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Der Mord an den Juden: Jenseits aller Vorstellungskraft

Vor 65 Jahren wurde auf der Wannsee-Konferenz beraten, wie der Massenmord ausgeweitet werden könne

Von Prof. Dr. Kurt Pätzold *

Das Gewässer am Rande Berlins, in dessen vornehmen Westen, wurde während des Gerichtsverfahrens mehrmals genannt. Zuerst erwähnte den Wannsee der frühere preußische Minister Karl Severing, als Zeuge in den Saal 600 des Nürnberger Justizpalastes gerufen: Er habe sich in dessen Nähe im Jahr der Errichtung der Nazidiktatur in einem kleinen jüdischen Sanatorium versteckt gehalten. Der Angeklagte Baldur von Schirach, ehemals Reichsjugendführer, kam auf den See zu sprechen, als er berichtete, dass dort Angehörige der Marine-Hitlerjugend ausgebildet worden sind. Und der Angeklagte Hans Fritzsche, einst Leiter der Rundfunkabteilung im Reichspropagandaministerium, sagte aus: Mit anderen Abteilungsleitern sei er am Abend des 21. Juni 1941 in die nahe dem See gelegene Villa von Josef Goebbels gerufen worden, wo sie über den bevorstehenden Einfall in die Sowjetunion unterrichtet worden wären.

Die Namen der Täter

Von jenem Gebäude, das kurz Wannsee-Villa genannt wird und heute eine Gedenkstätte beherbergt, war die Rede nicht. Das Geschehen des 20. Januar 1942, später als »die Wannsee-Konferenz« bezeichnet, lag da noch im Dunkeln. Niemand auf der Anklagebank des Hauptkriegsverbrecherprozesses gehörte zu ihren Teilnehmern. Und nur einer der Zeugen hatte zu den geladenen Staatssekretären gehört: Josef Bühler aus der »Regierung des Generalgouvernements«, der Mann, der jahrelang auf der Krakauer Burg an der Seite des Angeklagten Hans Frank, der am Galgen endete, geherrscht hatte. Indes gab es keinen Hinweis, der seine Befragung auf das Ereignis hätte richten können, das etwas mehr als vier Jahre zurücklag.

Jedoch fielen im Gerichtssaal in anderen Zusammenhängen die Namen nahezu aller Teilnehmer der Sitzung, die ihresgleichen nicht besitzt, am häufigsten der des Einladenden, Reinhard Heydrich. Den hatten Angehörige eines Kommandos tschechischer Widerstandskämpfer 1942 in den Straßen von Prag bei einem Anschlag tödlich verletzt. Sodann der von Adolf Eichmann, des Leiters jener Abteilung im Reichssicherheitshauptamt, deren spezieller Auftrag darin bestand, die Deportation der europäischen Juden zu ihren Mördern zu organisieren. Eichmann war zu diesem Zeitpunkt untergetaucht, unerkannt befand er sich noch in Deutschland. Über seine Rolle wurde mehrfach gesprochen. Sie war durch die Aussagen zweier SS-Offiziere, die ihn persönlich kannten, am 3. Januar 1946 exakt beschrieben worden. Genauer noch als der Amtsgruppenchef Otto Ohlendorf, den die US-Amerikaner mit der letzten Gruppe der zum Tode Verurteilten 1951 in Landsberg henkten, kannte ihn Dieter Wisliceny, Eichmanns Duzfreund und Untergebener, der an einem Galgen in Bratislava endete, wo er zuvor gemeinsam mit den dortigen Antisemiten über Jahre die Judendeportation vorangetrieben hatte.

Bevor diese beiden aussagten, war Eichmanns Name im Anklagevortrag des Majors Walsh aufgetaucht, der eine eidesstattliche Erklärung eines anderen Experten aus Heydrichs Apparat vorlegte. Wilhelm Höttl hatte von seinem Komplizen Angaben erfahren, die ihn die Zahl der getöteten Juden auf sechs Millionen schätzen ließ: vier Millionen in Lagern, zwei Millionen auf andere Weise, vor allem von Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei auf sowjetischem Boden. Wisliceny, sich ebenfalls auf Eichmann berufend, sprach von vier bis fünf Millionen Ermordeten.

Dass der Gerichtshof der vier Mächte das später Holocaust genannte Verbrechen marginal behandelt hätte, ist eine Legende, üble Nachrede. Dennoch ging der Nürnberger Prozess zu Ende, ohne dass jene Besprechung am Wannsee in den Blick kam, die aus den Geschehnissen auf der Ebene der Schreibtischtäter grausig herausragt. Wie auch? Anklage und Urteil gründeten sich vor allem anderen auf Dokumente, deren Masse aus dem Beutegut stammte, das den Alliierten in Deutschland in die Hände gefallen war. Auf die »Wannsee-Konferenz« fehlte 1946 noch jeder Hinweis. Der und mehr war gefunden, als für die Anklagen in den sogenannten Nachfolge-Prozessen in Nürnberg weiter nach Beweisen gesucht wurde, die Aufschluss über den Tatanteil von Personen gaben, die der Kriegs- und Menschheitsverbrechen verdächtigt wurden.

Robert M. W. Kempner, der aus Deutschland geflohene jüdische Demokrat, nun in der Anklagevertretung der USA arbeitend, hat die Geschichte der Auffindung jenes Dokuments knapp geschildert, das häufig als Protokoll dieser Konferenz bezeichnet wird, bei dem es sich aber um eine Niederschrift über deren Verlauf handelt. Sie war von Eichmann aufgrund seiner Notizen erstellt worden, die er während der Sitzung angefertigt hatte. Nahezu zwei Jahrzehnte vergingen, bis deren Verfasser, in Israel angeklagt, seine Sicht auf die Entstehung des Dokuments schilderte und bestätigte, dass sein höchster Vorgesetzter, Heydrich, es autorisiert hatte. Als »Geheime Reichssache« deklariert, hatten es die Teilnehmer erhalten. Wie viele Exemplare 1942 das Reichssicherheitshauptamt verließen, blieb unbekannt.

Das im März 1947 entdeckte Dokument stammte aus den Beständen des Auswärtigen Amtes, dessen Unterstaatssekretär Martin Luther an der Konferenz teilgenommen hatte. Als Kempner von dem Fund telefonisch erfuhr, ließ er ihn augenblicklich nach Nürnberg in sein Büro und auf seinen Schreibtisch bringen. Der Mann, der seit Jahren unglaubliche Nachrichten als wahr hatte erkennen müssen, bekannte in seinen Erinnerungen, dass er trotz alledem bis dahin eine Veranstaltung wie diese nicht für möglich gehalten hatte.

Am 20. Januar 1942 hatten in der Villa am See SS-Generale und -Offiziere mit anderen Staatsbeamten aus Reichsministerien und ihnen gleichgestellten Einrichtungen beraten, wie der bereits in Gang gebrachte Massenmord an den europäischen Juden ausgeweitet werden könnte, was dabei zu bedenken, was zu tun, was zu unterlassen wäre. Das erklärte Ziel war die restlose Ausrottung des europäischen Judentums. Ausgeschlossen, dass jemand den Ort verlassen hätte, ohne zu wissen, welchem Vorsatz er da zugestimmt hatte. Und doch hat jeder der nach 1945 verhörten Teilnehmer gerade das, seine ausdrückliche oder stillschweigende Billigung, also seine Mitwirkung, zu bestreiten gesucht.

Kempners Rat

Freilich: Nicht alle der einst Anwesenden standen noch zur Verfügung. Heydrich war tot, SS-Gruppenführer Heinrich Müller, Eichmanns unmittelbarer Vorgesetzter als Amtschef der Geheimen Staatspolizei, blieb unauffindbar. Roland Freisler, Staatssekretär im Reichjustizministerium und bekannter noch als der Vorsitzende des Volksgerichtshofes, war bei einem Bombenangriff umgekommen. Alfred Meyer, Staatssekretär im Ministerium für die eroberten Gebiete der UdSSR, nahm sich das Leben. Luther, in Ungnade gefallen und in ein KZ gebracht, starb bei Kriegsende. Der Kommandeur von Mördergruppen auf sowjetischem Gebiet, Rudolf Erwin Lange, kam bei Kämpfen in Posen um. Doch die anderen Teilnehmer konnten befragt werden, und das taten Kempner und, soweit es zu Anklagen kam, Anwälte der Anklage und Richter. Davon existieren Wortprotokolle, aus denen die Jämmerlichkeit der Auftritte der Befragten spricht. Zuerst besaßen sie keinerlei Erinnerung. Dann, als ihnen die Niederschrift mit ihren Namen vorgehalten wurde, gaben sie vor, nicht verstanden zu haben, wovon die Rede war. An Aussiedlung und Ansiedlung hätten sie geglaubt. Judenmord, davon waren ihnen nur Gerüchte zu Ohren gekommen. Angewidert riet Kempner dem einen: »Gehen Sie mit sich zu Rate« oder verabschiedete einen anderen mit den Worten: »Ein früherer preußischer Staatssekretär steht zu seinen Sachen.«

Von den Teilnehmern der Wannsee-Konferenz, die nach 1945 Anklagen vor Gerichten zu gewärtigen hatten, starb der Staatssekretär in der Reichskanzlei, Friedrich Wilhelm Kritzinger, bevor es zu einem Prozess kam. Eberhardt Schöngarth, zuletzt Chef der Sicherheitspolizei in den besetzten Niederlanden, verurteilte ein britisches Militärgericht schon 1946 zum Tode und ließ die Strafe vollstrecken. Staatsekretär Bühler wurde nach Polen ausgeliefert, dort angeklagt, zum Tode verurteilt und hingerichtet. Im Prozess, den die USA gegen Führer des Rasse- und Siedlungs-Hauptamtes der SS 1947 in Nürnberg durchführten, erhielt Otto Hofmann, dessen einstiger Chef, 25 Jahre Haft ausgesprochen, die später auf zehn Jahre verkürzt wurden, die er nicht vollständig verbüßen musste. Der Staatsekretär im Reichinnenministerium Wilhelm Stuckart gehörte zu den Angeklagten im so- genannten Wilhelmstraßen-Prozess; die geringe ihm zugesprochene Strafe von drei Jahren war mit der Untersuchungshaft abgesessen. Georg Leibbrandt, leitender Mitarbeiter im Ostministerium, entging der Bestrafung ganz; sein Verfahren wurde eingestellt.

Unbehelligt blieb Erich Neumann, Staatssekretär Görings in dessen Eigenschaft als Chef der Vierjahresplanbehörde. Auch Gerhard Klopfer, der für die NS-Parteikanzlei an der Sitzung teilnahm, wurde nie vor ein Gericht gestellt. Die späte Todesannonce in einer Zeitung, die ihn Wohltäter nannte, erregte Proteste.

* Aus: Neues Deutschland, 20. Januar 2007


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