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Undefinierbare Menschenrechte – für jeden etwas?

Von Norman Paech *

Einen Konsens über Menschenrechte hat es nie gegeben. Darauf weist die Tatsache hin, dass sie weder in der Völkerbundsatzung noch in der Charta der Vereinten Nationen verankert werden konnten. Der Streitpunkt waren die sozialen und ökonomischen Menschenrechte, die seit der russischen Revolution auf die Tagesordnung gesetzt worden waren, die aber von den Westmächten nicht anerkannt wurden. Deshalb akzeptierten Churchill und Roosevelt den Vorschlag Stalins, es bei der allgemeinen Erwähnung in der UN-Charta zu belassen. Der Dissens wurde auch 1966 in den beiden getrennten Pakten über bürgerliche und politische und über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte nicht überwunden sondern nur bestätigt. Die sozialen und wirtschaftlichen Rechte standen und stehen immer noch quer zur kapitalistischen Verfassung der westlichen Ökonomien, deren politische Repräsentanten ihnen daher die gleiche normative Qualität wie den politischen Rechten bestreiten mussten. Dieses ist der zentrale Dissens. Neben ihm haben alle weiteren Auseinandersetzungen um ein außereuropäisches Menschenrechtsverständnis, um das Recht auf Frieden und Entwicklung oder um den internationalen Strafgerichtshof nur sekundäre Bedeutung.

Im Kalten Krieg: Grund für Rüstungsprogramme

Der Dissens war die Quelle, aus der Jimmy Carter gleich zu Beginn seiner Amtszeit 1977 die erste regierungsoffizielle „Menschenrechtskampagne“ schöpfte, um die „geistige Krise“ Amerikas zu überwinden, „zum geistigen Wiedererwachen des Westens“ beizutragen und die USA international wieder interventionsfähig zu machen, wie es sein Berater Zbigniew Brzezinski formulierte. Sie war vor allem ein antisowjetischer Treibsatz des Kalten Krieges und die Legitimation für neue Rüstungsprogramme, unter ihnen die Neutronenbombe. Den Menschenrechten nutzte sie nachweislich nichts. Sah man allerdings in der Sowjetunion die institutionalisierte Bedrohung der Menschenrechte und Inkarnation des Bösen, so musste ihre Beseitigung den Menschenrechten das Reich der Freiheit erschließen – woran nicht nur Carter und Reagan glaubten.

„Humanitäre Interventionen“ aggressiv definiert

Doch ist den Menschenrechten der Untergang der Sowjetunion nicht so gut bekommen, wie es die Ideologen des Westens versprochen hatten – mit dem Versprechen des Friedens verhielt es sich ebenso. Das ist vor allem in den letzten Jahren deutlich geworden, in denen sie von den kapitalistischen Staaten sowohl zur Legitimation ihres eigenen, weltweit nun konkurrenzlosen Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell eingesetzt werden, als auch zur Begründung militärischer, d.h. „humanitärer“ Interventionen in Randgebieten, die sich ihrem Herrschaftsanspruch bislang widersetzt haben.

Vor dem Untergang der Sowjetunion hatte die Identifizierung von Menschenrechten und Demokratie eher defensive gegen die sozialistische Alternative gerichtete Bedeutung. Nach dem Untergang haben die Menschenrechte eine zunehmend offensive ja aggressive Bestimmung gegen widerstrebende bzw. dem westlichen Herrschaftsanspruch feindlich gegenüberstehende Staaten erhalten. Die damit aus der völkerrechtlichen Verbannung wieder zurück geholte „humanitäre“ Intervention vermag sich zwar wie im Falle Jugoslawiens, Afghanistans, auch des Iraks und jetzt Libyens durchaus auf mehr oder weniger gravierende Verstöße gegen Menschenrechte berufen, diese finden sich aber ebenfalls im eigenen Herrschaftsbereich in vergleichbarer Weise (Türkei, Israel, AbuGraib, Bagram und Guantànamo) und spielen keinesfalls die Hauptrolle für die Begründung der Intervention.

Es ist inzwischen nicht mehr nur ein Verdacht, sondern gesicherte Erkenntnis, dass der entscheidende Auslöser all dieser Interventionen die geostrategische Sicherung lebenswichtiger Ressourcen ist, wie es nicht nur in der NATO-Strategie vom April 1999, sondern auch in der Nationalen Sicherheitsstrategie der Vereinigten Staaten vom September 2002 und in der Sicherheitsstrategie der EU von 2003 in aller Deutlichkeit ausgeführt worden ist. Denn der Zugang zu den weltweiten Ressourcen ist ein Stück Freiheit des Marktes und Freiheit des Handels, die zu den Essentialien der Demokratie und ihrer ökonomischen Grundordnung gehören. In diesem Sinn hat US-Präsident Bush seine Nationale Sicherheitsstrategie vom September 2002 u.a. mit den Sätzen eingeleitet:

„The United States will use this moment of opportunity to extend the benefits of freedom across the globe. We will actively work to bring the hope of democracy, development, free markets, and free trade to every corner of the world.“

Und sein Nachfolger Barak Obama schickt sich an, immer mehr in diese Fußstapfen zu treten. Vor den nackten ökonomischen Interessen der langfristigen Ressourcensicherung weht der Schleier von Demokratie, Entwicklung, freiem Markt und freiem Handel, denen problemlos die Menschenrechte als normative Inkarnation menschlicher Freiheit hinzufügt werden.

Moralisches Prinzip von kapitalistischer Freiheit

Die Identifikation von Menschenrechten, Demokratie und kapitalistischer Wirtschaftsordnung in einem moralischen Prinzip der Freiheit ist total. Sie ist damit bestens geeignet, eine ebenso totalitäre Botschaft für eine Weltordnung abzugeben, die ganz auf den imperialen Anspruch der dominierenden kapitalistischen Staaten zugeschnitten ist. Werden aber Menschenrechte und Demokratie immer offener auf die Freiheiten des kapitalistischen Verkehrs reduziert, verlieren sie ganz ihren emanzipatorischen Charakter und die Widersprüchlichkeit ihres politischen und sozialen Inhalts, die sie in den historischen Auseinandersetzung ihrer Durchsetzung ausgezeichnet haben. Sie dienen der Legitimation von Institutionen mit globalem Ordnungsanspruch, wie WTO, IWF und Weltbank, die sie als die zentralen Institutionen der Welthandelsordnung zu unangreifbaren Hütern der Freiheit, Förderern der ökonomischen Entwicklung und Promotoren der Demokratie stilisieren. Die Katastrophen der Armut und Unterentwicklung, der Staatsbankrotte, Kriege und Flüchtlingsströme müssen damit als kaum vermeidbare Kollateralschäden, letztlich als Preis der Freiheit und des Fortschritts in Kauf genommen werden.

„Westliche Wertegemeinschaft“ contra Völkerrecht

Schließlich – und dieses ist eine der gefährlichsten Entwicklungen der jüngsten Zeit – wird das Konglomerat von Rechten und Werten zwischen Markt und Demokratie zu einer Kampfformel verdichtet, welche wahlweise unter dem Begriff der „westlichen Wertegemeinschaft“ oder der „nationalen Sicherheit“ die Völkerrechtsordnung und die Verfassungen der Staaten unterlaufen soll. Im Namen der Menschenrechte und Demokratie werden Notstandssituationen ausgerufen, von denen behauptet wird, dass sie nur noch mittels militärischer Interventionen behoben werden können. Nicht nur, dass diese Interventionen immer offener auf die einzige Legitimation verzichten, die kriegerischen Einsätzen zu kommt, die UNO-Charta und das Völkerrecht, ihre Zerstörungen und Vernichtungen von materiellen Gütern und menschlichem Leben stehen immer weniger in einem vertretbaren Verhältnis zu den vorgeblichen Werten, die gerettet werden sollen.

Abgesehen von den Opfern und Schäden eines jeden Krieges, stellt die Erosion der formellen Völkerrechtsordnung durch eine nirgends kodifizierte Werteordnung eine erhebliche Gefährdung der internationalen Friedensordnung dar. Die Feinderklärung genügt, um Staaten als „rogue states“ zu stigmatisieren und sie damit unter Kriegsdrohung zu stellen und zu erpressen oder zu überfallen. Gaddafis Libyen, in den letzten Jahren von der „Achse des Bösen“ genommen, ist plötzlich wieder zum Feind erklärt worden, was die NATO offensichtlich dazu benutzt, ihre Vorstellungen von der Beseitigung des Feindes auch jenseits der durch die Resolution 1973 des UNO-Sicherheitsrates gesteckten Grenzen zu verfolgen. Der Mechanismus der Friedenssicherung, den die UNO-Charta mit dem VII. Kapitel dem UNO-Sicherheitsrat an die Hand gegeben hat, und damit die militärische Sanktion allein dem kollektiven Organ der UNO überantworten wollte, wird außer Kraft gesetzt und durch die Feinderklärung derjenigen Staaten ersetzt, die ihre militärische Überlegenheit gegenüber anderen Staaten ausspielen können. Hätte Libyen Atomwaffen, wäre es sicherer vor seinen alten Ölkunden gewesen. Das Kriterium der Intervention ist nicht mehr der Bruch oder die Gefährdung des Friedens wie in Art. 39 UNO-Charta, sondern das militärische Potenzial der intervenierenden Staaten.

Allen Beteiligten dürfte klar sein, dass dieses ein Rückfall hinter die UNO-Charta zurück in die unselige Zeit des Völkerbunds ist und der eigenen Beschwörung der rule of law und der Berufung auf die Menschenrechte Hohn spricht. Als Preis für die Durchsetzung ihres imperialistischen Herrschaftsanspruchs scheint er jedoch derzeit den USA und dem enger werdenden Kreis ihrer Alliierten in der NATO nicht zu hoch.

* Dr. Norman Paech, Hamburg, emer. Professor für Völkerrecht, von 2005 bis 2009 Mitglied des Deutschen Bundestags.


Dieser Beitrag erschien in: FriedensJournal, Nr. 3, Mai 2011, S. 3-4.

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