Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Für eine Abkehr von der Politik der "globalen Apartheid"

Heiko Kauffmann (Pro Asly) plädiert für eine andere Menschenrechtspolitik

Wir dokumentieren im Folgenden die Rede des Preisträgers des Aaachener Friedenspreises 2001, Heiko Kauffmann, leicht gekürzt. Gehalten wurde die Rede am 1. September 2001.

Das vergangene 20. Jahrhundert, das Jahrhundert der Flüchtlinge, der Kriege und der Barbarei, hat uns wie kein anderes zuvor offenbart, wie brüchig der Boden, wie dünn der Firnis der Zivilisation noch immer ist. Auch heute toben in der Welt 35 Kriege, die Menschenrechte werden in über 140 Staaten verletzt, in 125 Staaten gibt es Folter und Misshandlung, und noch immer ist kein Ende der Flucht, der Flucht von Millionen von Menschen, absehbar: 25 Millionen, die vor Krieg, Gewalt, Terror und Menschenrechtsverletzungen ihre Heimat verlassen mussten; noch einmal 25 Millionen "Binnenflüchtlinge", die keine Staatsgrenze überschritten haben; und noch einmal das Dreifache dieser Zahl, geschätzte 150 Millionen Menschen auf der Suche nach Arbeit - "reguläre" erwünschte Einwanderer oder "irreguläre" Migrant/-innen, illegalisierte oder "heimliche Menschen" ohne Papiere.

Wie oft schon wurde die Überwindung der globalen Apartheid angemahnt, die noch immer Hauptursache für Menschenrechtsverletzungen, Kriege, Flucht und Migration ist. Die Auslieferung der Welt an die ungebremsten Gesetze des Marktes kann auch zu einer Erosion der rechts-staatlichen Demokratien beitragen. Wenn keine Korrekturen erfolgen, droht ein neues Jahrhundert der Flüchtlinge, das die Massenvertreibungen und den Terror des 20. Jahrhunderts noch in den Schatten stellen könnte - wenn rechtliche, soziale und humanitäre Errungenschaften, die eine Antwort auf die schrecklichen Erfahrungen des vergangenen Jahrhunderts waren, weiterhin auf den Altären der Macht und des Marktes geopfert werden.

Gestern hat die Menschenrechtskommissarin der Vereinten Nationen, Mary Robinson, im südafrikanischen Durban die Weltkonferenz gegen Rassismus eröffnet. Resolutionsentwürfe für diese Konferenz weisen auf die Millionen Opfer des zeitgenössischen Rassismus, der ethnischen Diskriminierungen und Menschenrechtsverletzungen, aber auch auf externe Eingriffe hin: Ausbeutung der Rohstoffe, Waffenhandel und die Auslandsverschuldung.

Rassismus zeigt sich auch in ökonomischen und strukturellen Bedingungen wie Handelsbeziehungen oder dem Austausch von Gütern und Dienstleistungen, wenn zwischen den Beteiligten keine Partnerschaft, sondern ein System permanenter Dominanz bzw. einseitiger Abhängigkeit besteht.

Fremdenfeindlichkeit und Rassismus sind somit nicht nur Ausdruck eines Konflikts im Zusammenleben zwischen Deutschen und Einwanderern oder Flüchtlingen aus fremden Ländern; sie sind auch Symptome, Bestandteile und Auswirkungen eines ökonomischen, rechtlichen und sozialen Systems, das auf Dominanz über und damit notwendigerweise auf Abschottung gegen und Ausgrenzung gegenüber Fremden beruht.

Vor diesem weltwirtschaftlichen und -sozialen Hintergrund mutet die in Deutschland geführte Debatte zur Einwanderung, über die von den Parteien, von der Süssmuth-Kommission und vom Innenminister vorgelegten Entwürfe seltsam verkürzt und eindimensional an.

Wo der Verwertungsbedarf der deutschen Wirtschaft vorrangig über die "Bedarfsware Mensch" entscheidet, da wird Nützlichkeit über Menschenrechte gestellt.

Wo die Süssmuth-Kommission noch einen Paradigmenwechsel in der Einwanderungspolitik anmahnt und wenigstens - wenn auch nur am Rande - die "Schutzlücke" bei nichtstaatlicher und geschlechtsspezifischer Verfolgung, die Situation minderjähriger Flüchtlinge, die Probleme der in Deutschland "illegalisierten" Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus anspricht, da bedient der Entwurf Schily's nur noch das Ausleseprinzip des besten Nutzens für die Wirtschaft; in der Flüchtlingspolitik bleibt er weitgehend der unheilvollen Kontinuität polizeirechtlicher Gefahrenabwehr und staatlich legalisierter Ausgrenzung verhaftet.

Strikte Orientierung am Arbeitsmarkt, Zuzug für Höchstqualifizierte einerseits - alarmierende Einschränkungen beim Asylrecht, Straffung der Verfahren, Überprüfung des Asyls nach drei Jahren, weiter eingeschränkte Leistungen für die gesamte Verfahrensdauer, schnellere Abschie-bung andererseits. Die Verlierer dieses Konzepts sind die Flüchtlinge und der demokratische Rechtsstaat! Dieser Entwurf jedenfalls markiert keinen Paradigmenwechsel - allenfalls einen ökonomisch bedingten Richtungswechsel.

Paradigmenwechsel meint: weg von einer einseitigen gespaltenen, rationalistischen hin zu einer ganzheitlichen Weltsicht gelangen.

Gefragt ist nicht nur ein anderer Blickwinkel, sondern ein Einstellungswandel, der sich völkerrechtlich und menschenrechtsorientiert auch nach Problemlagen anderer Länder richtet, aus denen Menschen zu uns kommen; der auch deren Bedürfnisse, Gründe und Motive ernst nimmt.

... Hier sind nicht nur die Fragen nach den Folgen von Flucht und Migration für die Aufnahmeländer zu stellen, sondern auch nach den Verwerfungen in den Herkunftsländern, mit irreversiblen Folgen für Millionen von Menschen, die auf keinem G-7-/G-8-Gipfel vertreten werden. Die Frage, die Klage, die immer eindringlicher werdende Forderung der Mehrheit der Menschheit - für die Seattle, Göteborg, Genua nur ein Synonym ist - wird immer deutlicher, immer unüberhörbarer sein: Die Frage nach der Gerechtigkeit in der viel beschworenen "Einen Welt": Ist nicht endlich die Zeit gekommen, die Wirtschaft in den Dienst der Menschen zu stellen, anstatt ganze Gesellschaften in den Dienst eines ökonomischen Modells, das die Kluft zwischen himmelschreiender Armut und schamlosem Wohlstand für eine immer größere Zahl von Menschen nicht verringert, sondern weiter vergrößert?

Auch Deutschland und seine Regierung tragen in dem Maße Verantwortung für Migrations- und Flüchtlingsbewegungen, wie die deutsche Politik fortwährend selbst Ursachenfaktor für die Verarmung der Herkunftsländer in der Dritten Welt und anderswo ist - etwa durch ihr Abstim-mungsverhalten in den internationalen Institutionen; etwa durch Kürzung des Haushalts für Entwicklungszusammenarbeit auf einen blamablen historischen Tiefststand von 0,27 Prozent des Bruttosozialprodukts oder etwa durch die Zusammenarbeit und Unterstützung von Staaten mit gravierenden Menschenrechtsverletzungen (wie der Türkei) durch Waffenexporte und Waffenlieferungen. In der Politik gegenüber anderen Menschen und Völkern wird eine Einstellung sichtbar, die auch das Klima innerhalb unserer Gesellschaft infiziert: Dass für andere Menschen aus anderen Ländern nicht gilt oder nicht gelten soll, was Europa, was unsere Verfassung als Menschenwürde definiert und schützt!

Wer ein künftiges Europa ernsthaft als "einen Raum der Freiheit, Würde und Sicherheit in der Tradition europäischer Werte" gestalten will, der muss diese Freiheit, diese Würde und diese Sicherheit allen hier lebenden Menschen zubilligen: Mensch gleich Mensch, Würde gleich Würde, Freiheit gleich Freiheit, Sicherheit gleich Sicherheit, Gleichheit gleich Gleichwertigkeit, Menschenrecht gleich Menschenrecht: Daraus legitimiert sich unsere politische Ordnung, aus der Würde des Menschen und aus den Menschenrechten. Und das muss gelebt werden, sonst wird die politische Ordnung brüchig, ist ihre Legitimierung und Legitimität in Frage gestellt.

Was bleibt von der Würde des Menschen, wenn die Mindestbedingungen menschenwürdiger Existenz per Gesetz für Flüchtlinge nicht gelten?

Was bleibt von der Freiheit des Menschen, wenn ihm per Gesetz auferlegt wird, seinen Wohnsitz nicht verlassen zu dürfen, wenn ihm - wie Flüchtlingen durch die sog. Residenzpflicht - willkür-lich Grenzen gesetzt werden?

Wo sind Fürsorge und Verantwortung einer Gesellschaft, die Flüchtlingskindern den ihnen verbürgten Schutz nach der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen noch immer vorenthält?

Am Menschenrechtstag des vergangenen Jahres habe ich die deutsche Abschiebepraxis scharf kritisiert und die Behandlung der Flüchtlinge in diesem Zusammenhang als "Spiegelbild des gesellschaftlich transportierten und akzeptierten Rassismus" bezeichnet; sofort schallte es aus dem Innenministerium zurück "Diffamierung"! Die Flüchtlingspolitik Deutschlands sei vielmehr - so der Sprecher von Innenminister Schily - "ein Spiegelbild des Humanismus"!

Über 40 Menschen, die sich seit 1993 in der Abschiebungshaft selbst oder aus Angst vor ihrer Abschiebung das Leben genommen haben - ein "Spiegelbild des Humanismus"?

Hunderte von Menschen, die versuchten, sich das Leben zu nehmen und oft nur schwer verletzt überlebten; nicht gezählt diejenigen, die innerlich verletzt, gebrochen und resigniert zwangsweise abgeschoben wurden: "ein Spiegelbild des Humanismus"?

Abschiebungshaft in monströsen Festungsanlagen, hinter sechs Meter hohen Betonmauern, eingefasst in Stacheldraht und umgeben mit moderner Sicherheitstechnik - sinnbildliche Monumente der "Festung Europa": "ein Spiegelbild des Humanismus"?

Über 35 kurdische Flüchtlinge, die nachweislich (von Pro Asyl und dem Niedersächsischen Flüchtlingsrat dokumentiert) nach ihrer Abschiebung aus Deutschland in der Türkei erneut verhaftet, gefoltert oder bedroht und schikaniert wurden - ganz gewiss nur die "Spitze eines Eis-bergs" - die deutsche Abschiebepolitik: ein "Spiegelbild des Humanismus"?

... Rassismus hat viele Gesichter! Wer ernsthaft und glaubhaft gegen Rechtsextremismus vorgehen will, muss Flüchtlingen und Migranten/-innen endlich Rechte geben und aufhören, sie per Gesetz zu Menschen zweiter Klasse zu machen.

Der Kampf gegen Rechtsextremismus, der Schutz der Menschenwürde beginnt bei den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, bei den politischen und rechtlichen Vorgaben für Minderheiten, Flüchtlinge und Migranten/-innen in diesem Land.

Auch Toleranz und Akzeptanz sind nicht allein Ergebnis von Bildung, Kultur und Religion. Wer Toleranz und Akzeptanz als Säulen unserer Demokratie und Gesellschaft definiert und proklamiert, der muss das Fundament auch bestellen, das diese Säulen trägt.

Sie müssen in Recht und Gesetz verankert sein, um nicht nur den Einzelnen zu fordern, sondern um die Allgemeinheit, die Gesellschaft und insbesondere die Politik und den Gesetzgeber zu binden und auf sich zu verpflichten.

Die universelle Sicherung der Menschenrechte, die Verwirklichung humaner Lebensbedingungen für alle Menschen muss zum Maßstab jeder Politik werden:
  • das Recht jedes Menschen, menschenwürdig leben zu können,
  • das Recht zu arbeiten wie ein Mensch,
  • lernen zu können wie ein Mensch,
  • zu wohnen wie ein Mensch,
  • sich frei bewegen zu können wie ein Mensch und wie jeder - hier oder dort geboren, schwarz oder weiß, Christ oder Moslem - am gesellschaftlichen Leben gleichberechtigt teilhaben zu können!
Eine Politik der Menschenwürde verlangt heute, dass die gesellschaftlichen Institutionen die Selbstachtung der Menschen nicht verletzen, d. h. dass sie die Menschen vor der schrecklichen Erfahrung der Erniedrigung bewahren.

Wenn es der Politik heute wirklich um die universelle Durchsetzung individueller Menschenrechte, um den Vorrang der Menschenrechte vor staatlicher Macht geht, dann müssen alle Bemühungen darauf gerichtet sein, die international bereits fixierten Völkerrechtsabkommen und Konventionen zur vollen Entfaltung zu bringen und durch weitere Instrumente (Individual-Beschwerde, internationale Berichterstattung, Überprüfung der Umsetzung) ein verbindliches Reglement im Rahmen einer internationalen Menschenrechts- und Völkerrechtsordnung zu schaffen.

Wenn es uns in diesem Jahrhundert nicht gelingt, von der proklamierten Universalität der Menschenrechte zur Realität ihrer Anerkennung, d. h. zu ihrer praktischen Umsetzung weltweit zu gelangen, wäre dies nicht nur ein historischer Skandal, der das Menschenbild und den Humanitätsanspruch Deutschlands, Europas und der westlichen Welt gänzlich in Frage stellt.

Es wäre auch die Bankrotterklärung und Kapitulation des Projekts der rechtsstaatlichen Demokratie vor der Allmacht des Marktes und der Repression zunehmend autoritär gelenkter Gesellschaften.

Die Erfahrungen des vergangenen "Jahrhunderts der Flüchtlinge", der Kriege und der Barbarei zeigen deutlich: Recht kann nur dann die Schwachen schützen, wenn es die Starken wirksam bindet. Aus der Stärke des Rechts darf niemals wieder ein Recht des Stärkeren werden. ...

Zurück zur Seite "Menschenrechte"

Zur Themenseite "Rassismus"

Zurück zur Homepage