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Politik bei Strandgesprächen

Austausch über Ukraine-Krise bei Feiern zum 70. Jahrestag der Landung in der Normandie

Von Ralf Klingsieck, Paris *

70 Jahre nach Landung der Alliierten in der Normandie, mit der die letzten Monate im Kampf gegen Hitlerdeutschland begannen, fanden am Freitag bei Caen bewegende Gedenkzeremonien statt.

An den Gedenktreffen in der Normandie nahmen Staats- und Regierungschefs von 19 Ländern – 18 Mitglieder der Antihitlerkoalition sowie Deutschland – teil. Anwesend waren auch rund 1000 Veteranen, die seinerzeit an der Landung teilgenommen hatten und deren Erinnerungen umso wertvoller sind, als es für die meisten von ihnen aufgrund ihres Alters das letzte Mal sein dürfte, dass sie an einer solchen Gedenkfeier teilnehmen. Den Höhepunkt bildete nach einem gemeinsamen Mittagessen der Staats- und Regierungschefs zusammen mit Veteranen im Schloss Bénouville am Nachmittag eine Gedenkfeier am Strand von Ouistreham, bei der Präsident François Hollande das Wort ergriff.

Beim Essen waren rechts und links vom Präsidenten die britische und die dänische Königin platziert und dann auf der einen Seite US-Präsident Obama und auf der anderen der russische Präsident Wladimir Putin, die wegen ihrer gegenwärtigen Differenzen um die Ukraine nicht zusammentreffen wollten. Die französischen Gastgeber hatten aber Salons im Schloss vorbereitet, falls es den Wunsch nach informellen Gesprächen gibt. Tatsächlich kam es vor dem Essen auf Initiative von Hollande zu einem viertelstündigen Gespräch zwischen Putin und dem ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko, an dem auch Kanzlerin Angela Merkel teilnahm. Putin und Poroschenko sollen sich für ein Ende der Kämpfe in der Ostukraine ausgesprochen haben. Es gab auch ein kurzes Gespräch Obamas mit Putin.

Merkel und Putin waren am Vormittag in Deauville zu einem bilateralen Austausch zusammengetroffen, das nach Angaben aus deutschen Delegationskreisen rund eine Stunde dauerte. Merkel, so hieß es, habe den russischen Präsidenten aufgefordert, alles in seiner Macht Stehende für eine Stabilisierung der Lage in der Ukraine zu tun. Nach der international anerkannten Präsidentenwahl in der Ukraine müsse Russland seiner großen Verantwortung gerecht werden.

Auf den Tribünen am Strand von Ouistreham hatten 7000 offizielle Gäste, darunter die ehemaligen französischen Präsidenten Valérie Giscard d'Estaing und Nicolas Sarkozy, sowie 2000 französische und ausländische Kriegsveteranen oder Teilnehmer am antifaschistischen Widerstandskampf Platz genommen. Auf dem zu einer Riesenbühne umgestalteten Strand wurde von 2000 Darstellern die Landung der Alliierten am 6. Juni 1944 nacherlebbar gemacht und in ihren historischen Zusammenhang gestellt. Die Bilder der Schau hatten »Das besetzte Europa«, den »Längsten Tag«, den »Langen Marsch bis zur Befreiung« und die »Wege zu Frieden und geeintem Europa « zum Inhalt. Dabei wurde daran erinnert, wie in der Nacht vom 5. zum 6. Juni 1944 in dieser bedeutenden Militäroperation des zweiten Weltkriegs zunächst 800 Flugzeuge 13 000 Fallschirmjäger hinter den deutschen Linien absetzten und dann mit 1200 Kriegsschiffen und 5700 Landungsbooten mehr als 130 000 Soldaten an fünf Stränden abgesetzt wurden. Beteiligt waren US-Amerikaner, Briten, Kanadier und andere Angehörige des Commonwealth, auch eine französische Marineinfanterie- Einheit. Insgesamt hatten die Alliierten am 6. Juni rund 10 000 Tote, Vermisste und Verletzte. Bei der Landung fanden zudem etwa 20 000 Zivilisten an der normannischen Küste den Tod durch Bomben alliierter Flugzeuge, die deutsche Militäranlagen und Verkehrsinfrastrukturen zerstören sollten, die aber nur zu oft auch Häuser von Anwohnern trafen. An sie erinnerte am Freitag in der ersten Zeremonie Präsident Hollande vor dem Memorial von Caen.

Hollande würdigte unter dem Beifall der Staats- und Regierungschefs die großen Opfer und den gewaltigen Anteil der Sowjetunion am Sieg über den Faschismus.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 7. Juni 2014


Panzerkrieg am D-Day

70. Jahrestag der Landung der Alliierten in der Normandie: Putin spricht mit Merkel, Obama und Poroschenko. Kiew verstärkt Truppen und Belagerung von Städten in Ostukraine

Von Rüdiger Göbel **


Wer hat wem die Hand geschüttelt, wer mit wem wie lange gesprochen? Während die Kameras der Weltmedien auf US-Präsident Barack Obama, Kanzlerin Angela Merkel, Rußlands Staatschef Wladimir Putin und dessen designierten ukrainischen Amtskollegen Petro Poroschenko bei der D-Day-Gedenkfeier in der Normandie gerichtet waren, hat die ukrainische Armee auf die Stadt Slowjansk eine Panzerattacke gestartet. Größere mediale Aufmerksamkeit hat der Vorstoß am Freitag nicht erregt, doch das liegt im Trend der Nichtberichterstattung hierzulande über den Krieg im Osten der Ukraine.

Erstmals seit der zwei Monate andauernden Konfrontation im Donbass zwischen der ukrainischen Armee und den Gegnern der Kiewer würden Panzer eingesetzt, meldete die russische Agentur RIA Nowosti unter Verweis auf die »Volksmilizen«. Um Slowjansk seien bis zu 80 Panzer positioniert worden. Die ukrainische Armee habe sowohl Kontrollposten der Kiew-Gegner als auch Wohnviertel und das Stadtzentrum unter Artilleriebeschuß genommen, unter anderem auch mit Mehrfachraketenwerfern »Grad«. Die ukrainische Armee bestätigte, daß sie um Slowjansk und Kramatorsk Kampfpanzer in Stellung gebracht hat, ohne genaue Zahlen zu nennen.

Infolge des ununterbrochenen Beschusses durch die Kiewer Truppen – zuletzt auch mit Kampfflugzeugen – ist mittlerweile etwa die Hälfte der 130000 Einwohner aus Slowjansk geflohen. Nach Angaben der Kiewer Regierung sollen seit Dienstag mehr als 300 »Separatisten« getötet worden sein. Die Nachrichtenagentur Reuters meldete derweil am Freitag lapidar, »Slowjansk arrangiert sich mit Kämpfen und leeren Regalen«. Im Stadtzentrum müßten viele Familien ohne fließend Wasser auskommen, weil beim Beschuß eine Hauptleitung getroffen worden sei. Frische Lebensmittel wie Milch und Fleisch seien in den Läden der belagerten Stadt nicht mehr zu bekommen, dafür verkauften sich Koffer und Batterien »in der Krise gut«.

Zu verantworten hat die »Strafoperation« im Osten Petro Poroschenko. Der »Schokoladenkönig« genannte Oligarch hatte nach seinem Sieg bei der Präsidentenwahl am 25. Mai ein »härteres Durchgreifen« angeordnet. Rückendeckung für seine »Antiterroroperation« erhält er von den USA und von der Europäischen Union. Zum offiziellen Amtsantritt an diesem Samstag reisen Bundespräsident Joachim Gauck, US-Vizepräsident Joe Biden und EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy nach Kiew. Rußlands Präsident Putin wurde ausdrücklich nicht eingeladen, Moskau wird aber auf Botschafterebene vertreten sein.

Dafür haben sich Putin und Poroschenko am Freitag am Rande der Feiern zum 70. Jahrestag der Landung der Alliierten in der Normandie getroffen. Im Zuge eines kurzen Gesprächs hätten sich beide »für ein Ende des Blutvergießens im Südosten der Ukraine und auch für ein Ende der Kampfhandlungen auf beiden Seiten ausgesprochen«, zitierte die russiche Agentur Interfax einen Kreml-Sprecher. Putin und Poroschenko hätten betont, daß es keine Alternative zur Lösung der Krise mit »friedlichen politischen Mitteln« gebe. Poroschenkos TV-Kanal berichtete derweil von einem Friedensmarsch in Kiew, der ein Ende des Blutvergießens im Donbass forderte.

Kanzlerin Merkel habe Putin »ermahnt«, meldete dpa aus den einstigen Schlachtfeldern der Normandie, er müsse seiner »Verantwortung in der Ukraine-Krise gerecht werden«. Und weiter: »Merkel begegnete Putin mit ungewohnt ernst wirkendem Gesichtsausdruck, zeitweise mit demonstrativ hochgezogenen Augenbrauen und einem strengen, ermahnend wirkenden Blick.« Kurzer Austausch auch zwischen Putin und Obama, aber, »eisige Blicke, kein Handshake für die Kameras«, so Spiegel online.

** Aus: junge Welt, Samstag, 7. Juni 2014


Ukrainer auf der Flucht

Zehntausende suchen in Russland Sicherheit

Von Irina Wolkowa, Moskau ***


In der von Regierungstruppen und Separatisten umkämpften Ostukraine sind Hunderttausende Menschen ohne Wasser.

Über 33 000 Menschen aus der Ostukraine suchten am Donnerstag in Russland Schutz vor Bomben und Granaten. Mehr als 8000 registrierten allein die inzwischen etwa 50 Notaufnahmelager im südrussischen Gebiet Rostow am Don, das im Westen an das ukrainische Kohlerevier von Donezk grenzt. Gouverneur Wassili Golubew rief bereits in 15 Landkreisen den Notstand aus. Denn die meisten der Ankömmlinge besitzen nur noch das, was sie auf dem Leibe tragen. Sie brauchen Nahrung, Trinkwasser, Hygieneartikel, Medikamente. Und viele auch einen Psychologen. Bei den Geschichten, die sie erzählen in den Bussen, die auf der russischen Seite der Grenze warten, beißen selbst krisenfeste Berichterstatter die Zähne zusammen.

Von »Präzisionsschlägen« der ukrainischen Armee, bei denen nicht nur Häuser, sondern auch Krankenhäuser und Kindergärten in Flammen aufgehen, erzählen die Erschöpften. Und wie zuerst der Strom ausfiel, dann das Trinkwasser. Weil bei den Kämpfen eine Leitung beschädigt wurde, sind fünf Städte von der Versorgung abgeschnitten, darunter Slawjansk und Kramatorsk mit jeweils mehr als 100 000 Einwohnern. Tankwagen, die der Zivilschutz schickt, kommen unregelmäßig, in das heiß umkämpfte Slawjansk gar nicht mehr. Ganze Familien machen sich inzwischen auf den Weg, mit Fuhrwerken oder gar zu Fuß, bei mörderischer Hitze, über Schleichwege, durch die baumlose Steppe.

Die ukrainische Nationalgrade – sie besteht vor allem aus Paramilitärs des ultranationalen Rechten Sektors – hat die Grenze mehr oder minder hermetisch abgeriegelt. Angeblich, um das Einsickern von Freiwilligen zur Unterstützung der pro-russischen Selbstschutzkräfte zu verhindern. Sie ließen sogar eine notdürftig wieder flott gemachte Notfallambulanz mit dem acht Monate alten Shenja Jesekjan erst beim zweiten Anlauf passieren. Er ist permanent auf eine Lungenmaschine angewiesen und konnte daher am 30. Mai, als das Krankenhaus von Slawjansk bombardiert wurde, nicht einmal in den Schutzkeller gebracht werden. Inzwischen kämpfen Ärzte in Rostow um sein Leben. Meldungen über seinen Zustand verfolgt ganz Russland über den Nachrichtenkanal Rossija 24.

Dutzende Freiwillige sind unterwegs nach Südrussland, Familien dort haben sich spontan bereit erklärt, Flüchtlinge privat aufzunehmen und zu versorgen, bis staatliche Hilfsprogramme greifen. Das Außenamt in Moskau versucht unterdessen, Kiew von der Notwendigkeit eines zeitlich befristeten humanitären Korridors zu überzeugen, damit die Zivilbevölkerung wie im Bosnienkrieg die Krisenregion sicher verlassen kann. Die Interimsregierung sieht jedoch keinen Handlungsbedarf. Es gäbe keine Flüchtlingsströme, einschlägige Meldungen seien Desinformation, so Außenamtssprecher Jewgeni Perebeinis bei Radio Echo Moskwy.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 7. Juni 2014


Neuer Kalter Krieg

Nach der Warschauer Rede von US-Präsident Barack Obama warnt der Bundesvorsitzende der NaturFreunde Deutschlands, Michael Müller, vor einem neuen Kalten Krieg:

US-Präsident Barack Obama läuft Gefahr, mit seinen Drohungen die Welt in einen neuen Kalten Krieg zu führen. Seine Warschauer Rede und die Zurschaustellung militärischer Stärke ist genau das Gegenteil einer Politik der Entspannung und der Zusammenarbeit, für die Barack Obama den Friedensnobelpreis bekommen hatte.

Europa braucht keine Scharfmacherei und keine neue Phase der Aufrüstung und Militarisierung der Konflikte, sondern politische Lösungen. Die rhetorische Steigerung von Drohungen und die Warnungen der NATO setzen eine Eskalation in Gang (…).

Es gibt keinen Grund, die Aggressivität und Gewalt der sogenannten prorussischen Separatisten in der Ukraine zu verteidigen. Allerdings kann deren Vorgehen nicht generell und undifferenziert Rußland und dabei insbesondere Wladimir Putin angelastet werden. (...)



Mini-G8 in der Normandie

Olaf Standke über die Gespräche bei den D-Day-Feiern in Frankreich ****

USA-Präsident Barack Obama und sein russischer Amtskollege Wladimir Putin sind sich bei den D-Day-Feiern auf Schloss Bénouville am Freitag weitgehend aus dem Weg gegangen. Zählt man aber ansonsten die bekannt gewordenen Gespräche des Kreml-Chefs zusammen, erlebte die Normandie während der Feiern zum 70. Jahrestag der Alliierten-Landung eine Art Mini-G8 – selbst eine Begegnung zwischen Putin und dem designierten ukrainischen Staatschef Petro Poroschenko, der heute in Kiew sein Amt antreten wird. »Völlig normal« hätten sich beide unterhalten.

Das alles macht durchaus Hoffnung. Noch wichtiger allerdings wäre, wenn ein Dialog jenseits bloßer Sanktionsdrohungen schnell in konkrete Vereinbarungen zur Lösung der Krise in der Ukraine münden würde. Denn dort hat sich im von Regierungstruppen und Separatisten umkämpften Landesosten die Lage dramatisch zugespitzt. Hunderttausende Menschen sind inzwischen bei großer Hitze ohne Wasser, Zehntausende auf der Flucht Richtung Russland. Beobachter nennen die Konfliktregion ein humanitäres Krisengebiet; Moskau fordert die Einrichtung eines Hilfskorridors, um der Zivilbevölkerung in Not beizustehen. Kommt es in den nächsten Tagen zu den zwischen Putin und Poroschenko vereinbarten Verhandlungen über einen Waffenstillstand, hätte die Inszenierung von Bénouville tatsächlich einen ersten konkreten Nutzen.

**** Aus: neues deutschland, Samstag, 7. Juni 2014 (Kommentar)


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