Ort des Schmerzes
Am 10. Juni 1944 zerstörte die SS-Division "Das Reich" das französische Dorf Oradour und ermordete 642 Einwohner. Die Täter blieben bis heute größtenteils unbehelligt
Von Florence Hervé *
Oradour im Jahr 2014 umgibt eine trügerisch idyllische Landschaft. Der Frühling bricht an in der lieblichen, grünen, hügeligen und an Seen reichen Gegend im Nordwesten des Zentralmassivs. Die Ruinen des alten Dorfes sind überwuchert von Efeu. Kaum ein paar hundert Meter davon entfernt liegt das neue, in den 50er Jahren entstandene Oradour, ein Durchgangsstädtchen mit grauen Häusern. Zwischen dem alten und dem neuen Ort ragt eine Statue des katalanischen Künstlers Apel-les Fenosa hervor, gewidmet den »Märtyrern Oradours«: eine schwangere Frau, die, von Flammen umzingelt, zugleich wie Phönix neu entsteht. Das Centre de la mémoire, das Zentrum der Erinnerung, verbindet das neue Dorf mit den Ruinen des alten Dorfes. Das Mahnmal Oradour ist inzwischen Nationalmonument. Dutzende von Bussen aus ganz Frankreich halten hier täglich, Schulkinder tosen und lärmen bei ihrem Ausflug an diesem Frühlingstag.
Wer sich in den frühen Morgenstunden in die Ruinen begibt, erlebt noch die Stille. Eine Todesstille. Oratorium, Ort des Gebets, hieß der Ort vor langer Zeit. Oradour heute, das sind Häuser, die kein Dach mehr haben. Das sind Straßenbahnschienen, die nirgendwohin führen. Da sind kahle Oberleitungsmasten, verrostete Nähmaschinen, Kinderwagen, Fahrräder und Autowracks, die nicht mehr gebraucht werden. Sie erzählen von damals, vor dem 10. Juni 1944, an dem die Zeit stehenblieb in Oradour. Das friedliche Dorf im grünen Limousin wurde von der SS-Division »Das Reich« in Schutt und Asche gelegt, 642 Menschen wurden ermordet, grausam und grundlos. Kommandeur der Division war Heinz Lammerding aus Nordrhein-Westfalen. Einen Tag zuvor hatte er 99 Geiseln an Laternen in Tulle hängen lassen.
Oradour war damals ein lebhaftes Dorf, das von Viehzucht, Handel und Heimarbeit lebte, mit zahlreichen Handwerkern und Näherinnen und mit vier Schulen – darunter eine für die nach dem Anschluß an Nazi-Deutschland 1940 aus Lothringen geflüchteten Kinder. Es war ein Ort der Zuflucht, in dem etwa hundert Flüchtlinge aus verschiedenen Regionen lebten. Und es war ein Ausflugsort, an den die Städter – vor allem mit der Straßenbahn aus dem nahen Limoges – sonntags zum Fischen und zum Schlemmen kamen, mit einem Dutzend Gaststätten und Cafés, in denen kein Kaffee, sondern Rotwein getrunken wurde. In dem Café du Chêne an der Dorfeiche haben die Männer Kegel gespielt. Die Eiche, Baum der Freiheit genannt, war 1848 von der Bevölkerung aus Freude über die junge Zweite Republik gepflanzt worden. Oradour war für lange Zeit eine kleine Idylle. Bis die SS-Panzerdivision Verwüstung, Zerstörung und Tod brachte.
Nach der Landung der Alliierten am 6. Juni 1944 hatte die Division »Das Reich« Südfrankreich in Richtung Limoges und Tulle verlassen. Ihr Auftrag war, in die Normandie zu gelangen und auf dem Weg dorthin in größtmöglichem Ausmaß Kräfte der Résistance zu vernichten. Sie wütete nach dem im Osten erprobten Szenario: Dörfer wurden eingeschlossen, die Verwaltungsgebäude besetzt und die Bevölkerung auf einem öffentlichen Platz zusammengetrieben. Anschließend begannen die Plünderungen, Morde, Brandstiftungen und Deportationen. Angesichts der Stärke der Résistance im Limousin hatte der SS-General Heinz Lammerding ein sofortiges und rücksichtsloses Zuschlagen im Zentralmassiv befohlen: »Die Division säubert den Raum rasch und nachhaltig von den Banden«, gab er vor. In einem Dutzend Dörfer im Südwesten Frankreichs wurde entsprechend der Vorgabe »gesäubert«. Zudem sind zahlreiche Morde und Vergeltungstaten an der Zivilbevölkerung dokumentiert. So war es auch in Oradour-sur-Glane. Bataillonsführer Adolf Diekmann ordnete an, den Ort niederzubrennen, und alle Menschen, vom Säugling bis zum Greis, zu vernichten. Und das Morden begann.
Die Männer wurden in Scheunen und Garagen getrieben, mit Maschinengewehren erschossen und die Scheunen dann angezündet. Der damals verwundete Robert Hébras konnte mit vier Freunden aus einer brennenden Scheune fliehen. Auch die alte Kirche Saint-Martin, in der etwa 481 Frauen und Kinder eingeschlossen waren, wurde niedergebrannt, der Kirchturm gesprengt. Marguerite Rouffanche entkam dem Massaker als einzige Frau. Die damals 47jährige konnte aus einem der drei Fenster springen. Sie verlor Mann und Sohn, beide Töchter und ihren sieben Monate alten Enkel. Später, als Zeugin bei Oradour-Prozessen, erzählte sie, wie SS-Soldaten eine Kiste in die Kirche stellten und deren Schnüre anzündeten, und wie die erstickenden Frauen und Kinder versuchten, in die Sakristei zu flüchten. Damit waren die späteren schamlosen Behauptungen der SS-Schergen, der Revisionisten und alten Nazis widerlegt, wonach die Partisanen selbst die Kirche gesprengt hätten.
Als ich an diesem Frühlingstag an den Kirchenruinen stehe, liest ein Schulmädchen aus dem Bericht der Marguerite Rouffanche vor; die zuvor lärmenden Schulkinder sitzen nun schweigend an der Freiheitseiche. In der Kirche verbrannten auch Denise Bardet und alle Mädchen ihrer Klasse. Die Lehrerin wollte an jenem 10. Juni ihren 24. Geburtstag zu Hause feiern. In ihrem Tagebuch, 2002 posthum erschienen, hatte sie geschrieben: »Man darf die Nazibarbarei nicht mit Deutschland gleichsetzen. Man muß Börne, Büchner, Heine in Frankreich lesen, um zwischen dem unsterblichen Deutschland und seinen Herren für einen Tag unterscheiden zu können.« Und sie nannte Namen wie Thomas Mann, Bertolt Brecht, Heinrich Mann und Anna Seghers, »die Hoffnung und Hymne der Zukunft bedeuten«. Hoffnungsvolle Worte waren das. Die barbarischen Naziverbrechen wurden allerdings im Nachkriegsdeutschland kaum juristisch verfolgt.
Ungesühnte Verbrechen
So sind die Kriegs- und Menschheitsverbrechen von Tulle und Oradour – abgesehen von wenigen Ausnahmen – bis heute ungesühnt geblieben. Prozeßschwierigkeiten in Frankreich, zumal zwangsrekrutierte Elsässer mit angeklagt waren, sowie Verzögerungen und die Verhinderung von Ermittlungen und Urteilen in Westdeutschland kennzeichnen den Umgang der Justiz mit den Massakern. Nun, fast 70 Jahre nach dem Massaker, gibt es Ermittlungen gegen den inzwischen 88jährigen Werner C., die von den letzten Überlebenden Oradours mit einer gewissen Skepsis verfolgt werden.
Ob es einen Prozeß gegen den einstigen Angehörigen der SS-Division gibt oder nicht, ist dem gleichaltrigen Automechaniker und Überlebenden des Massakers Robert Hébras eigentlich egal. Er will nur die Wahrheit erfahren. »Ich bitte ihn nicht darum, sich zu entschuldigen«, sagt Hébras, »ich möchte nur Ehrlichkeit«. 2013 besuchte ihn der Dortmunder Staatsanwalt Andreas Brendel zum Fall Werner C. – neun Stunden dauerte die Befragung am ersten Tag, sechs Stunden das zweite Mal. Hébras möchte verstehen, was damals geschah, warum seine Mutter und seine Schwestern in der Kirche verbrennen mußten. Er lacht bitter über die Aussagen der bisher Angeklagten. »Offensichtlich will keiner der Soldaten etwas gesehen oder hinter dem Maschinengewehr gestanden haben. Aber woher kommen dann die 642 Toten?«, sagt er.
Die damals 18jährige Jacqueline Pinède konnte sich mit ihren Geschwistern unter der Eingangstreppe eines Hauses im Dorf verstecken und entkam dem Massaker. Ihre Eltern und ihre Großmutter wurden ermordet – als Israeliten waren sie aus dem baskischen Bayonne vor den Nazis geflüchtet und hatten Zuflucht in Oradour gefunden: »Was ändern die Ermittlungen?«, fragt die heute 88jährige. »Deutschland hat für uns, für die Überlebenden und die Angehörigen der Opfer, nichts getan. Das Ganze kommt jetzt zu spät.« Camille Senon, eine weitere Hinterbliebene, die die deutschen Ermittlungen früher hätte erleben wollen, sieht in ihnen dennoch »eine bedeutende Geste« und »einen Erfolg«. Die bald 90jährige begleitet in ihrem Rollstuhl immer wieder Schüler beim Besuch der Dorfruinen und warnt vor ausländerfeindlichen und rassistischen Ideologien. Und sie erzählt ihre Geschichte.
An jenem Samstag, dem 10. Juni, kehrte Senon direkt von der Arbeit heim, im dunkelblauen Kostüm mit weißer Bluse. Sie freute sich darauf, ihren 19. Geburtstag mit der Familie in Oradour zu feiern. Die SS hielt die Straßenbahn aus Limoges etwa 200 Meter vor Oradour an und ließ die Fahrgäste erst nach zwei Stunden frei, darunter Camille Senon. Sie überlebte, verlor aber ihren Vater, ihren Großvater und mehr als ein Dutzend weitere Angehörige. Nach 1945 war Camille Senon in der Postverwaltung tätig und in der Gewerkschaft engagiert. Sie kämpfte für die Bestrafung der Täter, gegen Rechtsextremismus und für den Frieden. In ihrer Rede auf der internationalen Demonstration für die Auflösung der SS-Verbände und gegen die Rehabilitierung des Nazismus in Köln 1978 rief sie: »Niemals wieder Oradour«. Und sie demonstrierte wieder gegen die Negierung der Naziverbrechen und die Verfälschung der Geschichte, als sich ehemalige SS-Angehörige im Mai 1985 im bayrischen Nesselwang versammelten. »Ich werde weiter dafür kämpfen, daß das Massaker von Oradour eines Tages als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnet wird«, sagt Camille Senon, die unter anderem im Vorstand der »Nationalen Vereinigung der Familien der Märtyrer von Oradour« (ANFM) aktiv ist, heute. Und sie fügt gleich hinzu: »Eine Wunde blutet noch: Die Hauptverantwortlichen des Massakers wurden nicht verurteilt und konnten alle in ihren eigenen Betten sterben.« Die wenigsten standen überhaupt vor Gericht, wie der SS-Obersturmführer Heinz Barth, der 1983 in Ostberlin zu lebenslänglicher Haft verurteilt wurde. Aus Gesundheitsgründen kam er jedoch 1997 frei, 2007 starb er in seinem Geburtsort Gransee im Norden Brandenburgs. Besonders empört die Überlebenden, daß der SS-General Lammerding, der in Frankreich zweimal in Abwesenheit zum Tode verurteilt war, bis zu seinem Tod unbehelligt als Bauunternehmer in Düsseldorf wirken und leben konnte. Zu seiner Beerdigung 1971 kamen 200 ehemalige SS-Männer, Kränze der Division »Das Reich« und des SS-Veteranenverbands HIAG schmückten den Sarg.
Die rechtsextreme Entwicklung in Europa und insbesondere in Frankreich beunruhigt Camille Senon – in ihrer Heimatstadt Limoges, die seit 1912 bis zu den Kommunalwahlen Ende März ununterbrochen »sozialistisch« war, haben 17 Prozent der Menschen den rechtsextremen Front National gewählt. Es ist noch nicht lange her, daß deren damaliger Vorsitzender Jean-Marie Le Pen, dessen Tochter Marine die Partei inzwischen führt, die Nazi-Besetzung und das Verbrechen von Oradour verharmlost hat.
Radtour gegen das Vergessen
Über die offizielle Anerkennung des Massakers durch Deutschland nach beinahe 70 Jahren empfinden sowohl Camille Senon wie Robert Hébras eine gewisse Genugtuung. Der erste Besuch eines deutschen Bundespräsidenten in Oradour im September 2013 sei »eine starke Geste« gewesen, so Hébras, auch wenn sich dieser für das Massaker nicht entschuldigt habe. In seiner Rede hatte Bundespräsident Gauck erklärt, mit den Überlebenden und den Familien der Opfer die Bitterkeit darüber zu teilen, »daß die Mörder nicht zur Verantwortung gezogen wurden und daß schwerste Verbrechen ungesühnt bleiben«. Taten der deutschen Politik und Justiz sind seinen Worten bisher nicht gefolgt.
Die Aufklärung der Verbrechen von Oradour wird nach dem jahrelangen offiziellen Vertuschen und Schweigen in Deutschland noch immer mehr als zaghaft betrieben, die Informationen darüber sind spärlich. Auch dagegen arbeiten Initiativen, die auf lokaler Basis das Gedenken mit einer friedlichen Zukunft verbinden. Robert Hébras, der immer wieder couragiert als einer der letzten Zeugen des Massakers auch in Deutschland die Erinnerung am Leben hält, freut sich über die deutsch-französische Radtour von Dachau nach Oradour. »Für die Versöhnung und gegen das Vergessen« machten sich anläßlich des 70. Jahrestags des Massakers bereits am 2. Juni rund 80 Radfahrer aus Deutschland und Frankreich von der KZ-Gedenkstätte Dachau auf den Weg nach Oradour, um dort am Gedenken teilzunehmen. Die rund 1150 Kilometer lange Fahrt über sieben Etappen, die von der Stadt Dachau, dem dortigen Radfahrerverein und von der Gemeinde Oradour organisiert worden war, sei eine »symbolische Geste«, erklärt der Dachauer Amtsleiter für Kultur und Geschichte, Tobias Schneider. Dachau stehe für den Beginn des SS-Terrors, Oradour für den Höhepunkt der Grausamkeit. Unterstützt wurde die Radtour von Prominenten wie dem 78 Jahre alten Raymond Poulidor, einem der populärsten Radrennfahrer Frankreichs in den 60er Jahren, und dem gebürtigen Kölner Rolf Wolfshohl, genannt »Le Loup«, da sein Name auf Französisch schwer auszusprechen ist, ebenfalls eine Radsportlegende. Für den 76jährigen, der bereits vor anderthalb Jahren einen Kranz in Oradour niedergelegt hatte, soll mit der Fahrt »an solche Wahnsinnstaten erinnert werden«, damit sie nicht mehr geschähen. Die Tour sei ein »kleiner Beitrag für den Frieden in der Welt«. Oradour-sur-Glane, der Ort des Schmerzes, der Erinnerung und des Gedenkens, bleibt auch ein Ort der Anklage, der Mahnung und der Hoffnung auf Frieden.
Florence Hervé ist mit Martin Graf (Fotografien) Herausgeberin des zweisprachigen Buchs: Oradour – Geschichte eines Massakers – Histoire d’un massacre, erschienen im PapyRossa-Verlag Köln 2014.
Fotoausstellung zu Oradour:
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Düsseldorf im Max-Haus, Schulstr. 11, vom 27. Juni bis zum 14. September. Katholische Stadtkirche, Mahn- und Gedenkstätte, in Kooperation mit der DGB-Region Düsseldorf-Bergisch Land
Buchpräsentation mit der Autorin am 1. Juli um 19 Uhr im Max-Haus
- Essen, Deutsch-Französisches Kulturzentrum, Brigittastr. 34, vom 18. September bis zum 18. Dezember.
Weitere Infos:
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Centre de la mémoire: www.oradour.org/
- www.gedenkorteeuropa.eu
- Das Tagebuch der Denise Bardet, hg. von Gerhard Leo, Berlin 2004
* Aus: junge Welt, Samstag, 7. Juni 2014
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