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Euphemismus für zarte Ohren

Gerhard Stuby über den 150. Jahrestag der Genfer Konvention, Erwartungen an das Humanitäre Völkerrecht und eine mögliche »Einhegung« des Krieges *

Die Genfer Konvention vom 22. August 1864 zur »Verbesserung des Loses der verwundeten Soldaten im Felde« gilt als die Geburtsstunde des Humanitären Völkerrechts. Doch schon die Bezeichnung ist ein Euphemismus, hinter dem die Schrecken des Krieges verborgen werden können. Der früher übliche Ausdruck Kriegsvölkerrecht (jus in bello) gibt die Realität des Krieges genauer wieder, scheint aber für unsere heutigen, zarten Ohren zu hart zu sein.

Die Konvention ist den Aktivitäten des Schweizer Henri Dunant zu verdanken. Er hielt sich 1859 zufällig auf dem Schachtfeld von Solferino auf. Dunant war von den vielen Toten (60 000 immerhin) und noch mehr Verwundeten so erschüttert, dass er künftig seine ganze Kraft und vor aber allem sein Vermögen einsetzte, um Abhilfe zu schaffen. Es gelang ihm einige Jahre später, die eidgenössische Regierung zu veranlassen, eine Staatenkonferenz einzuberufen, auf der die Konvention verabschiedet werden konnte.

Man glaubte damals, den Krieg durch das jus in bello »einhegen«, also zähmen zu können. Das jus ad bellum war seinerzeit unbestritten: Jeder Staat hatte das souveräne Recht, Krieg zu führen. Dieser wurde erst 1928 mit dem Briand-Kellogg-Pakt und dann vor allem mit dem Gewaltverbot der Charta der Vereinten Nationen (Artikel 2, Ziffer 4) von 1945 geächtet. Seitdem ist er nur noch als Verteidigungskrieg gestattet, also nur, wenn ein Staat einem »bewaffneten Angriff« (Artikel 51) ausgesetzt ist.

Den Widerspruch, einerseits den Krieg zu ächten, andererseits ihn völkerrechtlichen Regeln zu unterwerfen, versuchen Völkerrechtler zu übergehen oder mit einer Art »Schichtentheorie« zu überbrücken. Die erste Schicht besteht im jus in bello, die zweite Schicht wird im Gewaltverbot gesehen. So können beide Regelwerke nebeneinander bestehen. Die eigentliche völkerrechtliche Botschaft kann darüber schnell übersehen werden: Jede militärische Gewaltanwendung in den internationalen Beziehungen löst keines der Probleme, die zu dem Konflikt selbst geführt haben.

Ob die immer präziser werdenden Waffen die Kollateralschaden vermeiden können (neuestes Beispiel: der Einsatz von bewaffneten Drohnen)? In Syrien, in der Ukraine und in Gaza empfinden die Betroffenen diese Auffassung sicherlich als Zynismus oder gar als Hohn. Oft ist das Ermessen der Militärs, was im Krieg zulässig ist und was nicht, sehr weit gefasst. »Wenn möglich« oder »verhältnismäßig« heißen ihre rettenden Formeln.

Dennoch sollten die Versuche nicht unterschätzt werden, dem bewaffneten Konflikt Grenzen zu setzen, sei er international (zwischen Staaten) oder nichtinternational (im Bürgerkrieg oder zerfallenden Staat), wobei die »asymmetrische« Auseinandersetzung immer größere Bedeutung erlangt. Das Netzwerk des humanitären Rechts ist in der Tat beeindruckend. Seit den Anfängen vor 150 Jahren hat es sich weiterentwickelt. Das »Genfer Recht« für Kriegsgefangene und Verwundete wurde in den Konventionen von 1948/49 mit den Zusatzprotokollen von 1977 detailliert geregelt. Hinzukommen unter anderem präzisierende Erklärungen vom Internationalen Komitee des Roten Kreuzes.

Seit der Petersburger Erklärung von 1868 zu den sogenannten Dum-Dum-Geschossen wurde von Juristen immer wieder versucht, die Kampfmittel auf das militärisch Notwendige zu beschränken. So wurde der Gebrauch bakteriologischer und biologischer (1971), Umwelt beeinträchtigender (1980) und chemischer Waffen (1993) sowie von Antipersonenminen (2008) verboten. Auch wenn man die Arbeit des Internationalen Strafgerichtshofs seit 2002 hinzunimmt, die moderne Entwicklung von Kriegswaffen überholen immer wieder alle Bemühungen zur »Einhegung« des Krieges.

Aber kann eine solche Erwartung an das Völkerrecht überhaupt erfüllt werden? Wird es nicht vielmehr zu einer unerwartet auftretenden Person, die die Lösung aller Konflikte gleich mitbringt, einem deus ex machina, stilisiert? Denn sowohl das jus in bello als auch das Gewaltverbot haben nur eine beschränkte Wirkung auf das Geschehen des Krieges. Beide sind angewiesen auf nationale und internationale Aufmerksamkeit. Das Völkerrecht enthält zwar im Kern ein Friedensprogramm. Die Umsetzung muss es aber den Akteuren überlassen, die sich diese Regeln selbst auferlegt haben.

* Gerhard Stuby lehrte am Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Bremen.

Aus: neues deutschland, Freitag 22. August 2014 (Kolumne)



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