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US-Folter-Camps: Schweizer Zeitung präsentiert neuen Beweis

Geheimpapier des ägyptischen Außenministeriums belegt: CIA-Verhörzentren in Rumänien, in der Ukraine, im Kosovo, in Mazedonien und Bulgarien

Laut der Schweizer Zeitung "SonntagsBlick" ist in einem diplomatischen Schreiben die Existenz geheimer US-Gefängnisse in Europa bestätigt worden. Das Blatt beruft sich auf ein Fax des ägyptischen Außenministeriums an die Botschaft in London, das eine Horchstation des Schweizer Geheimdienstes Mitte November 2005 abgefangen habe. Das Schreiben, das die Zeitung als Faksimile abdruckte, trägt die Überschrift: "Die Ägypter verfügen über Quellen, welche die Existenz amerikanischer Geheimgefängnisse bestätigen."



www.tagesschau.de widmet sich am Abend des 8. Januar 2006 der Affäre und zitiert ausführlich aus dem Artikel im "SonntagsBlick":
"SonntagsBlick" zitiert aus dem als geheim eingestuften Schreiben u.a.: "Die Botschaft hat aus eigenen Quellen erfahren, dass tatsächlich 23 irakische und afghanische Bürger auf dem Stützpunkt Mihail Kogalniceanu in der Nähe der Stadt Constanza am Schwarzen Meer verhört wurden. Ähnliche Verhörzentren gibt es in der Ukraine, im Kosovo, in Mazedonien und Bulgarien." Diese Information decke sich mit Berichten des Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, wonach am 21. und 22. September 2005 Gefangene mit US-Militärflugzeugen von der Basis Salt Pit in Kabul zum polnischen Stützpunkt Szymany und dem oben genannten rumänischen Stützpunkt transportiert worden seien. Laut der Zeitung schätzen Geheimdienstexperten die Arbeit der ägyptischen Nachrichtendienste als "hochprofessionell" ein.

Besondere Brisanz erhalte das Fax, weil es sich nicht einzig auf öffentlich zugängliche Quellen - wie etwa Medienberichte - beziehe, sondern sich auf eigene Informationen berufe, resümiert die Zeitung. Nachfragen der Redaktion bei der Schweizer Armee, die den Horchposten betreibt, bei der Bundesregierung in Bern oder dem ägyptischen Außenministerium seien gar nicht oder ausweichend beantwortet worden.

Auszug aus dem Artikel "US-Folter-Camps: Der Beweis!"*

Im Weltraum abgefangen, heimlich von einem Satelliten zur Erde gesandt wurde die Meldung fünf Tage vorher: am 10. November um 20.24 Uhr. Es ist ein Fax, der zwischen dem ägyptischen Aussenminister Ahmed Aboul Gheit (63) in Kairo und seinem Botschafter in London ausgetauscht wird. Der Titel, den die Schweizer Agenten über die Meldung setzen: «Die Ägypter verfügen über Quellen, welche die Existenz amerikanischer Geheimgefängnisse bestätigen.» Gemäss dem Schweizer Geheimdienst-Rapport berichten die Ägypter wörtlich: «Die Botschaft hat aus eigenen Quellen erfahren, dass tatsächlich 23 irakische und afghanische Bürger auf dem Stützpunkt Mihail Kogalniceanu in der Nähe der (rumänischen; Anm. d. Red.) Stadt Constanza am Schwarzen Meer verhört wurden. Ähnliche Verhörzentren gibt es in der Ukraine, im Kosovo, in Mazedonien und Bulgarien.» Weiter wird gemeldet, dass laut einem Zeitungsbericht die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch über Beweise verfüge, gemäss denen «am 21. und 22. September 2005 Gefangene mit amerikanischen Militärflugzeugen von der Basis Salt Pit in Kabul zum polnischen Stützpunkt Szymany und dem oben genannten rumänischen Stützpunkt transportiert worden sind». Explizit vermerken die Ägypter: «Trotz aller zitierten Tatsachen bestreiten die rumänischen Verantwortlichen weiterhin die Existenz geheimer Gefängnisse, in denen der amerikanische Geheimdienst Mitglieder von Al Kaida verhört. Die offiziellen Zurückweisungen der Rumänen wurden vom Sprecher der europäischen Abordnung positiv aufgenommen.»

* SonntagsBlick (Schweiz), 8. Januar 2006; Autoren: SANDRO BROTZ UND BEAT JOST;
im Internet: www.blick.ch



Bern wollte das Papier unter Verschluss halten

Schweizer Medienexperten sagten gegenüber tagesschau.de, die Regierung in Bern hätte ein Interesse gehabt, dass das Dokument nicht veröffentlicht wird. Denn nicht nur der Inhalt sei brisant, auch die Art wie es in die Hände der Schweizer berge Sprengstoff, hieß es. Bei zahlreichen Gesprächen seien den Verantwortlichen des Blatts die möglichen Konsequenzen einer Veröffentlichung deutlich vor Augen geführt worden.

Der Chefredakteur des "SonntagsBlick", Christoph Gernacher, wollte gegenüber tagesschau.de eine strafrechtliche Verfolgung wegen Geheimnisverrats nicht ausschließen. Es habe intensive Abwägungen innerhalb der Redaktion gegeben, so Gernacher. Ein wesentlicher Punkt für die Veröffentlichung sei dabei gewesen, dass das Abfangen diplomatischer Korrespondenzen befreundeter Staaten völkerrechtswidrig sei. Er habe keine Zweifel an der Echtheit des Dokuments. Das hätten ihm seine Gespräche mit hochkarätigen Vertretern der Schweizer Regierung verdeutlicht. Schweiz leitet Untersuchung ein

Inzwischen kündigte das Schweizer Verteidigungsministerium auf seiner Internetseite an, eine Administrativuntersuchung einzuleiten. "Infolge der besonderen Sensitivität des Dokuments und der entsprechenden Klassifizierung nimmt das Eidg. Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) zu dessen Inhalt nicht Stellung", heißt es auf der Seite. Das Ministerium werde das parlamemtarischen Kontrollgremium, die für die Geheimdienste zuständige Geschäftsprüfungsdelegation (GPDel) der Eidgenössischen Räte, über den Vorgang informieren. Europarat und EU-Parlament untersuchen die Vorwürfe

Stellungnahme zum Artikel im SonntagsBlick vom 8. Januar 2006

Der Artikel im SonntagsBlick "EXKLUSIV: DER BEWEIS - Es gibt CIA-Gefängnisse in Europa. Die Schweiz weiss davon und schweigt." stützt sich auf ein Papier, das integral als geheim klassifiziert ist. Dieses wurde offenbar der Redaktion des SonntagsBlick zugespielt.

Infolge der besonderen Sensitivität des Dokuments und der entsprechenden Klassifizierung nimmt das Eidg. Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) zu dessen Inhalt nicht Stellung. Hingegen wird im Rahmen der parlamentarischen Kontrolle die GPDel ausführlich informiert. Zudem wird der Departementschef, Bundesrat Samuel Schmid, eine Administrativuntersuchung einleiten und behält sich weitere rechtliche Schritte vor.

Quelle: Homepage des Schweizerischen Vertedigungsministeriums: www.vbs.admin.ch


Mitte Dezember hatte der Europaratsermittler Dick Marty erklärt, er sehe in der Affäre um mutmaßliche Geheimgefängnisse und Gefangenenflüge in Europa die Verdachtsmomente erhärtet. Die bislang gesammelten Informationen stärkten "die Glaubwürdigkeit der Anschuldigungen über den Transport und die vorübergehende Festnahme von Personen außerhalb jedes juristischen Verfahrens in europäischen Ländern", befand der Schweizer. Auch im Europaparlament soll ein Sonderausschuss Berichten über mutmaßlich illegale Aktivitäten des US-Geheimdienstes CIA in Europa nachgehen.

Sowohl die US-Regierung als auch europäische Regierungen bestreiten, von geheimen US-Gefängnisse in Europa zu wissen. Bulgarien dementierte nach Erscheinen des Schweizer Zeitungsberichts erneut die Existenz von Geheimgefängnissen auf seinem Staatsgebiet. Außenminister Iwajlo Kalfin sagte, dass es in dem Land keine geheimen Hafteinrichtungen der CIA gebe, berichtete die amtliche Nachrichtenagentur BTA.

Die Schweizer Bundesstaatsanwaltschaft ermittelt seit Mitte Dezember ebenfalls. Sie geht dabei dem Verdacht nach, dass durch CIA-Gefangenenflüge illegale Handlungen eines anderen Staates auf Schweizer Territorium erfolgten. Ende November hatte die Schweizer Regierung offiziell in Washington Aufklärung über 27 Flüge in den Jahren 2003 und 2004 verlangt.

Ständerat Dick Marty (61), der für den Europarat die CIA-Affäre untersucht, im Interview (Auszug):

Welchen Stellenwert muss der Nachrichtendienst der abgefangenen Meldung beigemessen haben?

«Unter dem Vorbehalt, dass sie echt ist, einen relativ grossen. Die Meldung datiert vom 10. November 2005. Seit Anfang November hat die Weltpresse über die angeblichen Geheimgefängnisse berichtet. Am 7. November setzte der Europarat mich als Ermittler ein, also einen Schweizer. Das alles müsste dazu geführt haben, dass die Nachrichtendienste die politische Ebene, das heisst den Bundesrat, informierten.»

Wie weit ist Ihre eigene Untersuchung zu den CIA-Gefängnissen in Europa?

«Der Weg ist noch lang und kompliziert, aber ich bin zuversichtlich, dass er ans Ziel führt. Es gibt in immer mehr Ländern Bewegung. Auch in den USA, wie die öffentliche Kritik an den Abhöraktionen der Regierung Bush zeigt. Und in Italien ist es bewiesen, dass die CIA bei der Entführung des Imams Abu Omar am Werk war. Die Mailänder Staatsanwälte haben hervorragende Arbeit geleistet.»

Aber Ministerpräsident Silvio Berlusconi behauptet, an den Vorwürfen sei nichts dran.

«Das will nichts heissen. Fast alle Regierungen sagen in dieser Affäre nicht die Wahrheit.»

Haben Sie die verlangten Eurocontrol-Flugdaten von CIA-Jets und die Satellitenbilder von möglichen Gefängnis-Standorten schon erhalten?

«Nein, noch nicht. Wenn wir die Daten aber nicht erhalten sollten, ist das auch eine Antwort.»

Aus: Blick (online), 9. Januar 2006;
www.blick.ch



Quellen: www.tagesschau.de, SonntagsBlick (8. Januar 2006), Blick (9. Januar 2006); Agenturmeldungen (AP, AFP, 8. Januar 2006)


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