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Mit den Menschenrechten in den Krieg?

Die Krise des Humanitarismus

Von Thomas Gebauer*

Medico bemüht sich um die Verwirklichung des Rechts aller Menschen auf Gesundheit. Dabei unterstützen wir konkrete Projekte von Partnern im Süden. Die Menschenrechte sind uns so etwas wie eine politische Vision und sie formen zugleich den Rahmen für das konkrete Handeln. Aufmerksam verfolgen wir, wie in der Öffentlichkeit über Menschenrechte debattiert wird. Und vielleicht geht es Ihnen ja so wie mir, - dass Ihnen mitunter die Worte fehlen angesichts der Chuzpe, mit der Politiker heute den Menschenrechtsdiskurs mißbrauchen und selbst noch imperiale Kriege damit rechtfertigen, es ginge um den Schutz der Menschenrechte.

Der herrschende Menschenrechtsdiskurs ist ganz offenbar zweischneidig. Warum das so ist, und vor allem was zu tun sei, um die Menschenrechte vor ihrer Indienstnahme für sicherheitspolitische Zwecke zu schützen - dazu will ich Ihnen einige Gedanken vortragen.

Wer erinnert sich nicht an die Fotos fröhlich lachender afghanischer Mädchen, die nach der Vertreibung der Taliban wieder zur Schule gehen konnten. Nicht zuletzt im Namen dieser Mädchen habe der Krieg geführt werden müssen, befanden damals Politiker aller Couleur. Und würde man sich heute erneut umhören: viele Menschen wären nach wie vor davon überzeugt, dass die Bombardierung Afghanistans legitim und notwendig war, um den Frauen zu ihren Rechten zu verhelfen.

Aber Bilder können trügen. Wer die Entwicklung in Afghanistan im Auge behalten hat, weiß, dass die dortige Wirklichkeit weitaus komplexer ist als das Wunschdenken wohlmeinender Idealisten oder die Legitimationsbemühungen der Politiker.

Die Frauen in Afghanistan sind noch immer aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen. Zwar hat das Land am Hindukusch seit kurzem eine neue Verfassung, doch steht der Machtkampf zwischen den Warlords und der Zentralregierung erst noch bevor. Die Gewalt im Lande nimmt zu. Täglich werden 10-12 Menschen durch explosive Kriegshinterlassenschaften getötet oder verstümmelt. Vor allem Kinder, die Altmetall sammeln, um zum Überleben der Familien beizutragen, werden das Opfer von Minen und nicht explodierten Streubomben. Letztere haben britische und US-Streitkräfte Ende 2001 über Afghanistan abgeworfen, zur "Sicherung der Freiheit", wie es damals hieß.

Auch der afghanische Drogenanbau und -handel floriert wieder. Beispielsweise in der Gegend um Kundus, wo heute die BW für die Sicherheit zuständig ist. Ein überaus fragwürdiges Unternehmen, denn tatsächlich profitieren von der militärischen Befriedigung der Region auch die Drogenbarone, die in aller Ruhe ihr Geschäft betreiben können. Das Geschäft mit den Drogen aber ist bekanntlich nicht auf Afghanistan begrenzt. Die dortigen Mohnfelder bilden nur den Ursprung eines gewaltigen Kapitalstroms, der längst einen der größten Geschäftszweige der Welt bezeichnet und ohne den beispielsweise das gesamte globale "off-shore banking"-System rasch zum Erliegen käme..

Angesichts solcher handfester Interessen sollte es nicht verwundern, dass die USA, Russland, Pakistan und all die andere key actors in Afghanistan zwar gegenwärtig viel von der Notwendigkeit der Stabilisierung einer Zentralregierung reden, zugleich aber auch diskrete Beziehungen zu einzelnen Warlords unterhalten, die willkommene Partner im Geschäft und Erfüllungsgehilfen bei der Durchsetzung geostrategischer Interessen sind.

Über solche Zusammenhänge ist in den Medien freilich wenig zu erfahren. Kritische Berichte würden das Bild eines Krieges, der angeblich zur Durchsetzung von Menschenrechten geführt wurde - das Bild des "gerechten Krieges" - erschüttern und am Ende gar denen Recht geben, die schon damals befürchtet haben, dass es den Interventionsmächten bei der Bombardierung Afghanistans weniger um den Schutz der Menschenrechte, als um die Durchsetzung eigener Interessen gegangen ist.

Diese Interessen richten sich übrigens keineswegs nur auf den Zugang zu Rohstoffen oder den Aufbau von Militärbasen. Der "Krieg gegen den Terrorismus" ist mehr und zielt auf die Absicherung der bestehenden Weltordnung, die auf fortgesetzter Ungleichheit und Spaltung gründet und deshalb nicht unwidersprochen ist.

Die negativen Effekte der wirtschaftlichen Globalisierung sind oft und hinreichend beschreiben worden, - ich muss das hier nicht tun. Wichtig aber ist der Hinweis, dass inzwischen selbst die Profiteure des global entfesselten Kapitalismus erkannt haben, dass eine langfristigen Sicherung von Privilegien und Profit nur gelingt, wenn die wirtschaftliche Globalisierung sozusagen auch eine politische Entsprechung findet. Seitdem macht die Idee des Global Governance die Runde und bemühen sich vor allem die mächtigen Staaten um eine sicherheitspolitische Stabilisierung der neuen Weltordnung.

Ich zitiere ihnen dazu aus einer Rede von Joschka Fischer, die er Ende letzten Jahres beim EU-Gipfel in Neapel gehalten hat.

"Unsere Sicherheit im 21. Jahrhundert hängt nicht nur von der erfolgreichen Globalisierung des freien Waren- und Güterverkehrs ab. Vielmehr noch hängt sie ab von der Globalisierung der Grundwerte der Menschenrechte, der Achtung vor dem Leben, der religiösen und kulturellen Toleranz, der Gleichheit aller Menschen, von Mann und Frau, von Rechtsstaat und Demokratie und der Teilhabe an den Segnungen der Bildung, des Fortschritts und der sozialen Sicherheit."

So schön das Entree der Rede, so bedenklich ist ihr Schluß:

"Entwicklungszusammenarbeit, Finanz- und Handelspolitik, Menschenrechtspolitik, Polizei und Militär - über eine so breit angelegte Kombination von Mitteln zur Krisenbewältigung verfügt kaum ein anderer sicherheitspolitischer Akteur. Dieses mehrdimensionale Spektrum von Instrumenten ist gerade deshalb wichtig, weil wir wissen, dass die neuen Bedrohungen nicht allein mit militärischen Mitteln bewältigt werden können."

So schnell kann das gehen. Innerhalb einer Rede von vielleicht 30 min verkümmern Grundwerte und Moral zu bloßen Instrumenten einer Sicherheitspolitik, die Gefahrenabwehr und Krisenbewältigung zum Ziel hat.

Der Versuch der Indienstnahme von Hilfe und Menschenrechten ist übrigens nicht unwidersprochen geblieben. Viele Hilfsorganisationen haben sich dem Ansinnen widersetzt, künftig nur noch ein "Machtmulitiplikator der Truppen" zu sein, wie es Colin Powell formulierte.

Als die Ausweitung des BW-Einsatzes in Afghanistan zur Diskussion stand, haben wir viele gute Argumente vorgetragen, die begründen, warum humanitäres Engagement grundsätzlich eine andere Strategie verfolgt als staatliches Handeln. Bedenklich stimmte, dass unsere Kritik am Mißbrauch des Menschenrechtsdiskurses von den Medien kaum noch verstanden wurde. Die SZ befand gar, dass unsere Jungs doch endlich mal was Vernünftiges tun würden. Wie schon im Kosovo-Krieg sahen wir uns dem Vorwurf ausgesetzt, nichts gegen die Gewalt unternehmen zu wollen, während die Militärs in der Rolle der Kavallerie glänzten, die bekanntlich immer dann auf den Plan tritt, wenn es um die finale Rettung der Zivilisation aus den Klauen der Barbaren geht.

In der Medienöffentlichkeit wird allzu leicht übersehen, dass es in dem "Krieg gegen den Terrorismus" nicht um den universellen Schutz der MR geht, sondern um die Verwirklichung der Sicherheitsbedürfnisse des reichen Nordens. Strucks oft zitierte Aussage, die Sicherheit Deutschlands werde am Hindukusch verteidigt, beschreibt aber nicht nur die en passant vorgenommene Veränderung des BW-Mandats , sondern macht auch deutlich, dass die Interessen der afghanische Bevölkerung zweitrangig sind.

Angesichts der Gewalt, die in der Welt herrscht, genießt das Thema Sicherheit nicht zuletzt in der Öffentlichkeit hohe Aufmerksamkeit. Terrorwarnungen, manche davon fraglos aufgebauscht, sorgen für ein Klima der Angst und fördern die Bereitschaft der Menschen, im Außenverhältnis Kriege und im Binnenverhältnisse Abstriche an den politischen und Bürgerrechten hinzunehmen. Nicht einmal das absolut geltende Folterverbot blieb zuletzt unantastbar.

Statt menschliche Sicherheit global zu denken, wird Sicherheit sozusagen wieder nationalisiert. Spätestens dann, wenn es um die Abwehr von Bedrohung geht, ist mit Globalisierung Schluss. Es gehört zum Kern des staatlichen Sicherheitsbegriffs, dass Risiken und Fehlentwicklungen völlig selbstverständlich außerhalb der eigenen Grenzen ausgemacht werden und entsprechend auch nur dort bekämpft werden. Nicht die eigenen Privilegien und die wirtschaftliche Vormacht, nicht der Export von Seifenopern und die kulturelle Dominanz, nicht die waffentechnologische Überlegenheit sind das Problem, sondern dass die anderen sich nicht einfach mit der Rolle der underdogs und Ausgegrenzten zufrieden geben wollen.

Vor einige Jahren hat UNDP einen anderen Sicherheitsbegriff vorgeschlagen, der sich nicht an den Interessen von Staaten orientiert, sondern an den Rechten und Bedürfnissen der Menschen. Statt um Militär und Polizei geht es im UNDP-Konzept um "human security", wobei das Wort security eher in Richtung soziale Sicherung weist. Denn ausschlaggebend für human security sind weder gesicherte Grenzen noch schlagkräfte Armeen, sondern Gesundheit, Bildung, Ernährung, Teilhabe an Kultur etc - im Prinzip die MR.

So problematisch der Begriff des "human security" ist, so sehr macht er doch deutlich dass das staatliche Streben nach Sicherheit, so legitim es sein mag, grundsätzlich etwas anderes ist, als das Bemühen um den Schutz der Menschenrechte

Zurück nach Afghanistan: Fraglos gab es unter den Taliban massive Menschenrechtsverletzungen. Nicht zuletzt NGOs, die sich auch in dieser Zeit um die Nöte der afghanischen Bevölkerung kümmerten, haben immer wieder darauf verwiesen. Gehör aber fanden sie erst, als nach dem 11.9. die Planungen für die Bombardierung des Landes begonnen haben und dabei auch überlegt wurde, wie der Krieg in der eigenen Öffentlichkeit gerechtfertigt werden kann. Nicht wenige der humanitären Aktivisten und Menschenrechtler sahen sich mit einem Mal für Zwecke missbraucht, die nicht die ihren waren.

Das harte Wort des Missbrauchs verwende ich übrigens mit Bedacht. Genau darum handelt es sich nämlich, wenn die Verteufelung der Taliban mit der gleichzeitigen Rehabilitierung eines der verbrecherischsten Regime der Welt einhergeht. Die Rede ist von Usbekistan, dem nördlichen Nachbarland Afghanistans, das für den Aufmarsch auf Afghanistan gebraucht wurde und wo sich unterdessen die USA in aller Stille einen strategisch enorm wichtigen Luftwaffenstützpunkt langfristig gesichert haben. Für künftige Weltordnungskriege und die aufkommenden Konflikte mit China bestens geeignet.

Der heutige Menschenrechtsdiskurs ist ambivalent: Er steht für emanzipatorische Ziele, ohne Frage, er steht aber auch für den Versuch der Absicherung der globalen Ordnung samt ihrer negativen Auswirkungen. Einerseits nährt der Ruf nach verstärktem Schutz der Menschenrechte das Versprechen, dass allen etwas zu teil werden soll, was bislang nur einigen vorbehalten ist, andererseits werden gerade unter dem Banner der Menschenrechte zunehmend Kriege geführt, die zur Stabilisierung von Vorherrschaft und bestehender Privilegien beitragen.

Aber wenn dem so ist, wenn die Debatte über Menschenrechte nicht frei von Ideologie ist, dann stellt sich natürlich die Frage nach der Rolle, die Menschenrechtsaktivisten, humanitäre Hilfsorganisationen und zivilgesellschaftliche NGOs in diesem Kontext spielen. NGOs sind ja bekanntlich nicht nur Opfer, sondern auch Agenturen von Ideologie und wirken so tatkräftig an der Gestaltung des Bildes mit, das sich die Öffentlichkeit von einer wirkungsvollen Menschenrechtsarbeit macht.

Und in diesem Kontext muss leider festgestellt werden, dass die Indienstnahme des Menschenrechtsdiskurses und der humanitären Hilfe für sicherheitspolitische Zweck auch deshalb so leicht fällt, weil viele Humanitarians, wie sie im anglophone Sprachraum heißen, einen unkritischen Menschenrechtsbegriff pflegen und die Hilfe entpolitisiert haben.

Deutlich wird das beispielsweise in der weitverbreiteten Vorstellung, dass alle Menschen durch Geburt mit unveräußerlichen Rechten ausgestattet seien und die MR sozusagen sakrale Rechtsnormen darstellten.

Gegen eine solches unpolitisches Verständnis von MR hat sich vor allem Hannah Arendt immer wieder mit Nachdruck ausgesprochen.

"Als gleiche sind wir nicht geboren, Gleiche werden wir als Mitglieder einer Gruppe erst kraft unserer Entscheidung, uns gegenseitig gleiche Rechte zu garantieren," schrieb sie kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Nicht zuletzt aufgrund der Erfahrung eigener Staatenlosigkeit erkannte Arendt, dass Rechte nichts wert sind, wenn sie nicht politisch durchgesetzt und gesichert werden. "Die Menschenrechte sind keine Attribute einer wie immer gearteten menschlichen Natur, sondern Qualitäten einer von Menschen errichteten Welt". Nur als Teil eines rechtlich verfassten Kollektivs sichern sich die Menschen das Recht auf Freiheit und Gleichheit. Dagegen führt der soziale Ausschluss immer auch zur Rechtlosigkeit.

Das "Recht, Rechte zu haben" (Arendt) steht somit allen anderen Rechten voran. Aber eben dieses Recht ist angesichts der zunehmenden Ausgrenzung weiter Teile der Weltbevölkerung mehr denn je bedroht. Nimmt man die Besitzverhältnisse zum Maßstab, zeigen sich die Menschenrechte als Rechte von Privilegierten. Dort, wo Wohlstand herrscht, genießen die Menschen auch ihre Rechte. Dagegen scheint es dort, wo die menschliche Existenz auf das nackte Überleben zurückgeworfen ist, zum Beispiel weil infolge der Globalisierung traditionell gewachsene Wirtschaftskreisläufe und soziale Strukturen zusammengebrochen sind, auch für die Menschenrechte keinen Platz zu geben. Ernst Bloch sprach von der Notwendigkeit der materiellen Unterkellerung der Menschenrechte.

Das idealistisches Bild, das den zivilgesellschaftlichen Menschenrechtsdiskurs gelegentlich prägt, geht meist mit einem ahistorischen Verständnis der MR einher. Übersehen wird in aller Regel der bürgerliche Ursprung des herrschenden Menschenrechtsverständnisses. Einerseits wird völlig zu recht der demokratische und emanzipative Gehalt der Menschenrechte betont, dann aber außer acht gelassen, dass die Menschenrechte aufs engste mit der Entwicklung des Kapitalismus und der mit ihm korrespondierenden Rechtsordnungen verbunden sind. Deutlich wird das insbesondere in dem Recht auf Privateigentum, mit dem das aufkommende Bürgertum einerseits die Notwendigkeit eines radikalen Bruchs mit der herrschenden Feudalordnung begründete, zugleich aber auch ihr spezifisches Interesse an Kapitalbildung als ein allgemeines auszugeben versuchte. Während der antifeudalen Aufstände bedeutete das Drängen auf Eigentumsrechte fraglos einen historischen Fortschritt. Über die Mystifizierung der materiellen Interessen Einzelner zu natürlichen und ewig geltenden Rechten aber wurde auch das ideologische Fundament für die herrschende Meinung gelegt, dass der Kapitalismus ohne Alternative sei und seine globale Ausbreitung das eigentliche Ziel der Geschichte darstelle.

Wer solche Zusammenhänge ausblendet und einen unkritischen Menschenrechtsbegriff pflegt, läuft zwansläufig Gefahr, vereinnahmt zu werden. Das ist beispielsweise bei der vor allem in den USA wachsenden Bewegung der sogenannten "revolution of moral concern", (Revolution der moralischen Verantwortung). Auch hierzulande sind viele Menschenrechtsaktivisten davon überzeugt, dass es nur einer sich ausweitenden Menschenrechtskultur bedarf, um auf Kriege, Hungersnöte oder zerfallende Staaten Einfluss nehmen zu können. Eine fast schon religiös anmutende Illusion angesichts der Welt, die in der wir leben. Eher wird das Umgekehrte der Fall sein: nämlich dass allem Hilfs- und Menschenrechtsdiskurs zum Trotz vor unseren Augen demnächst ein ganzer Kontinent kollabieren wird: Afrika - stranguliert durch Schulden und Korruption, zerstört durch Banditen und multinationale Firmen, aufgerieben in wachsender Gewalt und um sich greifender Epidemien wie AIDS.

Gerade der Blick auf Afrika macht deutlich, dass sich in Gewalt und Elend nicht ein zu wenig an moralischer Verantwortung spiegelt, sondern die Folgen einer globalen Ordnung, die den Profit über die Menschen stellt.

Auch Kofi Annans Idee altruistischer Kriege ist realitätsfern. Die militärische Schaffung eines humanitären Korridors, die humanitäre Intervention und nachfolgendes Peace-Keeping - all das entpuppt sich bei näherer Betrachtung als Umschreibungen für politische und oftmals knallharte wirtschaftliche Interessen, die mit dem Gestus der Generosität und dem Mitgefühl maskiert werden. Es ist reines Wunschdenken zu glauben, die Intervention der NATO im Kosovo wäre Ausdruck eine ethischen Strebens gewesen.

Menschenrechte sind keine abstrakten Rechte, sondern unterliegen der Dynamik des sozialen und geschichtlichen Kontextes. Das gesellschaftliche Terrain, auf dem sich die Auseinandersetzung um die Menschenrechte ereignet, war immer und ist noch heute umkämpft. Leider sieht es allerdings so aus, als ob die Entwicklung der Menschenrechte wieder rückläufig ist und eine Vielzahl bereits "realisierter" Rechte ausgehöhlt wird. Vor allem die sozialen Rechte der Menschen sind bedroht.

Noch unter dem Eindruck der gewaltigen Verheerungen der beiden Weltkriege verabschiedeten die Vereinten Nationen 1948 die "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte". Getragen von der Überzeugung, dass die künftige Sicherung des Weltfriedens nicht ohne die volle Respektierung der Rechte aller Menschen möglich sein wird, formulierten die Autoren der UN-Menschenrechtserklärung jene programmatischen Absichten, die mit späteren UN-Konventionen in verbindliches Völkerrecht überführt wurden.

Zu den wichtigsten Konventionen zählen die beiden Menschenrechtspakte aus dem Jahr 1966: die "Konvention über die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte" und die "Konvention über die politischen und Bürgerrechte". Geht es letzterer um die Begrenzung der Macht des Staates gegenüber den einzelnen Bürgerinnen und Bürger, also um "Freiheitsrechte", formuliert der Wirtschafts- und Sozialpakt vornehmlich Verpflichtungen, die politische Gemeinwesen gegenüber ihren Mitgliedern haben, kurz: "die Sozialrechte". Beide Vertragstexte traten 1976 in Kraft und sind inzwischen von 147 Staaten ratifiziert worden. Seitdem ist beispielsweise das Recht auf Arbeit und soziale Sicherung, das Recht auf Gewerkschaftsbildung, das Recht auf Gesundheitsfürsorge und einen angemessenen Lebensstandard, das Recht auf Bildung und Teilhabe am kulturellen Leben in allen Beitrittsländern nicht mehr nur eine Idee, die irgendwann einmal ins Recht gesetzt werden soll, sondern bereits geltendes Recht.

Beide Vertragstexte haben übrigens dieselbe Präambel: "Das Ideal vom freien Menschen (kann) nur verwirklicht werden, wenn Verhältnisse geschaffen werden, in denen jeder seine wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte ebenso wie seine bürgerlichen und politischen Rechte genießen kann." Trotz der postulierten Unteilbarkeit der Menschenrechte steht der Wirtschafts- und Sozialpakt im Schatten des Zivilpaktes. Im Zuge der neoliberalen Neuordnung der Welt verengte sich die Debatte auf die Gruppe der Freiheitsrechte, während die Sozialrechte, in denen sich die Ideen der Gleichheit und sozialen Gerechtigkeit spiegeln, mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt wurden. Gerade die Länder des reichen Nordens betrachten sie meist nur als Absichtserklärungen, nicht aber als geltende, vom einzelnen Bürger einklagbare Rechtsansprüche. Statt die erforderlichen Schritte zur Erreichung eines Höchstmaßes an Bildung, Gesundheit und kulturellen Angeboten zu unternehmen, wie es der Wirtschafts- und Sozialpakt den Staaten auferlegt, haben die meisten Staaten der Welt eine gegenteilige Entwicklung eingeleitet und kürzen mit dem Hinweis auf fehlende Mittel und der angeblichen Überlegenheit privater Anbieter entsprechende öffentliche Aufwendungen. Mit der Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen aber wird nicht nur die soziale Spaltung vorangetrieben, es gerät auch immer mehr in Vergessenheit, dass im Zugang zu Bibliotheken, Arzneimitteln und Schauspielhäusern elementare Menschenrechte zum Ausdruck kommen. Der Deregulierung von Staatlichkeit, deren Institutionen tendenziell nur noch der Sicherung bestehender Herrschaft und mächtiger Wirtschaftsinteressen dienen, folgt zwangsläufig auch die Deregulierung der Menschenrechte.

Weltordnungskrieg

Im Zuge der Globalisierung und dem Wegfall der bipolaren Welt hat sich die alte Ost-West-Konfliktachse in eine Auseinandersetzung zwischen einem reichen "global north" und einem in Armut versinkenden "global south" verschoben.

Schon kurz nach dem Fall der Berliner Mauer warnte der große mexikanische Dichter Carlos Fuentes davor, dass die Idee der Freiheit zur neo-liberalen Befreiung von jeder sozialen Verantwortung verkümmern und die Freiheitsrechte nicht mehr die Menschen zu ihrem Subjekt haben könnten, sondern nur noch den Handel, die Investitionen und den Kapitalverkehr. Weil es keinen politischen Gegner mehr gebe, mit dem man um das bessere Gesellschaftssystem streiten müsse, könne auch das nun konkurrenzlose eigene Modell Schritt für Schritt von der Idee der sozialen Gerechtigkeit gelöst werden.

Die Entwicklung der letzten Jahre zeigt, wie recht Carlos Fuentes mit seiner Warnung hatte. Tatsächlich drohen die Menschenrechte gänzlich von ihren sozialen Versprechen gelöst zu werden, um fortan wesentlich der Legitimation kapitalistischer Vorherrschaft zu dienen. Auffallend jedenfalls ist, dass die an die Länder des Südens gerichtete Forderung, endlich die Menschenrechte zu respektieren, fast immer mit der Forderung nach marktwirtschaftlichen Orientierung verknüpft ist. Vor allem die Neo-Konservativen in den USA haben die Gleichsetzung von Freiheitsrechten, Demokratie und entfesselten Märkten soweit perfektioniert, dass daraus ein umfassendes, kaum noch von außen zu erschütterndes moralisches Prinzip wurde. Dienen die Menschenrechte aber nur noch der Rechtfertigung eines globalen Wirtschaftsliberalismus, dann haben sie ihren schützenden und kritisch-emanzipatorischen Gehalt endgültig verloren.

Unter solchen Umständen entbehrt es nicht der Heuchelei, wenn Menschenrechtsforderungen ausgerechnet an Warlords und informelle Armeen gerichtet werden, die letztlich nur dafür sorgen, dass selbst die politisch und rechtlich ausgegrenzten Regionen der Welt noch gewinnbringend ausgebeutet werden können. Das Gros der sogenannten "neuen Kriege", die über einen illegalen Handel mit Tropenholz, Drogen, Diamanten, Öl oder Coltan in Gang gehalten werden, sind durchaus im Interesse des industrialisierten Nordens.

Der Bezugsrahmen für das humanitäre Engagement und die Menschenrechte wird sich in den nächsten Jahren gänzlich verändern. Mehr und mehr droht die Grenze zwischen Macht und Moral zu verschwimmen. Gezielt umgeben sich die Mächtigen dieser Welt derzeit mit der Aura moralischer Verantwortung. Die Macht lädt sich mit Moral auf, um das Recht brechen zu können. Das war im Kosovo der Fall und hat sich nun im Irak-Krieg wiederholt. Große Anstrengungen unternehmen Think-Tanks wie das American Enterprise Institut, um die Stimmung in der Bevölkerung entsprechend zu steuern.

Die Botschaft ist simple und perfide: Die Welt steht am Abgrund, Terror und Verderben überall. Wir garantieren Euch ein Überleben, dafür aber müsst ihr auf einen Teil Eurer Rechte verzichten und eben bereit sein, die eigene Sicherheit am Hindukusch zu verteidigen.

Aus der prekären Versöhnung von Macht und Moral resultiert eine Art "Moral mit Anschlußzwang", die nicht mehr auf dem Urteil von vernünftigen Subjekten gründet, sondern auf einer manipulierenden Vermengung von Information und Meinung. Alle sind überzeugt, dass wir uns sozialstaatliche Leistungen und öffentliche Güter nicht mehr leisten können, obwohl doch der gesellschaftliche Reichtum nie so groß war wie heute.

Bleiben solche Verhältnisse unwidersprochen, wird der Druck auf Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen fraglos noch zunehmen. Die Ankündigung des American Enterprise Institute, ein NGO-Watch einzurichten, mag manchem noch skurril anmuten; andere sehen darin Vorboten einer Entwicklung, die es NGOs künftig ganz schön schwer machen wird, auf eigenständige Strategien und gesellschaftspolitische Visionen zu bestehen.

MR-Politik und das humanitäre Engagement drohen zur Geisel einer komplexen Sicherheitspolitik zu werden. Dabei verkümmert das Streben nach sozialer Gerechtigkeit zur Früherkennung von Systemstörungen, die bekämpft werden, um die Spaltung der Welt in Reiche und Arme, Machtvolle und Machtlose, Privilegierte und Gedemütigte aufrechtzuerhalten.

Bleibt zu fragen, wie diesem unseligen Prozess Einhalt geboten werden kann. Drei Vorschläge will ich dazu abschließend machen.

Erstens:

Wir sollten unbedingt auf der Unteilbarkeit der Menschenrechte bestehen und es nicht zulassen, dass der Sozialabbau etwa mit dem Argument gerechtfertigt wird, nur so sei die Freiheit zu erhalten. Im Gegenteil: Freiheit und soziale Gerechtigkeit sind nicht Gegensätze, sondern bedingen sich einander.

Zweitens

Statt das eigene Handeln immer weiter zu entpolitisieren, muss es um ein gerade um eine Repolitisierung des Umgangs mit den Menschenrechten gehen. Auch die humanitäre Hilfe ist keine unpolitische Veranstaltung, wie so manche Hilfsorganisation uns glauben machen will. Zwar wirkt der gute alte Appell: Gibst Du dem Hungerenden einen Fisch ist er einen Tag satt, lehrst Du ihn Fischen, ist er immer satt, angesichts der in den Medien immer wieder gefeierten modernen Helfern, die nicht lange über Hintergründe nachdenken, sondern unmittelbar zupacken, ein wenig angestaubt, doch hat er nichts an Aktualität eingebüßt.

Es war der kürzlich verstorbene französische Soziologe Pierre Bourdieu, der überzeugend darauf aufmerksam gemacht hat, dass die globale Entfesselung der Ökonomie nur deshalb so widerspruchslos umgesetzt werden konnte, weil sie sich mit der Aura ökonomischer Sachzwänge umgeben konnte. Die Globalisierung aber ist keine Zwangsläufigkeit, die keine Raum mehr für Politik ließe, sondern folgt selbst einer Politik. Diese Politik nannte Bourdieu - scheinbar paradox - eine Politik der Entpolitisierung, die uns weismachen will, zu den Sachzwängen gebe es keine Alternative.

Weil es aber nicht stimmt, dass es zur neo-liberalen Umgestaltung der Welt keine Alternative gibt und auch der weltweite Sozialabbau nicht unverrückbaren ökonomischen Sachzwängen folgt, muss es darum gehen, die Politik und das politische Denken gegen die Politik der Entpolitisierung wiederherzustellen.

Beispielsweise sollten wir nicht zulassen, wie im Zuge der neoliberalen Auflösung staatlicher Sozialpolitik auch die Idee eines gesellschaftlich garantierten Beistandes für Menschen in Not unter Druck gerät. Es würde einen zivilisatorischen Rückfall bedeuten, wenn heute an die Stelle des in den UN-Konventionen niedergelegten Rechtes jedes Menschen auf soziale Sicherung wieder die barmherzige Geste als Regelfall von Hilfe trete bzw. soziale Sicherung an familiäre bzw. klientelistische Strukturen delegiert würde. Dieser Re-Feudalisierung von Hilfe entgegenzuwirken, das wäre schon eine Aufgabe in einer Welt, die mit der Demokratisierung ihrer Verhältnisse endlich Ernst macht.

Schließlich;

an Hannah Arendt erinnernd, dass Menschenrechte keine abstrakte Rechtsnormen, die man vor einem imaginären Weltgericht einklagen könne, muss es darum gehen, den Schutz der MR sozusagen "von unten" zu erneuern.

Tatsächlich spricht vieles dafür, dass die internationale Öffentlichkeit diese Herausforderung angenommen hat. Globalisierungskritische Intellektuelle, Schriftstellerverbände, international vernetzte Nicht-Regierungsorganisationen, Gewerkschaften, Kirchen und eine Vielzahl von regionalen und lokalen Selbsthilfeprojekte sind in die institutionelle Lücke, die die Globalisierung geschlagen hat, vorgedrungen und pochen nun auf eine politische und materielle Fundierung der Menschenrechte.

Dieser "neuen globalen Bewegung" obliegt heute eine doppelte Verantwortung. Sie muss einerseits ihr eigenes Engagement für neue Lebens- und Kommunikationsformen immer stärker an den Menschenrechten ausrichten Und andererseits aufmerksam darüber wachen, dass der öffentliche Menschenrechtsdiskurs nicht nur partikulare Machtinteressen verschleiert, sondern tatsächlich davon zeugt, dass das Bemühen um eine Gesellschaft auf der Tagesordnung steht, in der, so Marx, "die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist".

* Thomas Gebauer, Frankfurt a.M., ist Geschäftsführer von medico international. Beim vorliegenden Manuskript handelt es sich um den Gastvortrag, den Thomas Gebauer bei der Jahresauftaktveranstaltung des Kasseler Friedensforums am 22. Januar 2004 in Kassel gehalten hat.


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