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Die letzte Alternative

Geschichte. Am 23. August 1939 wurde der deutsch-sowjetische Nichtangriffsvertrag unterzeichnet

Von Kurt Pätzold *

Als Berliner Agenturen die Nachricht verbreiteten, Außenminister Joachim von Ribbentrop werde einer Einladung nach Moskau folgen und dort einen deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag unterzeichnen, hatte Europa eine Sensation und mehr als das. Wer hatte sich bis dahin vorstellen können, daß ein deutscher Regierungspolitiker dieses Staates und dieses Ranges auch nur sowjetischen Boden betreten würde. Allenfalls ein paar optimistische Antikommunisten, die ihn sich in ihren Wunschvorstellungen an der Seite des »Führers« auf Napoleons Spuren zu denken vermochten, im eroberten Moskau den Kreml und seine Schätze besichtigend. Aber als Gast? Einen Mann, der einer Politikergruppe führend angehörte, die im Bolschewismus, der mal als marxistisch, mal als jüdisch bezeichnet wurde, alle Quellen des Unheils auf dem Erdball erblickte und wieder und wieder zur gemeinsamen Abwehr dieser angeblichen Weltgefahr aufforderte? Einen Abgesandten jenes Führers, der beginnend mit seinem Buch »Mein Kampf« und von da an ohne Unterlaß, vor allem auf den alljährlichen Parteitagen der NSDAP, verleumderische, haßerfüllte Reden an Moskau gerichtet und erklärt hatte, einzig mit diesem Staat wolle er keine Beziehungen herstellen? Perfekt aber machten die Sensation erst der Zeitpunkt der Reise und der politische Hintergrund, vor dem sie angetreten wurde.

Die Europäer lebten in einer Vorkriegskrise, verursacht und unausgesetzt verschärft durch die Machthaber des faschistischen Deutschland, das das Nachbarland Polen zuerst mit Ultimaten herausforderte und dann offen mit Krieg bedrohte. Im Reich waren die Vorbereitungen für den Überfall in vollem Gange, wenn auf sie auch viele der sogenannten Volksgenossen mit dem Glauben reagierten, Hitler werde die Entwicklung wie im Jahr zuvor am Rande des Krieges entlang und auch dort zu seinen Zielen steuern. Das war ein Köhlerglaube. Der Oberste Feldherr hatte seinen Generalen schon Monate zuvor erklärt, eine Wiederholung der Abläufe gegen die Tschechoslowakei werde es nicht geben, sondern es werde diesmal zum Kriege kommen. Und je früher das geschehe, um so gewisser seien die Erfolge der Wehrmacht. Der Spätsommer 1939 sei der zu bevorzugende Termin für den Beginn des Angriffs. Die Generale wußten aus dem Munde des Führers auch, daß es nicht, wie die Propaganda behauptete, um »Danzig« und einen unkontrollierten Landzugang nach Ostpreußen gehe, sondern um Eroberungen, die zu Lebensfragen der deutschen Nation erhoben und verfälscht worden waren.

Schon die Nachricht vom bevorstehenden Vertragsabschluß zwischen dem Deutschen Reich und der UdSSR hatte zweierlei klargemacht. Die sich seit Monaten hinziehenden, ergebnislos verlaufenden Verhandlungen zwischen den Militärdelegationen Frankreichs, Großbritanniens und der Sowjetunion mußten als gescheitert gelten. Die Regierungen der beiden Westmächte hatten trotz des durch Deutschlands Kriegsvorbereitungen ausgeübten Zeitdrucks nichts unternommen, um dem Aggressor auch nur ein abschreckendes Signal entgegenzusetzen. Das hätte nur darin bestehen können, daß Deutschland für den Fall des Angriffs auf Polen die sofortige Auslösung des Kriegszustands durch die drei europäischen Großmächte angekündigt worden wären.

Und – zweitens – war unbezweifelbar, daß sich die deutsche Führung dazu entschlossen hatte, auf einen Angriff gegen Polen und dessen Unterwerfung nicht die Ausweitung des Krieges gegen die UdSSR folgen zu lassen. Sie hatte die Reihenfolge ihrer Eroberungszüge in Europa erkennbar anders bestimmt, denn es ergab keinen Sinn, zwei oder drei Wochen vor einer militärischen Auseinandersetzung – nach Ablauf dieser Frist würde die Wehrmacht allen Berechnungen zufolge an der sowjetischen Grenze stehen – mit dem zu überfallenden Staat einen Nichtangriffsvertrag abzuschließen. Schon dessen Ankündigung machte die Situation überschaubarer, weil einfacher, aber sie bot keinerlei Grund für eine Beruhigung oder gar für Hoffnungen auf eine Verminderung der Kriegsgefahr.

Das Sankt-Florians-Prinzip

Seit in Deutschland die Faschisten an der Staatsmacht waren, mit ihnen die aggressivste Fraktion der Imperialisten und Revanchisten, und in Europa zwei in der Achse Berlin-Rom verbündete, auf kriegerische Eroberungen ausgehende Staaten existierten, hatte sich auf dem Kontinent eine Anzahl von Entwicklungsmöglichkeiten abgezeichnet. Die für seine Bewohner zuträglichste bestand darin, der Bedrohung eine Abschreckungs- und Abwehrfront entgegenzusetzen, in einem geläufigen Bilde ausgedrückt, dem Fuchs die Trauben so hoch zu hängen, wie sie der Fuchs in Äsops Fabel vorgefunden hatte. Diese Front brauchte ein Gerüst. Das konnten am ehesten die drei nichtaggressiven Staaten Frankreich, die Tschechoslowakei und die Sowjetunion abgeben, die auch über die stärksten militärischen Kräfte geboten.

Die zweite Möglichkeit bestand darin, die beiden auf Krieg und Landraub ausgehenden faschistischen Mächte bei ihren Hochrüstungen gewähren zu lassen und darauf zu vertrauen, daß sich ihr Aggressionspotential eines Tages nicht vor der eigenen Tür oder im eigenen Lande, sondern am besten fernab von dessen Grenzen entladen werde. Also, um es noch einmal in einem gebräuchlichen Bild auszudrücken, auf das St.-Florians-Prinzip zu vertrauen, das sich in der Bitte an den Heiligen ausdrückt, das eigene Haus zu verschonen und das anderer anzuzünden. Dieses Verhalten ist stark risikobehaftet, denn der Bittsteller weiß nicht, wie sich Florian und, um in die Geschichte zurückzukehren, wie sich Hitler und Mussolini entscheiden werden. Tatsächlich aber verhielt sich eine ganze Anzahl europäischer Klein- und Mittelstaaten in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre genau so. Wenige Jahre später waren sie in Besatzungszonen der deutschen und italienischen Eroberer verwandelt.

Die dritte Möglichkeit läßt sich als eine Abwandlung des St.-Florians-Prinzips bezeichnen. Die sie praktizierten, verlegten sich nicht nur aufs fromme Bitten und Hoffen, sondern suchten das Unheil durch Gaben und Spenden abzuwenden, nicht auf Altären, sondern direkt an jene, von denen es zu fürchten war, um diese so dazu zu bewegen, ein Haus weiter zu ziehen. Das war die Politik, für die sich zuerst, und dann mit Werbeerfolg, herrschende Kreise Großbritanniens entschieden. Ihr erstes Geschenk bestand im Abschluß des sogenannten Flottenvertrages im Juni 1935, der ein weitgehender und einseitiger Widerruf der Bestimmungen von Versaille gegen den Verlierer des Ersten Weltkriegs war und dem Deutschen Reich eine maritime Rüstung zugestand, welche die Leistungsfähigkeit von dessen Werften auf Jahre hinaus überstieg.

Dieses Abkommen war ein prompter Sabotageakt an der im Monat zuvor zustande gekommenen politischen Annäherung Frankreichs, der Tschechoslowakei und der Sowjetunion. Sie richtete sich darauf, daß die Tschechoslowakei sich gegenüber jeder Aggression behaupten können solle, bot aber eine ausbaufähige Grundlage für weitergehende, vor allem die militärischen Kräfte eng verbindende defensive Vereinbarungen. Alle sowjetischen Bemühungen zur Fortführung dieser Politik der kollektiven Sicherheit erwiesen sich jedoch als vergeblich, als die französische Regierung im Schlepptau Großbritanniens die Wendung hin zur Politik des Münchner Abkommens vom September 1938 unternahm. Deren Opfer wurde eben jener Staat, den die Maiverträge von 1935 hatten schützen wollen.

Antisowjetische Kalküle

Schon in dieses Konzept der Befriedigung des Aggressors durch Zugeständnisse spielte nicht nur das Kalkül des Zeitgewinns, sondern es spielte auch Spekulationen und Hoffnungen hinein, es werde sich der Expansionsdrang des deutschen Aggressors nach Osteuropa, gegen die Sowjetunion entladen. Die Münchner Politik, und das war keines ihrer bloßen Nebenergebnisse, hatte die UdSSR, die seit 1933 unter dem Außenminister Maxim Litwinow gleichsam nach Europa zurückgekehrt war, nicht nur erneut vom Tische politischer Beratungen und Entscheidungen verwiesen, sondern sie gleichzeitig isoliert.

Diese Erfahrung hielt die Sowjetunion indessen nicht davon ab, nach dem Scheitern der Appeasementpolitiker, augenfällig geworden durch den Einmarsch der Wehrmacht am 15. März 1939 in Prag und die Liquidierung der Tschechoslowakei, augenblicklich noch einmal eine Reanimierung der Politik der kollektiven Sicherheit zu versuchen. Das hatte nicht weiter als bis zu den erwähnten Verhandlungen mit den Militärdelegationen aus Paris und London geführt. Sie boten, je länger sie sich hinzogen, umso weniger Aussicht, den Frieden noch zu behaupten bzw. dem Aggressor mit überlegenen Kräften entschlossen entgegenzutreten und ihn in einem kurzen Krieg zu bezwingen.

Die Bilanz der Sowjetunion las sich im Sommer 1939 so: Ihre Mittel zur Schaffung einer den Frieden sichernden europäischen Koalition hatten sich erschöpft, mit ihrem Projekt war sie in mehreren Anläufen gescheitert, und sie fand sich gleichzeitig isoliert. In diese Lage hatte nicht sie sich gebracht, dahin war sie infolge der Politik kapitalistischer Staaten gebracht worden, woran die Großmächte in Westeuropa den hauptsächlichen, aber nicht den alleinigen Anteil besaßen. Auch Polen hatte daran mehr als eine Aktie.

Das war der Moment, in dem die Führung des Deutschen Reiches, die das Stottern und Stolpern der Militärverhandlungen verfolgt hatte, in Moskau nicht nur ihr Interesse an verbesserten Wirtschaftsbeziehungen bekundete, sondern auch zu erkennen gab, daß sie einen Wechsel der politischen Beziehungen beider Länder erstrebe. Je länger der Kreml auf dieses Ansinnen einer bestimmten politischen Antwort auswich oder sich ihr verweigerte, umso drängender wurden die mündlich und schriftlich vorgetragenen Initiativen der deutschen Diplomatie, in die mit einer Botschaft schließlich auch Hitler eingriff.

Nutzen und Nachteil

Die letzte Alternative der sowjetischen Außenpolitik war im Grunde keine mehr. Denn sie bestand darin, sich aus eigenem Entschluß jeder politisch-diplomatischen Einflußnahme auf die Geschehnisse am Vorabend des Krieges zu verweigern und den Dingen ihren Lauf zu lassen oder auf die deutsche Offerte einzugehen. Tertium non datur. Abzuwägen waren Nutzen und Nachteil der Annahme des deutschen Vorschlags. Die Interessen der faschistischen Machthaber lagen zutage: 1. Sie konnten hoffen, daß dieser Abschluß ihnen den Weg in einen separaten Krieg mit Polen eröffnete, weil er in Großbritannien und Frankreich Kräfte stärken würde, die sich fragten, ob es lohne, »für Polen zu sterben«. 2. Sie konnten sich mit der Stabilisierung der deutsch-sowjetischen Beziehungen einen wirtschaftlichen Vorteil errechnen, zumal, wenn der Krieg sich gegen Frankreich und Großbritannien ausweitete, Handelsverbindungen in erheblicher Zahl unterbrochen werden würden. Dann mußten die mit der UdSSR zusätzlich an Gewicht gewinnen und ebenso die über deren Territorium verlaufenden Transitwege aus fernen asiatischen Staaten. 3. Sie könnten den Vertrag propagandistisch ausbeuten und als Beweis dafür ausgeben, daß sich »der Führer« nicht, wie 1914 das Kaiserreich, blindlings in einen Zweifrontenkrieg gestürzt habe, sondern ihn zu verhindern wußte. Denn mit einem Widerstand der polnischen Armee wurde allseits nicht über einen Zeitraum von zwei bis drei Wochen hinaus gerechnet.

Und die eigene Bilanz des Kreml sah so aus: 1. Mit dem Vertrag waren die Aussichten auf eine verlängerte Friedensphase, die das Land am nötigsten brauchte, gewachsen. Wie viele Monate oder Jahre sie umfassen würde, war offen und hing vom Verlauf des Krieges ab, der auf den Schlachtfeldern Westeuropas ausgetragen werden würde. Scheiterten die Faschisten dort, oder wurden sie nachhaltig geschwächt, konnte das bedeuten, daß die Sowjetunion auf längere Zeit von einer kriegerischen Bedrohung befreit wäre. Gewiß war nur, daß kein noch so großer Erfolg der deutschen Eroberer im Westen sie von dem Plan abbringen würde, ein großes Kolonialreich im Osten des Kontinents zu errichten. 2. Der bevorstehende Krieg würde nicht ohne Auswirkungen auf die wirtschaftliche Situation der UdSSR bleiben. Dies wiederum mußte Folgen auch für ihre Verteidigungsindustrie haben. Daraus erwuchs Moskau ein zusätzliches Interesse am Wirtschaftsaustausch mit dem Deutschen Reich, der nun freilich und unvermeidlich auch dem Partner und dessen Kriegsabsichten diente. 3. Es ließ sich durch den Vertragsabschluß ein regelmäßiger Kontakt nach Berlin herstellen. Angesichts des Interesses der deutschen Machthaber an einer rasch vollzogenen Übereinkunft ergab sich so die Chance, ihnen mit diesem Schritt Zugeständnisse abzuhandeln.

Das Abkommen vom 23. August 1939 war nicht Resultat einer im Kreml ausgeheckten Strategie, sondern geradezu das Gegenteil dessen, was die Außenpolitiker und Diplomaten sich zum Ziel ihrer Politik gesetzt hatten, nämlich die Aggressoren in die Schranken zu verweisen. Diese Arbeit hatte unter Litwinow ganz dem Geist entsprochen, den zu Lenins Zeiten das Dekret über den Frieden atmete. Das hat Antikommunisten verschiedenster Couleur schon beim Vertragsabschluß, dann aber verstärkt seit dem Beginn des Kalten Krieges nicht gehindert, gerade dieses Abkommen, als Hitler-Stalin-Pakt markiert, zum Komplott zweier Diktatoren zu erklären, von denen der eine den Krieg gewollt und der andere ihm dafür grünes Licht gegeben habe. Verantwortung und Schuld werden so für den Zweiten Weltkrieg auf die »totalitären Regimes« verteilt, und es wird ein verlogenes Geschichtsbild geliefert, mit dem das ungestillte Bedürfnis nach antikommunistischen Argumenten befriedigt werden kann. Eine der dreistesten Fälschungen dieses Typs verbreitet das Deutsche Historische Museum Berlin im Internet. Die Tatsachen auf den Kopf stellend wird geschrieben: »Mit der Unterzeichnung waren die britisch-französischen Bestrebungen, die Sowjetunion in eine ›Große Allianz‹ gegen das nationalsozialistische Deutschland einzubinden, gescheitert.« München, wohin sich die Ministerpräsidenten aus London und Paris in persona begeben hatten und unter absichtsvollem Ausschluß der UdSSR den Pakt mit Hitler und Mussolini schlossen, hatte es demnach nie gegeben. Dann folgt die Erfindung, der Vertrag von Moskau habe Hitler den »Überfall auf Polen ermöglicht«, einen Schritt, den Hitler bei keinem seiner Vorträge vor den Militärs von irgendeiner Haltung der Sowjetunion oder auch der Westmächte abhängig gemacht hatte. Mit Bezug auf den 23. August verfechten die Schreiberlinge des Museums die These vom »nun beschlossenen Krieg« gegen Polen.

Die Vorkämpfer der antikommunistischen Ausplünderung des Moskauer Vertrages haben vor Jahren schon den Plan gefaßt, diesen 23. August zu einem Gedenktag für die Opfer von »Stalinismus und Nationalsozialismus« zu machen, der europaweit begangen werden sollte. Der spätere Bundespräsident Joachim Gauck zählte 2008 gemeinsam mit dem Tschechen Vaclav Havel und vielen Abgeordneten des Europäischen Parlaments zu den Hebammen bei dieser Entbindung, die sich jedoch als eine Fehlgeburt erweisen sollte. Nicht immer und überall gehen Spekulationen auf der Grundlage von geschichtlichem Unwissen auf. Denn der Versuch, die Vertragsunterzeichnung, mit der die Sowjetunion in einer unverschuldeten Zwangslage den ihr verbliebenen Weg zur Erhaltung des Friedens für eine unbekannte Zeitdauer, und nur für ihre eigenen Bürger ging, in eine Teufelei zu verfälschen, hat weithin doch nicht verfangen können. Es wird an diesem 23. August 2014 – unterschrieben wurde übrigens erst kurz nach Mitternacht, also am Tag des 24. Augusts – wie an jedem Sommerwochenende hierzulande eine Vielzahl von Veranstaltungen geben, Events, Konzerte und in der Berliner Waldbühne wieder eine Aufführung der »Zauberflöte«. Und die sich zum Besuch entschließen, werden da auch Taminos Klage hören »So ist denn alles Heuchelei!«, eine Wendung, die sich auch auf die aktuellen Interpretationen münzen ließe, die dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag gelten, der vor einem Dreivierteljahrhundert geschlossen wurde.

Das »Zusatzprotokoll«

Als Ribbentrop und seine Begleitung Moskau verließen, in Königsberg, dort schon von der Naziprominenz gefeiert, einen Zwischenstopp einlegten und dann nach Berlin gelangten, führten sie ein zweites diplomatisches Papier im Gepäck mit. Es trug die Überschrift »Zusatzprotokoll«, und mit dieser Bezeichnung wird es bis zum heutigen Tag in der Geschichtsschreibung bedacht. Dabei ist sie mehr irreführend als kennzeichnend. Das Schriftstück enthielt keine zusätzlichen oder konkretisierenden Erklärungen zum Nichtangriffsvertrag, sondern stellte vielmehr eine eigene Abmachung dar, weit über ein übliches Abkommen dieses Typs hinausgehend. Es grenzte die osteuropäischen Interessensphären der Unterzeichner voneinander ab, die sich deren gegenseitiger Respektierung versicherten. Es sah für den bevorstehenden »Fall einer territorial-politischen Umgestaltung der zum polnischen Staat gehörenden Gebiete« – im gemiedenen Klartext also für den »Fall« – daß das Deutsche Reich Polen überfiel, bekriegte, besiegte und besetzte, vor, daß deutsche Truppen dann nicht dessen gesamtes Territorium okkupierten, sondern dessen Ostteil der Sowjetunion überließen. Das betraf jenes von Polen, Belorussen, Ukrainern und Juden bewohnte, einst zum Zarenreich gehörende Gebiet, das im wesentlichen jenem glich, auf das der junge Sowjetstaat im Frieden von Riga 1921 aufgrund seiner militärischen Schwäche hatte verzichten müssen. Es verstand sich, daß die Geheimhaltung dieses Papiers vereinbart worden war.

Denn: Über Inhalt und Konsequenzen dieses Vertrages konnte es keine Zweifel geben. Die deutschen Eroberer würden das von ihnen eroberte polnische Gebiet nicht anders behandeln als die böhmischen und mährischen Lande der einstigen Tschechoslowakei, die sie demagogisch zu ihrem Protektorat erklärt hatten, in Wahrheit aber doch als eine Art von Kolonie betrachteten. Die im weiteren Text gegebene Ankündigung: »Die Frage, ob die beiderseitigen Interessen die Erhaltung eines unabhängigen polnischen Staates erwünscht erscheinen lassen und wie dieser Staat abzugrenzen wäre, kann endgültig erst im Laufe der weiteren politischen Entwicklung geklärt werden«, fällt unter die Kategorie diplomatische Kosmetik. So hatten dem Geiste nach auch die kapitalistischen Kolonialmächte über Millionen Menschen in Afrika und Asien entschieden.

Das »Zusatzprotokoll« war eine Abmachung über die Teilung Polens, mit der Besonderheit, daß sie nicht nach einem gemeinsam gegen den Staat geführten Krieg erfolgen würde. Der kriegerische Eröffnungszug lag beim Deutschen Reich. Erfolgte der und verlief, wie zu erwarten, trat die Sowjetunion in Aktion. Das erste geschah am 1. September 1939, das zweite folgte am 17. Tage des deutschen Eroberungszuges. Sowjetische Truppen überschritten die Ostgrenze Polens. Dieser Akt bedeutete nicht nur einen klaren Völkerrechtsbruch, er stand nicht nur im Widerspruch zu allen Erwartungen, welche Millionen Menschen weltweit in dieses Land als Gegner der faschistischen Mächte gesetzt hatten – ihm haftete auch ein Geruch von Leichenfledderei an. Wer die Fotografien von den Begegnungen deutscher und sowjetischer Offiziere auf polnischem Boden sah, die sich über Verlauf und Einhaltung der vereinbarten Demarkationslinie verständigten, mochte seinen Augen nicht trauen. Und es war dieser Schritt von keiner der beiden Seiten unter Zwang gegangen worden, etwa deshalb, um damit eine unerläßliche Voraussetzung für den Erhalt des Nichtangriffsvertrages herzustellen. Das beiderseitige Interesse an dem Abkommen war in diesem Moment europäischer Entwicklungen und ungeachtet der im ganzen entgegengesetzten Politik und Pläne vom Deutschen Reich und UdSSR stark genug, den Abschluß zu bewirken. Jedenfalls hätte der Kreml ihn angesichts des dringenden Interesses der deutschen Machthaber, die sich von ihm einen separaten Krieg gegen Polen versprachen, auch ohne die Entgegennahme dieses ausgehandelten Danaergeschenks erhalten können. Seine Machthaber mögen sich von der Vereinbarung der Interessengrenze den Vorteil versprochen haben, sich den nach wie vor ungeliebten Nachbarn, der ihnen nun bald so nahe rücken würde, daß sie eine gemeinsame Landgrenze besaßen, ein wenig ferner gehalten zu haben. Daß ihnen und der UdSSR daraus ein Gewinn erwuchs, läßt sich bestreiten.

* Aus: junge Welt, Samstag 23. August 2014

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