Für eine Abkehr von der Politik der "globalen Apartheid"
Heiko Kauffmann (Pro Asly) plädiert für eine andere Menschenrechtspolitik
Wir dokumentieren im Folgenden die Rede des Preisträgers des Aaachener Friedenspreises 2001, Heiko Kauffmann, leicht gekürzt. Gehalten wurde die Rede am 1. September 2001.
Das vergangene 20. Jahrhundert, das Jahrhundert der Flüchtlinge, der Kriege und
der Barbarei, hat uns wie kein anderes zuvor offenbart, wie brüchig der Boden, wie
dünn der Firnis der Zivilisation noch immer ist. Auch heute toben in der Welt 35
Kriege, die Menschenrechte werden in über 140 Staaten verletzt, in 125 Staaten
gibt es Folter und Misshandlung, und noch immer ist kein Ende der Flucht, der
Flucht von Millionen von Menschen, absehbar: 25 Millionen, die vor Krieg, Gewalt,
Terror und Menschenrechtsverletzungen ihre Heimat verlassen mussten; noch
einmal 25 Millionen "Binnenflüchtlinge", die keine Staatsgrenze überschritten
haben; und noch einmal das Dreifache dieser Zahl, geschätzte 150 Millionen
Menschen auf der Suche nach Arbeit - "reguläre" erwünschte Einwanderer oder
"irreguläre" Migrant/-innen, illegalisierte oder "heimliche Menschen" ohne Papiere.
Wie oft schon wurde die Überwindung der globalen Apartheid angemahnt, die noch
immer Hauptursache für Menschenrechtsverletzungen, Kriege, Flucht und
Migration ist. Die Auslieferung der Welt an die ungebremsten Gesetze des Marktes
kann auch zu einer Erosion der rechts-staatlichen Demokratien beitragen. Wenn
keine Korrekturen erfolgen, droht ein neues Jahrhundert der Flüchtlinge, das die
Massenvertreibungen und den Terror des 20. Jahrhunderts noch in den Schatten
stellen könnte - wenn rechtliche, soziale und humanitäre Errungenschaften, die
eine Antwort auf die schrecklichen Erfahrungen des vergangenen Jahrhunderts
waren, weiterhin auf den Altären der Macht und des Marktes geopfert werden.
Gestern hat die Menschenrechtskommissarin der Vereinten Nationen, Mary
Robinson, im südafrikanischen Durban die Weltkonferenz gegen Rassismus
eröffnet. Resolutionsentwürfe für diese Konferenz weisen auf die Millionen Opfer
des zeitgenössischen Rassismus, der ethnischen Diskriminierungen und
Menschenrechtsverletzungen, aber auch auf externe Eingriffe hin: Ausbeutung der
Rohstoffe, Waffenhandel und die Auslandsverschuldung.
Rassismus zeigt sich auch in ökonomischen und strukturellen Bedingungen wie
Handelsbeziehungen oder dem Austausch von Gütern und Dienstleistungen, wenn
zwischen den Beteiligten keine Partnerschaft, sondern ein System permanenter
Dominanz bzw. einseitiger Abhängigkeit besteht.
Fremdenfeindlichkeit und Rassismus sind somit nicht nur Ausdruck eines Konflikts
im Zusammenleben zwischen Deutschen und Einwanderern oder Flüchtlingen aus
fremden Ländern; sie sind auch Symptome, Bestandteile und Auswirkungen eines
ökonomischen, rechtlichen und sozialen Systems, das auf Dominanz über und
damit notwendigerweise auf Abschottung gegen und Ausgrenzung gegenüber
Fremden beruht.
Vor diesem weltwirtschaftlichen und -sozialen Hintergrund mutet die in
Deutschland geführte Debatte zur Einwanderung, über die von den Parteien, von
der Süssmuth-Kommission und vom Innenminister vorgelegten Entwürfe seltsam
verkürzt und eindimensional an.
Wo der Verwertungsbedarf der deutschen Wirtschaft vorrangig über die
"Bedarfsware Mensch" entscheidet, da wird Nützlichkeit über Menschenrechte
gestellt.
Wo die Süssmuth-Kommission noch einen Paradigmenwechsel in der
Einwanderungspolitik anmahnt und wenigstens - wenn auch nur am Rande - die
"Schutzlücke" bei nichtstaatlicher und geschlechtsspezifischer Verfolgung, die
Situation minderjähriger Flüchtlinge, die Probleme der in Deutschland
"illegalisierten" Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus anspricht, da bedient der
Entwurf Schily's nur noch das Ausleseprinzip des besten Nutzens für die
Wirtschaft; in der Flüchtlingspolitik bleibt er weitgehend der unheilvollen Kontinuität
polizeirechtlicher Gefahrenabwehr und staatlich legalisierter Ausgrenzung verhaftet.
Strikte Orientierung am Arbeitsmarkt, Zuzug für Höchstqualifizierte einerseits -
alarmierende Einschränkungen beim Asylrecht, Straffung der Verfahren,
Überprüfung des Asyls nach drei Jahren, weiter eingeschränkte Leistungen für die
gesamte Verfahrensdauer, schnellere Abschie-bung andererseits. Die Verlierer
dieses Konzepts sind die Flüchtlinge und der demokratische Rechtsstaat! Dieser
Entwurf jedenfalls markiert keinen Paradigmenwechsel - allenfalls einen
ökonomisch bedingten Richtungswechsel.
Paradigmenwechsel meint: weg von einer einseitigen gespaltenen, rationalistischen
hin zu einer ganzheitlichen Weltsicht gelangen.
Gefragt ist nicht nur ein anderer Blickwinkel, sondern ein Einstellungswandel, der
sich völkerrechtlich und menschenrechtsorientiert auch nach Problemlagen anderer
Länder richtet, aus denen Menschen zu uns kommen; der auch deren Bedürfnisse,
Gründe und Motive ernst nimmt.
... Hier sind nicht nur die Fragen nach den Folgen von Flucht und Migration für die
Aufnahmeländer zu stellen, sondern auch nach den Verwerfungen in den
Herkunftsländern, mit irreversiblen Folgen für Millionen von Menschen, die auf
keinem G-7-/G-8-Gipfel vertreten werden. Die Frage, die Klage, die immer
eindringlicher werdende Forderung der Mehrheit der Menschheit - für die Seattle,
Göteborg, Genua nur ein Synonym ist - wird immer deutlicher, immer
unüberhörbarer sein: Die Frage nach der Gerechtigkeit in der viel beschworenen
"Einen Welt": Ist nicht endlich die Zeit gekommen, die Wirtschaft in den Dienst der
Menschen zu stellen, anstatt ganze Gesellschaften in den Dienst eines
ökonomischen Modells, das die Kluft zwischen himmelschreiender Armut und
schamlosem Wohlstand für eine immer größere Zahl von Menschen nicht
verringert, sondern weiter vergrößert?
Auch Deutschland und seine Regierung tragen in dem Maße Verantwortung für
Migrations- und Flüchtlingsbewegungen, wie die deutsche Politik fortwährend
selbst Ursachenfaktor für die Verarmung der Herkunftsländer in der Dritten Welt
und anderswo ist - etwa durch ihr Abstim-mungsverhalten in den internationalen
Institutionen; etwa durch Kürzung des Haushalts für Entwicklungszusammenarbeit
auf einen blamablen historischen Tiefststand von 0,27 Prozent des
Bruttosozialprodukts oder etwa durch die Zusammenarbeit und Unterstützung von
Staaten mit gravierenden Menschenrechtsverletzungen (wie der Türkei) durch
Waffenexporte und Waffenlieferungen. In der Politik gegenüber anderen Menschen
und Völkern wird eine Einstellung sichtbar, die auch das Klima innerhalb unserer
Gesellschaft infiziert: Dass für andere Menschen aus anderen Ländern nicht gilt
oder nicht gelten soll, was Europa, was unsere Verfassung als Menschenwürde
definiert und schützt!
Wer ein künftiges Europa ernsthaft als "einen Raum der Freiheit, Würde und
Sicherheit in der Tradition europäischer Werte" gestalten will, der muss diese
Freiheit, diese Würde und diese Sicherheit allen hier lebenden Menschen
zubilligen: Mensch gleich Mensch, Würde gleich Würde, Freiheit gleich Freiheit,
Sicherheit gleich Sicherheit, Gleichheit gleich Gleichwertigkeit, Menschenrecht
gleich Menschenrecht: Daraus legitimiert sich unsere politische Ordnung, aus der
Würde des Menschen und aus den Menschenrechten. Und das muss gelebt
werden, sonst wird die politische Ordnung brüchig, ist ihre Legitimierung und
Legitimität in Frage gestellt.
Was bleibt von der Würde des Menschen, wenn die Mindestbedingungen
menschenwürdiger Existenz per Gesetz für Flüchtlinge nicht gelten?
Was bleibt von der Freiheit des Menschen, wenn ihm per Gesetz auferlegt wird,
seinen Wohnsitz nicht verlassen zu dürfen, wenn ihm - wie Flüchtlingen durch die
sog. Residenzpflicht - willkür-lich Grenzen gesetzt werden?
Wo sind Fürsorge und Verantwortung einer Gesellschaft, die Flüchtlingskindern
den ihnen verbürgten Schutz nach der Kinderrechtskonvention der Vereinten
Nationen noch immer vorenthält?
Am Menschenrechtstag des vergangenen Jahres habe ich die deutsche
Abschiebepraxis scharf kritisiert und die Behandlung der Flüchtlinge in diesem
Zusammenhang als "Spiegelbild des gesellschaftlich transportierten und
akzeptierten Rassismus" bezeichnet; sofort schallte es aus dem Innenministerium
zurück "Diffamierung"! Die Flüchtlingspolitik Deutschlands sei vielmehr - so der
Sprecher von Innenminister Schily - "ein Spiegelbild des Humanismus"!
Über 40 Menschen, die sich seit 1993 in der Abschiebungshaft selbst oder aus
Angst vor ihrer Abschiebung das Leben genommen haben - ein "Spiegelbild des
Humanismus"?
Hunderte von Menschen, die versuchten, sich das Leben zu nehmen und oft nur
schwer verletzt überlebten; nicht gezählt diejenigen, die innerlich verletzt,
gebrochen und resigniert zwangsweise abgeschoben wurden: "ein Spiegelbild des
Humanismus"?
Abschiebungshaft in monströsen Festungsanlagen, hinter sechs Meter hohen
Betonmauern, eingefasst in Stacheldraht und umgeben mit moderner
Sicherheitstechnik - sinnbildliche Monumente der "Festung Europa": "ein
Spiegelbild des Humanismus"?
Über 35 kurdische Flüchtlinge, die nachweislich (von Pro Asyl und dem
Niedersächsischen Flüchtlingsrat dokumentiert) nach ihrer Abschiebung aus
Deutschland in der Türkei erneut verhaftet, gefoltert oder bedroht und schikaniert
wurden - ganz gewiss nur die "Spitze eines Eis-bergs" - die deutsche
Abschiebepolitik: ein "Spiegelbild des Humanismus"?
... Rassismus hat viele Gesichter! Wer ernsthaft und glaubhaft gegen
Rechtsextremismus vorgehen will, muss Flüchtlingen und Migranten/-innen endlich
Rechte geben und aufhören, sie per Gesetz zu Menschen zweiter Klasse zu
machen.
Der Kampf gegen Rechtsextremismus, der Schutz der Menschenwürde beginnt bei
den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, bei den politischen und rechtlichen
Vorgaben für Minderheiten, Flüchtlinge und Migranten/-innen in diesem Land.
Auch Toleranz und Akzeptanz sind nicht allein Ergebnis von Bildung, Kultur und
Religion. Wer Toleranz und Akzeptanz als Säulen unserer Demokratie und
Gesellschaft definiert und proklamiert, der muss das Fundament auch bestellen,
das diese Säulen trägt.
Sie müssen in Recht und Gesetz verankert sein, um nicht nur den Einzelnen zu
fordern, sondern um die Allgemeinheit, die Gesellschaft und insbesondere die
Politik und den Gesetzgeber zu binden und auf sich zu verpflichten.
Die universelle Sicherung der Menschenrechte, die Verwirklichung humaner
Lebensbedingungen für alle Menschen muss zum Maßstab jeder Politik werden:
-
das Recht jedes Menschen, menschenwürdig leben zu können,
- das Recht zu arbeiten wie ein Mensch,
- lernen zu können wie ein Mensch,
- zu wohnen wie ein Mensch,
- sich frei bewegen zu können wie ein Mensch und wie jeder - hier oder dort geboren, schwarz oder weiß, Christ oder Moslem -
am gesellschaftlichen Leben gleichberechtigt teilhaben zu können!
Eine Politik der Menschenwürde verlangt heute, dass die gesellschaftlichen
Institutionen die Selbstachtung der Menschen nicht verletzen, d. h. dass sie die
Menschen vor der schrecklichen Erfahrung der Erniedrigung bewahren.
Wenn es der Politik heute wirklich um die universelle Durchsetzung individueller
Menschenrechte, um den Vorrang der Menschenrechte vor staatlicher Macht geht,
dann müssen alle Bemühungen darauf gerichtet sein, die international bereits
fixierten Völkerrechtsabkommen und Konventionen zur vollen Entfaltung zu bringen
und durch weitere Instrumente (Individual-Beschwerde, internationale
Berichterstattung, Überprüfung der Umsetzung) ein verbindliches Reglement im
Rahmen einer internationalen Menschenrechts- und Völkerrechtsordnung zu
schaffen.
Wenn es uns in diesem Jahrhundert nicht gelingt, von der proklamierten
Universalität der Menschenrechte zur Realität ihrer Anerkennung, d. h. zu ihrer
praktischen Umsetzung weltweit zu gelangen, wäre dies nicht nur ein historischer
Skandal, der das Menschenbild und den Humanitätsanspruch Deutschlands,
Europas und der westlichen Welt gänzlich in Frage stellt.
Es wäre auch die Bankrotterklärung und Kapitulation des Projekts der
rechtsstaatlichen Demokratie vor der Allmacht des Marktes und der Repression
zunehmend autoritär gelenkter Gesellschaften.
Die Erfahrungen des vergangenen "Jahrhunderts der Flüchtlinge", der Kriege und
der Barbarei zeigen deutlich: Recht kann nur dann die Schwachen schützen, wenn
es die Starken wirksam bindet. Aus der Stärke des Rechts darf niemals wieder ein
Recht des Stärkeren werden. ...
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