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"Wir kapitulieren nie!"

März 1945: Die deutsche Westfront bricht zusammen. Die Nazis bieten sich als "Bollwerk gegen Bolschewismus" an

Von Arno Klönne *

»Fest steht und treu die Wacht am Rhein« – im März 1945 erwies sich dieser Gesang aus wilhelminischen Zeiten als Farce. Nachdem die Ardennenoffensive als letztes militärisches Abenteuer des »Dritten Reiches« rasch gescheitert war, rückten die Truppen der westlichen Alliierten auf deutsches Territorium vor, an der »Ostfront« war der Vormarsch der Roten Armee längst nicht mehr aufzuhalten. Anfang März kamen die linksrheinischen deutschen Regionen und Städte in alliierte Hand, so auch Köln. Am 7. März überquerte die US Army die Brücke von Remagen. Bis Ende des Monats mussten die Wehrmacht Koblenz, Mainz, Mannheim, Ludwigshafen und Frankfurt am Main aufgeben. Die Zielrichtung bei den militärischen Operationen der Westalliierten war auch durch die Absicht bestimmt, bei der künftigen Einrichtung von Besatzungszonen im Norden und in der Mitte Deutschlands der Sowjetunion möglichst wenig Terrain zu überlassen. Im Süden ging es darum, das Projekt einer deutschen »Alpenfestung« zu vereiteln – dabei handelte es sich allerdings eher um einen propagandistischen Bluff der Naziführung.

»Verbrannte Erde«

Im März 1945 stand die völlige militärische Niederlage bevor, das konnten die politische Spitze und die Generalität Nazideutschlands vor sich selbst nicht mehr verbergen – außer in Stunden wahnhafter Selbsttäuschung. Es ging ihnen nun darum, ihre Herrschaft und womöglich auch ihre physische Existenz noch für eine Weile abzusichern, was in völliger Rücksichtslosigkeit gegenüber den Lebensinteressen der Masse der Bevölkerung geschah. »Kampf bis zum letzten Mann« wurde befohlen, man kommandierte alte Männer und Jugendliche im »Volkssturm« in den Tod und provozierte die Zerstörung von Städten durch alliierte Bomben. Der Terror richtete sich nun auch nach innen: Wer nicht mehr mitmachen wollte und die weiße Fahne zeigte, sich »defaitistisch« verhielt, wurde standrechtlich exekutiert. Gleichzeitig mordeten die Faschisten in den Konzentrationslagern und Zuchthäusern weiter und schickten die Internierten auf Todesmärsche. Ein Inferno im Untergang, der um den Preis unzähliger Opfer um weitere Wochen verzögert wurde.

Hitler selbst ordnete an, bei den deutschen Rückzügen sei flächendeckend »verbrannte Erde« zu hinterlassen. Er rechnete zu dieser Zeit, vor der Öffentlichkeit verborgen, nicht mehr mit einem rettenden »Wunder«, sondern bereitete sich den Abtritt vor. Die Durchhalteappelle dienten dem Zeitgewinn, anfallartig erlag der »Führer« zwischenzeitlich der Illusion einer Verlängerung seiner Herrschaft durch »frische Armeen«. Womöglich dachte er da aber schon an eine Rechtfertigung seines Abgangs durch Suizid: Das deutsche Volk habe sich der Größe seines »Führers« als nicht würdig erwiesen. So sei das »Weltjudentum« zum Sieger dieser historischen Schlacht geworden.

Marsch gegen Stalin?

Anders dachten zu dieser Zeit die meisten engen Kumpane Hitlers. Sie hegten die Hoffnung, das militärische Desaster im letzten Moment durch einen Waffenstillstand im Westen abwenden zu können. Eine neue Allianz sollte entstehen, ein kriegerisches Bündnis gegen die Sowjetunion, geschlossen von Deutschland und den Westmächten. Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop und Reichsführer SS Heinrich Himmler suchten nach geheimen Wegen, um eine solche gemeinsame »Front gegen den Bolschewismus« westlichen Politikern schmackhaft zu machen. Rüstungsminister Albert Speer wandte sich aus diesem Grunde gegen die Strategie der »verbrannten Erde«. Diesen Absichten stand aber im Wege, dass Hitler immer noch von seiner breiten Gefolgschaft als unanfechtbarer Heros angesehen wurde, und seine obersten Untergebenen wagten nicht, diese Legende in Zweifel zu ziehen, sie agierten im dunkeln bei ihren Kontaktbemühungen mit dem Westen.

Und auf der Seite der Gegner Hitlerdeutschlands? Ein Bündnis des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt und des britischen Premiers Winston Churchill mit Hitler im Marsch gegen Stalin? Das war Phantasterei. Die Westalliierten wollten genau wie die Sowjetunion eine bedingungslose und ungeteilte Kapitulation Deutschlands. Allerdings schlossen sie eine spätere Verwendung deutscher »Kampfkraft« beim »Roll back« der UdSSR nicht aus. Interessant ist, dass der Gedanke einer deutsch-nordatlantischen Militärkoalition gegen den »Bolschewismus« auch an der Spitze der »Männer vom 20. Juli« vertreten war, dort allerdings in einer Version, die den Sturz Hitlers voraussetzte. In einer geheimen Denkschrift des ehemaligen deutschnationalen Oberbürgermeisters von Leipzig, Carl Friedrich Goerdeler, vom März 1943 hieß es: »Die beiden angelsächsischen Weltreiche haben wie Deutschland ein Interesse daran, dass der Bolschewismus nicht weiter nach Westen vordringt. Nur Deutschland kann ihn aufhalten. Wenn Deutschland durch Kriegsverlust und ungünstigen Frieden geschwächt wird, dann findet der Bolschewismus leichten, vielleicht allzu leichten Weg nach Westen.«

Unter der kurzlebigen »Reichspräsidentschaft« des Admirals Karl Dönitz (Hitler hatte den systemgläubigen Mann, der sich später als »unpolitisch« darstellte, zu seinem Nachfolger erwählt) betonte der geschäftsführende Regierungschef Johann Ludwig Graf von Schwerin-Krosigk die »historischen Verdienste« Hitlerdeutschlands. In einer Rundfunkansprache von Mai 1945 erklärte er, der Kampf gegen die Sowjetunion sei auch in Zukunft notwendig, das Deutsche Reich habe diesen jahrelang »unter Aufbietung seiner letzten Kraft geführt«, als »Bollwerk Europas und damit zugleich der Welt gegen die rote Flut«. Das sorgte für eine gewisse Selbstzufriedenheit bei den vielen Mittätern und Funktionsträgern des »Dritten Reiches«, die nach dessen Untergang alles andere als »Bewältigung der Vergangenheit« im Sinn hatten; der Kapitulation ließ sich so nicht entgehen. Ein »Im Felde unbesiegt« wie anno 1918 war diesmal nicht unters Volk zu bringen.

Aus einer Radioansprache Thomas Manns vom 20. März 1945

Die Fortsetzung des Krieges durch Deutschland über die Niederlage hinaus bis zur Vernichtung hat nichts mit Heroismus zu tun, sondern ist in der Tat ein Verbrechen – begangen am deutschen Volk durch seine Führer. Der selbstmörderische Kampf des Volkes ist nicht freiwillig, sondern wird durch moralischen und physischen Terror von ihm erpresst – von Machthabern, die ihm vorspiegeln, es verblute für seine Ehre und Selbsterhaltung, während es in Wirklichkeit sein letztes und mehr als sein letztes an das Überleben der Schurken setzt, die es in diesen Krieg getrieben haben und die um keinen Preis abdanken wollen, auch nicht um den Preis des völligen Ruins Deutschlands. Im Gegenteil: Sie ketten Deutschlands völligen Ruin, der keineswegs im Interesse Europas und der Welt liegt, an ihren eigenen Untergang und wollen auf diese Weise die Sieger zwingen, mit ihnen Frieden zu machen (…).

Insbesondere sind es die westlichen, die angelsächsischen Völker, die sie damit zu erschüttern und zu ködern suchen, denn sie taufen den heillosen Zustand, in den sie Deutschland zu versetzen drohen, auf den Namen des »Bolschewismus« und suchen so den verlorenen Zweifrontenkrieg, den Deutschland ihnen verdankt, in einen Krieg gegen Russland allein zu verwandeln. Am Rhein, lassen sie wissen, werden sie die Waffen niederlegen, wenn man sich mit ihnen verständigt, und alles, was ihnen an Kampfkraft bleibt, im Osten konzentrieren, um das ihnen so teure Europa vor dem »Bolschewismus« zu bewahren. Kurzum, ihre Hoffnung ist, die demokratischen Mächte zum Verrat an ihrem sozialistischen Verbündeten bereden zu können – einen Verrat, für dessen Infamie ihnen jedes Verständnis abgeht und der ihnen ganz natürlich scheint.

Aus einer Rundfunkrede von Thomas Mann, aufgenommen in den USA, gesendet von der BBC am 20. März 1945. – Quelle: Thomas Mann: »Deutsche Hörer! Fünfundzwanzig Radiosendungen nach Deutschland«, Leipzig 1970, S. 140 ff.




* Aus: junge Welt, Samstag, 28. März 2015


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