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Exportartikel Menschenrechte?

Es geht weniger um das "Ob", sondern um das "Wie". Fünf Thesen

Von Peter Strutynski*

Die Universalität der Menschenrechte, d.h. ihre globale Gültigkeit, gehört zu den allgemein anerkannten Prinzipien des modernen Völkerrechts. Weithin unbestritten ist heute auch, dass deren Schutz nicht mehr ausschließlich zu den "innere Angelegenheit" der Staaten gehört, sondern zunehmend auch zu einer Aufgabe des internationalen Staatensystems geworden ist. Höchst umstritten ist dagegen, wie weit dieser internationale Schutz reicht, welche Implikationen sich daraus für die Gestaltung der internationalen Beziehungen ergeben und welche Rolle dabei den Vereinten Nationen als „kollektivem Ausdruck des Weltgewissens“ zukommt. Undenkbar war noch bis vor wenigen Jahren, dass die Menschenrechte gar zu einem „Exportartikel“ werden könnten, der sich mehr oder weniger beliebig von einem souveränen Staat in einen anderen souveränen Staat transferieren ließe. Zumindest implizit ist diese Vorstellung indessen zu einem festen Bestandteil der Außenpolitik führender westlicher Staaten geworden. Damit setzten sie sich über den Grundsatz der „Nichteinmischung“ in die Angelegenheiten gleichberechtigter und souveräner Staaten hinweg. Er gehört genauso wie das Bekenntnis zum Menschenrechtsschutz zu den wichtigsten Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen. In den folgenden Thesen wird der Standpunkt vertreten, dass es bei der völkerrechtlichen und politischen Würdigung des „Exports von Menschenrechten“ nicht um das Ob sondern allein um das Wie geht.

Es liegt in der Natur der Sache, dass sowohl die Weiterentwicklung des Völkerrechts als auch die Menschenrechtspolitik jeweils nach den beiden Weltkriegen des vergangenen Jahrhunderts wichtige neue Anstöße erhalten haben. Im Völkerrecht setzte sich vor allem ein allgemeines Gewaltverbot durch. Dies begann mit dem Kellogg-Briand-Pakt aus dem Jahr 1928, einem völkerrechtlich bindenden Vertrag, in dem sich die Teilnehmerstaaten, darunter auch das Deutsche Reich, verpflichteten, auf das Mittel des Krieges bei internationalen Streitigkeiten ein für allemal zu verzichten. Der Krieg war fortan „geächtet“. Ausgehend vom 14-Punkte-Programm des US-Präsidenten Woodrow Wilson (1918) wurden schon zu Zeiten des Völkerbunds allgemeine Grundsätze des Selbstbestimmungsrechts der Völker sowie der territorialen Unversehrtheit und politischen Souveränität der Staaten kodifiziert (bei Wilson hatte es in Punkt 14 geheißen: „political independence and territorial integrity to great and small states alike“). All dies mündete schließlich am Ende des Zweiten Weltkriegs in die Charta der Vereinten Nationen (insbesondere Artikel 2). Die Souveränität der Staaten, auch der kleinsten von ihnen, war dabei als so zentral empfunden worden, dass deren Schutz mehrfach verankert wurde und im „Nichteinmischungs-Artikel (Art. 2 Ziffer 7) sozusagen ihre Krönung fand.

Auch die Menschenrechte fanden in der UN-Charta einen gebührenden Platz. Schon in der Präambel wird als wichtigstes Ziel der Vereinten Nationen neben der Sicherung des Friedens der „Glaube an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit“ und „an die Gleichberechtigung von Mann und Frau“ genannt. Die „Achtung vor den Menschenrechten und vor den Grundfreiheiten“ taucht in Artikel 1 auf und wird in Art. 55 zu einer aktiven Aufgabe der Vereinten Nationen erklärt. Danach fördern die Vereinten Nationen „die allgemeine Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion“ (Art. 55c). Auch hinsichtlich der Menschenrechte konnten die Vereinten Nationen auf Vorarbeiten der Zwischenkriegszeit, teilweise auch der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurückgreifen: Zu nennen sind hier z.B. das humanitäre Völkerrecht zum Schutz der Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten sowie zur „Humanisierung“ der Kriegshandlungen selbst (Haager Konventionen 1907), das Genfer Übereinkommen über die Sklaverei (1926) oder der Schutz von (nationalen) Minderheiten einschließlich ihrer Religions- und Gewissensfreiheit (Art. 22 der Satzung des Völkerbunds).

Die Gründung der Vereinten Nationen, so meine erste These, hatte nicht nur das Ziel, „künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu befreien“, wie es in der Präambel der UN-Charta heißt. Die mit gleicher Souveränität ausgestatteten Mitgliedstaaten waren auch gehalten, grundlegende Menschenrechte und Freiheiten im Inneren einzuhalten. Die Menschenrechte wurden als integraler Bestandteil des Völkerrechts verstanden.

Wenn es in der Folge zu einem „Dualismus“ zwischen Völkerrecht, insbesondere dem Prinzip der Souveränität, und Menschenrechten kam, dann ergab sich das nicht aus einer vermeintlich widersprüchlichen „Logik“ des Völkerrechts. Es war vielmehr dem beginnenden Kalten Krieg geschuldet, unter dessen Ägide die Menschenrechte als Kampfinstrument im Systemstreit zwischen Kapitalismus und Sozialismus missbraucht wurden – und zwar von beiden Seiten. Doch zunächst wurde die Bedeutung der Menschenrechte im System der Vereinten Nationen weiter aufgewertet: 1946 wurde die Menschenrechtskommission (MRK) gegründet, die bis vor kurzem das wichtigste Menschenrechtsorgan der Vereinten Nationen blieb. (Im März 2006 wurde es durch einen Beschluss der Generalversammlung - Resolution 60/251 - durch den Menschenrechtsrat ersetzt.) Eine ihrer ersten Aufgaben war die Ausarbeitung der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“, die wohl als die bis dahin umfassendste Bestandsaufnahme grundlegender Rechte der Menschen anzusehen ist. Sie enthielt zahlreiche individuelle Freiheitsrechte ( wie das Recht auf Leben, Freiheit und persönliche Sicherheit, die Gleichheit vor dem Gesetz, Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit), politische Bürgerrechte (wie die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit oder das Recht an der Mitwirkung an den Staatsangelegenheit) und wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (wie das Recht auf Arbeit, befriedigende Arbeitsbedingungen oder auf einen angemessenen Lebensstandard sowie auf das Recht auf Bildung). Dass diese Erklärung von der Generalversammlung 1948, also inmitten des eskalierenden Kalten Krieges, nahezu einmütig angenommen wurde, mag wohl daran gelegen haben, dass sie völkerrechtlich betrachtet nur empfehlenden und keinen bindenden Charakter hatte. So konnten die Staaten des werdenden sozialistischen Lagers getrost den „bürgerlichen“ Freiheitsrechten zustimmen, wie umgekehrt die westlichen liberalen Staaten ohne Risiko und Nebenwirkungen die Kröte der „sozialistischen“ sozialen Rechte schlucken konnten.

Die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ war in rechtlicher Hinsicht nicht mehr als eine unverbindliche Willenserklärung. Sie erzielte aber – mit Hilfe der UN-Menschenrechtskommission – insofern große Wirkung, als ihre wichtigsten Prinzipien fast zwei Jahrzehnte später mit der Verabschiedung zweier Menschenrechtspakte einen völkerrechtsverbindlichen Vertragscharakter annahmen. 1966 wurden zwei formal getrennte, aber inhaltlich zusammen gehörende Konventionen verabschiedet und in der Folge von den UN-Mitgliedstaaten ratifiziert: Der sog. Zivilpakt (Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte), der die individuellen Freiheits- und Bürgerrechte, und der sog. Sozialpakt, der, wie sein Name sagt, die „wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte“ enthält. Beide Pakte traten 1976 in Kraft. Des weiteren konnten in den 70er und 80er Jahren eine Reihe von Fakultativprotokollen zu den beiden Pakten andere völkerrechtlich bindende Übereinkommen abgeschlossen werden. Zu nennen sind etwa das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (1979, in Kraft getreten 1981), das Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (Inkrafttreten 1987), das Protokoll zur Abschaffung der Todesstrafe (1989, Inkrafttreten 1991) oder die Kinderrechtskonvention aus dem Jahr 1990.

These 2: So konnte der internationale Diskurs über die Menschenrechte trotz zahlreicher Instrumentalisierungsversuche durch die Kontrahenten im Kalten Krieg weiter geführt werden und mündete in eine Reihe bahnbrechender völkerrechtlich bindender Verträge.

Mit dem Ende des Kalten Kriegs in Europa beschleunigte sich auch der Menschenrechtsdiskurs, und zwar in zweifacher Hinsicht: Einmal wurde in einer Reihe von Weltkonferenzen (die wichtigsten waren die Zweite Menschenrechtskonferenz 1993 in Wien, die Frauenkonferenz in Peking 1995 und der Weltsozialgipfel in Kopenhagen 1995) die Universalität von Menschenrechten einschließlich des lange Zeit umstrittenen „Menschenrechts auf Entwicklung“ von allen Staaten prinzipiell anerkannt. Zum anderen wurden neue Institutionen zum besseren Schutz der Menschenrechte weltweit geschaffen. Dazu gehört die Einrichtung eines Hochkommissariats für Menschenrechte (1993) und – vor allem – die bei der Staatenkonferenz in Rom 1998 beschlossene Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs (IstGH), der nach Ratifizierung des Statuts durch eine ausreichende Zahl von Staaten im Juli 2002 seine Arbeit aufnehmen konnte.

Bei den Straftatbeständen, die der Jurisdiktion des IStGH unterliegen, handelt es sich um vier „Kernverbrechen“ (Statut Art. 5ff):
  1. das Verbrechen des Völkermords,
  2. Verbrechen gegen die Menschlichkeit; hierunter sind „groß angelegte oder systematische Angriffe gegen die Zivilbevölkerung“ gemeint, also z.B. Mord, Ausrottung, Versklavung, Vergewaltigung, Folter, Apartheid
  3. Kriegsverbrechen (wie sie im wesentlichen schon aus den Genfer Konventionen bekannt sind)
  4. das Verbrechen der Aggression.
Lediglich der vierte Straftatbestand ist noch nicht abschließend geregelt. In den drei anderen Fällen kann der IStGH tätig werden – entweder aufgrund einer Staatenbeschwerde eines Mitgliedsstaates, einer Beauftragung durch den UN-Sicherheitsrat oder durch eigene Ermittlungen des Chefanklägers, der sich hierbei auch auf Informationen „nichtstaatlicher Organisationen“ (Art. 15) stützen kann. Auch wenn der Zuständigkeit und Tätigkeit des Gerichts zahlreiche Hürden in den Weg gelegt wurden (z.B. Geltungsbereich nur für Vertragsstaaten, Prinzip der Komplementarität, siebenjährige Übergangsfrist bei Kriegsverbrechen), kann seine Existenz gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Erstmals können Täter, die sich schwerer Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht haben, vor einem ständigen Weltstrafgericht individuell zur Verantwortung gezogen werden.

These 3: Im Internationalen Strafgerichtshof materialisiert sich gleichsam die säkulare Tendenz, der Universalität von Menschenrechten auch mittels eines internationalen Menschenrechtsregimes Geltung zu verschaffen. Niemand soll sich künftig sicher sein, dass schwere Verbrechen unter der Kollektivität des Krieges oder unter dem Schutz des Nationalstaates ungesühnt bleiben.

Damit ist keineswegs das Souveränitätsprinzips der Staaten zur Disposition gestellt. In der Präambel des Römischen Statuts wird „nachdrücklich“ darauf hingewiesen, “dass dieses Statut nicht so auszulegen ist, als ermächtige es einen Vertragsstaat, in einen bewaffneten Konflikt oder in die inneren Angelegenheiten eines Staates einzugreifen“.

Legt man dieses Prinzip sehr eng aus, so sind Verstöße dagegen fast unvermeidlich. Sie gehören sogar zum Alltag in den Beziehungen zwischen den Staaten. Das war übrigens während des Kalten Kriegs, als das Nichteinmischungsprinzip einen sehr hohen Stellenwert hatte, nicht anders. Die Schlagwörter dabei waren „Infiltration“, „Subversion“, „Wandel durch Annäherung“, wenn wir den Blick auf die Politik des Westens richten; „internationale Solidarität“, „Klassenkampf“, „Systemkonkurrenz“, wenn wir an die Versuche des Ostens denken, das Kräfteverhältnis im Weltmaßstab zugunsten des Sozialismus zu verändern. Und jede wirtschafts- und handelspolitische Maßnahme, jedes bilaterale Gemeinschaftsprojekt - dabei muss es nicht immer um Pipelines gehen –, jedes Kulturabkommen oder jeder andere Vertrag, der zwischen Staaten abgeschlossen wird, jedes Interview, das ein Botschafter der Zeitung seines Gastlandes gibt, kurz: alles, was Auswirkungen auch auf die innere Situation eines derart bedachten Landes hat, ist eine Art „Einmischung“ in dessen innere Angelegenheiten. Die Frage ist nur, ob diese Einmischung gegen den Willen des betroffenen Landes geschieht oder mit dessen Einwilligung. Die Grenzen sind hier zweifellos fließend. Eindeutig überschritten wird die Grenze des völkerrechtlich Zulässigen dann, wenn mit der Einmischung auch die Souveränität des Staates untergraben oder bedroht wird. Die von US-Außenministerin Condoleezza Rice im Januar 2006 in einer programmatischen Rede an der Georgetown Universität verkündete Strategie der „transformational diplomacy“, der „umgestaltenden Diplomatie“ zielt ganz eindeutig auf die Verschiebung dieser Grenze. US-Präsident Bush hatte das strategische Ziel seiner Regierungstätigkeit in seiner zweiten Antrittsrede im Januar 2005 auf die unmissverständliche Formel gebracht: „Es ist die politische Strategie der Vereinigten Staaten, demokratische Bewegungen und Institutionen in jedem Land und jeder Kultur zu suchen und ihre Entwicklung zu unterstützen, um letztendlich die Tyrannei auf der Welt zu beenden.“

These 4: Ähnlich wie die Internationalisierung des Menschenrechtsschutzes in Form eines überstaatlichen Menschenrechtsregimes gehören auch die diplomatischen, politischen und kulturellen Einflussnahmen auf die innere Situation anderer Staaten zur gewohnheitsrechtlich zulässigen Praxis der internationalen Beziehungen. Insoweit ist also auch der friedliche Export von Menschenrechten und ihrer Prinzipien zulässig. Das aktive Herbeiführen eines Regimewechsels von außen oder die Entsouveränisierung eines Staates sind dagegen vom Völkerrecht nicht gedeckt.

Die Erinnerung an das Gewaltverbot und das Nichteinmischungsprinzip der UN-Charta ist zu verstehen vor dem Hintergrund der Entwicklung der 90er Jahre, als Bürgerkriege und andere gewaltsame innere und internationale Konflikte stark zugenommen hatten und die Großmächte immer häufiger zum Mittel militärischer Intervention griffen.

Sogar der UN-Sicherheitsrat selbst hat sich über seine eigene Charta hinweggesetzt. Einen Türöffner stellte dabei der Begriff der „humanitären Intervention“ dar. Er ist nicht erst beim Nato-Krieg gegen Jugoslawien erfunden worden, sondern spielte schon bei Entscheidungen des Sicherheitsrats im Fall des Irak 1991 – und zwar nach dem Golfkrieg - eine Rolle. Damals wurden die grenzüberschreitenden Flüchtlingsströme als Bedrohung des internationalen Friedens eingestuft. In der Resolution 688 (1991) wurde erstmals ein Interventionsrecht aus humanitären Gründen sanktioniert. Der Irak sollte gezwungen werden, die Unterdrückung der Zivilbevölkerung in den kurdischen Gebieten einzustellen, die Menschenrechte zu achten und den internationalen humanitären Organisationen „Zugang zu allen hilfsbedürftigen Personen“ zu gewähren. Ein Jahr später werden die UN-Mitgliedstaaten ermächtigt, durch Übernahme des inneren Gewaltmonopols in einem anderen Mitgliedstaat, nämlich Somalia, „Recht und Ordnung wieder herzustellen“ (Res. 794 [1992]). Was aus der Somalia-Intervention der Vereinigten Staaten geworden ist, muss hier nicht ausgeführt werden. Auch andere Interventionsschauplätze wie Haiti, Bosnien, Kosovo (hier gab es kein UN-Mandat) und neuerdings Afghanistan und Irak (beide ohne Mandat, aber mit nachträglicher faktischer Legitimierung durch den UN-Sicherheitsrat) haben gezeigt, dass mit Militärinterventionen weder ein nachhaltiger Frieden gestiftet noch ein wirksamer Menschenrechtsschutz gewährleistet werden kann. Im Irak ist – selbst aus Sicht der Aggressoren – alles schief gegangen, was nur schief gehen konnte. Noch nie ging es der Bevölkerung materiell so schlecht wie heute, noch nie war die Sicherheitslage so kritisch wie heute, noch nie war die Gewalt so alltäglich wie heute, und erst mit dem Krieg kamen die Terroristen ins Land, deren Bekämpfung er angeblich hätte dienen sollen.

Der Export von Menschenrechten mittels Krieg und Intervention scheidet aber auch aus einem anderen Grund aus: Krieg selbst stellt einen schweren Rechtsbruch dar, indem das grundlegendste Menschenrecht, das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, verletzt wird. Auch eine Art „Güterabwägung“ derart, dass die Opfer einer militärischen Intervention angesichts zu erwartender größerer Opferzahlen im Falle unterlassener „Militärhilfe“ in Kauf genommen werden könnten, hält weder einer moralischen noch juristischen Prüfung stand. Eine "Abwägung Leben gegen Leben" nach dem Maßstab, wie viele Menschen möglicherweise auf der einen und wie viele auf der anderen Seite betroffen seien, ist unzulässig, urteilte am 15. Februar 2006 das Bundesverfassungsgericht im Verfahren um das Luftsicherheitsgesetz (AZ: 1 BvR 357/05). Die Grundsätze, die das Bundesverfassungsgericht mit Blick auf eine innenpolitische Entscheidungssituation aufstellt (Abschuss eines von Terroristen entführten Passagierflugzeuges um eine mutmaßliche größere Katastrophe zu verhindern), sind in ihrem Kern auch auf zwischenstaatliche Konfliktsituationen zu übertragen. Letztlich geht es um die Relativierung des Lebensrechts des Menschen. In Randziffer 124 des Urteils heißt es unzweideutig: "Sie (die Passagiere) werden dadurch, dass ihre Tötung als Mittel zur Rettung anderer benutzt wird, verdinglicht und zugleich entrechtlicht; indem über ihr Leben von Staats wegen einseitig verfügt wird, wird den als Opfern selbst schutzbedürftigen Flugzeuginsassen der Wert abgesprochen, der dem Menschen um seiner selbst willen zukommt."

So komme ich zu meiner fünften und letzten These: Der Export von Menschenrechten oder von Demokratie mittels Intervention und Krieg ist völkerrechtswidrig und verstößt gegen das elementare Recht des Menschen auf Leben.


* Dr. Peter Strutynski, Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Politikwissenschaft an der Uni Kassel; Schwerpunkte in Lehre und Forschung: Arbeitspolitik und Friedenswissenschaft; leitendes Mitglied der dortigen Arbeitsgruppe Friedensforschung und Veranstalter der jährlichen "Friedenspolitischen Ratschläge" an der Uni Kassel; verantwortlich für die Homepage der AG Friedensforschung: www., die zu den meistbesuchten friedenspolitischen Websites in Europa gehört.

Der Text war Grundlage eines Vortrags, den der Autor am 18. Mai 2006 auf Einladung der Humanistischen Union in Frankfurt a.M. hielt. Eine Kurzfassung des Beitrags erschien am 15. Mai 2006 in der Frankfurter Rundschau (Dokumentationsseite) unter dem Titel "Sind die Menschenrechte ein Exportartikel?"



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