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Die Rückkehr eines Albtraums?

Debatten über die Folter, den zivilen Schutzraum des Staates und US-amerikanischen Geist

Von Gunnar Decker *

Zwei Beispiele, nachzulesen bei Jan Philipp Reemtsma in seinem Buch »Folter im Rechtsstaat?« (Hamburger Edition, 2005). Sie zeigen, wie wenig selbstverständlich jene Normalität ist, die wir uns angewöhnt haben für völlig normal zu halten. Außerhalb jeder grundsätzlichen Infragestellung stehend.

Das erste Beispiel bezieht sich auf einen hypothetischen Fall. 1992 hielt Niklas Luhmann einen Vortrag mit dem Titel: »Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen?« Darin wird die Möglichkeit eines Ausnahmezustands gleichsam zurück in jenen Diskurs geholt, der ihn allzu erfolgreich verdrängt hatte. Luhmann fragt: »Stellen Sie sich vor, sie seien ein höherer Polizeioffizier. In Ihrem Lande – und das könnte in nicht zu ferner Zukunft auch Deutschland sein – gäbe es viele linke und rechte Terroristen, jeden Tag Morde, Brandanschläge, Tötungen und Schändungen für zahlreiche Unbeteiligte. Sie hätten den Führer einer solchen Gruppe gefangen. Sie könnten, wenn Sie ihn foltern, vermutlich das Leben vieler Menschen retten – zehn, hundert, tausend, wir können den Fall variieren. Würden Sie es tun?«

Eine Suggestivfrage, die unterstellt, mittels Folter des einen ließe sich das Leben des anderen retten. Ließe sich, wenn man tatsächlich des Phantoms Osama bin Laden habhaft würde und ihn dann folterte, irgendein potenzielles islamistisches Terroropfer retten? Eher im Gegenteil. Gefolterte sind Leidende – prädestinierte Märtyrer.

Ein zweites Beispiel, ein realer Kriminalfall, hat die Diskussion über Luhmanns Szenario, in der die Entscheidung für oder gegen die Folter zur schwierigen Gewissensfrage aufrückt, zu einem Medienthema gemacht und so auch mittels eines geradezu hysterischen Alarmismus dem ruhigen Nachdenken entzogen.

Es ist der Fall des Studenten Magnus Gäfgen, der im September 2002 den Sohn des Frankfurter Bankiers von Metzler erst entführt und dann tötet. Am Tag nach der Geldübergabe wird er verhaftet. Er weigert sich, das Versteck des Kindes preiszugeben. Da die Polizei vermutet, das Kind lebe noch, droht sie dem Entführer körperliche Schmerzen an. Daraufhin führt er die Polizei zur Leiche des Kindes. Der Fall hat deshalb so großes Aufsehen erregt, weil es der stellvertretende Frankfurter Polizeipräsident Daschner war, der den vernehmenden Kriminalbeamten anwies, mit einer solchen Drohung in der Vernehmung Druck zu erzeugen.

Wenn der Staat mit Folter droht (und nichts anderes ist die Androhung von Schmerzen), was passiert dann mit den Rechtsnormen? So fragten die Kritiker. Die Androhung von Folter hatte ein juristisches Nachspiel. Ende 2004 wurden Daschner und der vernehmende Kriminalist wegen »Verleitung zur Nötigung in besonders schwerem Fall« für schuldig befunden. Es kam zur »Verwarnung mit Strafvorbehalt«.

Damit könnte das Thema erledigt sein, ist es aber nicht. Denn sofort meldeten sich Juristen zu Wort, die sagten, dies sei eine juristisch klärungsbedürftige Situation. Denn so wie die Rechtssituation derzeit sei, werde mit zweierlei Maßstäben gemessen. Ein Vater, eine Privatperson also, dürfe durchaus in »Nothilfe« das Versteck seines entführten Sohnes aus dem Täter (wenn er es denn mit Sicherheit ist) herausprügeln, ein hinzukommender Polizist jedoch müsse dem als »Hoheitsträger« Einhalt gebieten. Leiste er da nicht unter bestimmten Umständen einen faktischen Beitrag zum Tod des Opfers, fragten nun Rechtstheoretiker. Es müsse hier Rechtssicherheit geschaffen, geregelt werden, unter welchen Umständen die Folter durch staatliche Hoheitsträger eine Form der »Nothilfe« sei, die – in genau geregelten Ausnahmesituationen – nicht nur straffrei bleiben müsse, sondern dann auch geboten sei.

Eine derartige Position hatte bereits im Anschluss an Luhmann der Staatsrechtler Winfried Brugger in zwei Aufsätzen vertreten: »Darf der Staat ausnahmsweise foltern?« (1996) und »Vom unbedingten Verbot der Folter zum bedingten Recht auf Folter?« (2000). Da heißt es: »Und die persönliche Verantwortung für den Fall, dass wir die Sache nicht diskutieren oder nicht regeln, die liegt nicht bei uns, die liegt auf dem Rücken der Polizisten, die mit einer solchen Situation konfrontiert sind. Dies sind die Ärmsten der Armen. Ich sehe nicht ein, dass man den Konflikt auf deren Rücken austragen soll.«



Der Schutzraum des Zivilen macht Humanität erst lebbar. Ziele sind durch die Mittel, die zu ihrer Erreichung dienen sollen, definiert. Wo die Ziel-Mittel-Dialektik aufgekündigt wird: den Zielen jedes Mittel zur Verfügung steht, da herrscht Diktatur, sind staatliche Verbrechen programmiert.



Wieder wird hier suggestiv gesprochen, denn wieso sind Polizisten »die Ärmsten der Armen«, wenn sie die Freiheit haben, sich zu entscheiden? Natürlich, jeder weiß, dass eigene Entscheidungen Folgen haben und dass man die Verantwortung für diese tragen muss. Mir aber ist eine Polizei, die sich der Schwere von solchen – ohnehin nicht vorab zu regelnden – Entscheidungen in Ausnahmesituationen bewusst ist, lieber als eine, die es nicht ist.

Was darf der Staat, Träger des Gewaltmonopols, seinen Bürgern gegenüber und was darf er nicht? Sollen – mittels ebenso suggestiver wie simpler moralischer Argumentation – Grenzen verschoben werden und damit letztlich das genau geregelte Gefüge des Verhältnisses von Staat, Gesellschaft und einzelnem Bürger erheblich verändert, ja in seiner jetzigen Form sogar zerstört werden? Bislang ist der Bürger per Gesetz vor der Gewalt des Staates geschützt, indem dieses jedes gezielte Zufügen von physischem oder psychischem Schmerz denen gegenüber verbietet, die der Staat als potenzielle Straftäter in Gewahrsam genommen hat.

Der Staat lässt sich am Gesetz messen, er steht nicht jenseits des Gesetzes. Das ist das Prinzip des Rechtstaates. Kants kategorischer Imperativ fordert auch, dass man niemals anderen antue, was man nicht will, dass es einem selbst durch andere angetan werde. Dieser Schutzraum des Zivilen macht Humanität erst lebbar. Ziele sind durch die Mittel, die zu ihrer Erreichung dienen sollen, definiert. Wo die Ziel-Mittel-Dialektik aufgekündigt wird: den Zielen jedes Mittel zur Verfügung steht, da herrscht Diktatur, sind staatliche Verbrechen programmiert.

Bereitet sich hier ein kultureller Dammbruch vor, zu dem medial bereits das Präludium gespielt wird? Darüber diskutierten kürzlich im »Streitraum« der Berliner Schaubühne Jan Philipp Reemtsma vom Hamburger Institut für Sozialforschung mit Franz Janßen vom Behandlungszentrum für Folteropfer in Berlin. Carolin Emcke vom »Spiegel« moderierte. Man war sich einig, die Legalisierung der so genannten »Rettungsfolter« mittels einer gesetzlichen Regelung, wann und wie sie statthaft sein soll (ähnlich wie der »finale Rettungsschuss«), bedeute einen folgenschweren Tabubruch angesichts der Tatsache, wie opferreich der Weg Europas bis zum modernen Recht gewesen ist.

Weht da vielleicht einiges an amerikanischem Geist, wie wir ihn nicht haben wollen, über den Atlantik? Der schwerste, weil wohl langanhaltendste Schaden der Terror-Angriffe in New York vom 11. September 2001 liegt in dem Abbau jener zivilen Standards, die doch gerade die Überlegenheit der westlichen Welt gegen die quasi im rechtsfreien Raum lebenden Menschen in Militärdiktaturen offenbaren – oder auch in Ländern, in denen das islamische (also archaisches!) Recht gilt.

Nicht nur in Guantanamo foltern die USA Gefangene. Warum? Reemtsma erinnert daran, dass bereits Aristoteles wusste, dass ein Gefolterter alles gesteht – es also bei der Folter niemals um Wahrheitsfindung geht. Man will Macht demonstrieren. In vielen Ländern der Erde wurde und wird gefoltert. Nicht um Informationen zu bekommen, sondern um – echte oder eingebildete – Gegner zu brechen. Franz Janßen, der sich mit den Opfern solcher Folterungen beschäftigt, sagt: »Die Folter endet nicht, wenn sie vorbei ist.« Folter zerstört ein elementares Grundvertrauen zu anderen Menschen; man hat erfahren, wozu diese fähig sind. Selbst subtilste Formen der Folter, die keine Spuren am Körper hinterlassen, zerstören eines: die Menschenwürde.



Folter ist Ausdruck von Herrschaft, ist das Gegenteil eines Rechtsverhältnisses, das beide Teile auf eine Norm verpflichtet. Wer heute über die Legalität von Folter auch nur nachdenkt, der lässt mit so viel Leid erkaufte Einsichten, die ein zivilisiertes Zusammenleben regeln, gedanklich bereits zurück.



Man muss sich einmal klarmachen, welch ein Tabu die Folter in unserer Kultur ist – aus gutem Grund ist – und wohin uns dessen wie auch immer motivierter Bruch führen würde. Leider haben wir ein schlechtes Gedächtnis, mangelt es unserer Kultur am historischen Sinn, der doch manch warnendes Beispiel für die Gegenwart anführen könnte. Etwa welche Dämonologien sich an die Folter knüpfen. Der Glaube an den Teufel, das Böse, das uns vernichten will – und das man mit allen Mitteln bekämpfen muss. Es ist ein finsterer Geist, der foltert: ohne jedes Mitleid, ohne jede humane Regung in höherem Auftrag quälend und mordend. Je nach Lage und Gemüt fanatisch oder ganz und gar gleichgültig. Und immer hat die Barbarei eine intellektuelle Fahrlässigkeit zum Vorläufer. Aber stets gibt es auch Gegenstimmen, die den herrschenden Wahnsinn benennen.

So schreibt 1572 Montaigne in seinen »Essays« über die Folter: »Die Wilden, welche die Leichen ihrer Verstorbenen braten und verspeisen, sind mir weniger zuwider als jene unter uns, die Menschen grausam verfolgen und lebendigen Leibes foltern.«

Zu Beginn des 17. Jahrhunderts steigerte sich die Hexenhysterie gerade in den protestantischen Hochburgen. Der »Hexenhammer«, auf die sich die Hexenverfolgung stützt, zielte auf das Erpressen von Geständnissen. Zur Einleitung eines Verfahrens genügte eine einfache anonyme Denunziation. Und so liest sich die rechtlich geregelte Folter»kunst«. Sie hat fünf Grade. Der erste besteht im Anlegen der Daumenschrauben, der zweite im Schnüren, wobei hier die Schnur bis auf die Knochen dringen sollte. Dann wurden die Beschuldigten oft an den Seilen an die Decke gehängt und mit Gewichten beschwert. Der dritte Grad bestand in der Streckbank, wo die Gelenke auseinander gerissen wurden. Als vierter Grad galten die »Spanischen Stiefel«, womit Schienen- und Wadenbein zusammengepresst wurden, meist noch von Hammerschlägen zur Schmerzerhöhung versehen. Der letzte Grad war die Feuerfolter, die mit dem Anbrennen der Achselhöhlen begann ...

Was hier für ein sadistischer Erfindungsreichtum zum Lobe Gottes herrschte! Der erste, der gegen diesen Wahn anschrieb, war Friedrich von Spee, ein Jesuit, dessen »Cautio Criminalis« 1631 erschien. Spee schreibt, er persönlich habe noch keine verurteilte Hexe zum Scheiterhaufen begleitet, »von der ich unter Berücksichtigung aller Gesichtspunkte aus Überzeugung hätte sagen können, sie sei wirklich schuldig gewesen.« Da tritt Vernunft auf: als Zweifel an herrschender Praxis. Aufklärung kündigt sich an. Ab 1714 verloren die Grundherren und Rittergutsbesitzer das Recht zu eigenen Tribunalen. In Berlin fand der letzte Hexenprozess 1728 statt. Das preußische Landrecht wurde zum ersten modernen Gesetzbuch, das keine Hexerei mehr kennt – und auch die Folter abschafft. In Bayern wurde die Folter erst 1806 abgeschafft.

Folter ist Ausdruck von Herrschaft, das Gegenteil eines Rechtsverhältnisses, das beide Teile auf eine Norm verpflichtet. Wer heute über die Legalität von Folter auch nur nachdenkt, der lässt derartige, mit so viel Leid erkaufte Einsichten, die ein zivilisiertes Zusammenleben regeln, gedanklich bereits zurück. Jedes noch so scholastisch verklausulierte Nachdenken über »Regeln des staatlichen Folterns« provoziert mentalitätsgeschichtliche Dammbrüche und assoziiert die schreckliche Wirkungsgeschichte des »Hexenhammers« – auch da, wo es unter dem Deckmantel von »Nothilfe« und »Rettungsfolter« geschieht.

Das moderne Recht entsteht mit der Abschaffung der Folter – wohin aber führt uns die Rückkehr der Folter? Jan Philipp Reemtsma mahnt am Schluss seines Traktats über eine wie auch immer rhetorisch begleitete Wiederkehr der Folter: »Wir sind, was wir tun. Und wir sind, was wir versprechen, niemals zu tun.«

* Aus: Neues Deutschland (Feuilleton), 24. Juni 2006;
Mit freundlicher Genehmigung des Autors.



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