsk statt. Am 9. Mai marschierten die zusammengesetzten Bataillone der GUS-Staaten, die einst zusammen gegen den Faschisten gekämpft hatten, auf dem Roten Platz. An der Siegesparade nahmen Aserbaidschan, Armenien, Weißrussland, Kasachstan, Kirgisien, Tadschikistan, Turkmenistan, Moldawien und die Ukraine teil.

Dieser Feiertag bleibt ein wichtiger Faktor in den internationalen Beziehungen. Doch das Echo auf den „Krieg der Denkmäler" lässt einen nicht kalt: Saakaschwili ließ in der georgischen Stadt Kutaissi ein sowjetisches Kriegsdenkmal sprengen. In Usbekistan wurde ein Denkmal für die gefallenen sowjetischen Soldaten durch ein Denkmal für die usbekische Armee ersetzt.

Moldawiens Übergangspräsident Mihai Ghimpu schlug eine Einladung zu den feierlichen Veranstaltungen in Moskau aus, weil er nach eigener Aussage darin keinen Sinn als Verlierer sieht (sein Großvater war Soldat der rumänischen Armee). Man kann sich vorstellen, was 70.000 Soldaten verschiedener Nationen auf dieses verantwortungslose Verhalten gegenüber der Gefallenen gesagt hätten, die ihr Leben bei der Befreiung Moldawiens opferten.

Die beste Antwort für die zweifelnden, komplexbeladenen Staatsführer sind die Worte des lettischen Präsidenten Valdis Zatlers: „Einfach stehen und die feierlichen Veranstaltungen verfolgen, ist schon ein Zeichen des Respekts vor dem Nachbarstaat und seinen Leiden. Man darf keine Politik aus den Ereignissen vor 65 Jahren machen. Wir müssen sehen, was wir in Zukunft schaffen werden. Laut unserer Position muss jeder Staat die Leiden eines anderen Volkes respektieren."

In Russland wollte man nie den gemeinsamen Sieg aus dem öffentlichen Leben verbannen. Das wird auch in Zukunft nicht geschehen. Deswegen steht es in den russischen Geschichtslehrbüchern, welche Verluste jede sowjetische Republik erleiden musste. Nur einige Zahlen:
  • Von 700.000 Aserbaidschanern, die an der Front kämpften, kam die Hälfte ums Leben.
  • Armenien schickte 600.000 Soldaten an die Front, 175.000 wurden getötet.
  • In Georgien wurden 700.000 Soldaten mobilisiert, über 300.000 kamen ums Leben.
  • Abchasien schickte 55.000 Soldaten in den Krieg, 17.000 fielen.
  • In Kasachstan gingen 1,2 Millionen Soldaten an die Front. Fast die Hälfte davon kam nicht mehr zurück.
Im Großen Vaterländischen Krieg nahmen rund 1,5 Millionen Usbeken teil. Etwa 400.000 Moldawier und 40.000 Esten kämpften gegen den Faschismus.

Die Völker Russlands, der Ukreine und Weißrusslands leisteten einen großen Beitrag zum Sieg. Sie mussten die größten Opfer erleiden.

Ewiges Gedenken an die Gefallenen im Krieg. Eine tiefe Verbeugung vor allen Veteranen.

Zum Verfasser: Gennadi Bordjugow ist Leiter des Internationalen Rats bei der Assoziation der Forscher der russischen Gesellschaft, Mitglied des Expertenrats der RIA Novosti.

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

* Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 12. Mai 2010; http://de.rian.ru



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