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Dass der Mensch frei sei ...

Zum Tag der Menschenrechte - Es begann mit Rousseaus Gesellschaftsvertrag

Von Hermann Klenner *

Es ist nicht die schlechteste Eigenschaft von Büchern, Kontroversen auszulösen. Sind diese größeren Umfangs, lassen sie vermuten, dass deren Autoren den Nerv der Zeit trafen, in den schärfsten gesellschaftlichen Gegensätzen Partei ergriffen oder in sie hineingezogen wurden.

Jean-Jacques Rousseaus »Du Contrat social«, erstmals 1762 in Amsterdam auf Französisch und bereits ein Jahr danach in Marburg auf Deutsch als »Gedanken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen« veröffentlicht, hat jedenfalls ein Für und Wider ohnegleichen entfacht. Von diesem Werk hatte sich ihr 50-jähriger Autor erhofft, dass es seinem Ruf die Krone aufsetzen werde. Tatsächlich aber wurde es sofort im monarchischen Frankreich, wo er wohnte, verboten; im republikanischen Genf, als dessen Bürger (»Citoyen de Geneve«) er firmierte, öffentlich verbrannt, und von Roms Kirche, der er für mehr als zwei Jahrzehnte angehört hatte, umgehend auf den Index gesetzt. Selbst der von ihm verehrte Voltaire grenzte sich ab: Dieses Buch verfasst zu haben, sei genauso verabscheuungswürdig wie seine Verbrennung. Und noch heute gehört Rousseaus »Gesellschaftsvertrag« zu den umstrittensten Gesellschaftstheorien der Weltliteratur. Insofern mit den einschlägigen Schriften von Hobbes oder von Hegel vergleichbar. Und natürlich mit denen von Marx.

Die große Enteignung

Was ist ihm nicht alles unterstellt, angedichtet oder zugemutet worden, zu sein: Als Aufklärer wurde er gepriesen, als Gegenaufklärer verunglimpft. Seine Scharfsinnigkeit wurde von keinem geringeren als Immanuel Kant mit dem Geist Newtons verglichen, während andere ihn als Wortführer der Irrationalität, als Drogenfabrikanten schmähten: Er habe die Vernunft im Dienste des Gefühls prostituiert. Als Quintessenz seines anno dazumal in Berlin erlaubten und in Bayern verbotenen »Gesellschaftsvertrages« verstehen die einen Freiheit und Gleichheit, die anderen jedoch Kerker und Kloster. Die Demütigungen sparten auch Höchstpersönliches nicht aus: Salonlöwe sei er gewesen oder aber Misanthrop; seine Gedankenführung wurzele in seiner Lebensführung, nämlich der eines durch unglückliche Milieuerfahrungen prädisponierten Egozentrikers und Neurotikers.

Die Deutungsextreme haben erschütternde Konsequenzen. Die »postume Entlarvung Rousseaus heißt Hitler«, notierte Victor Klemperer am 19. Juli 1937 in sein Tagebuch (später sein Urteil etwas relativierend). Für Werner Krauss jedoch, nicht weniger Opfer und Feind des Nazifaschismus als der Dresdener, galt Rousseaus »Contrat social« als »ein Höhepunkt der staatsrechtlichen Literatur aller Zeiten«. Und der Leipziger Revolutionsforscher Walter Markov sah im Plebejer Rousseau denjenigen, der Frankreichs Aufklärung demokratisiert hatte.

Während die einen dessen Auflehnung gegen die Ungleichheit der Eigentumsverteilung in der Gesellschaft als rückwärtsgewandte Utopie, als kleinbürgerlichen Versuch denunzierten, das Rad der Geschichte zurückzudrehen, verehrten ihn andere als einen Fürsprecher aller Erniedrigten und Beleidigten - zwar nicht als Vorläufer von Sozialisten, aber als einer ihrer Inspiratoren.

Für Rousseau bestand der Sündenfall der Menschen nicht darin, dass ihre ersten Exemplare wider Gottes Gebot vom Baume der Erkenntnis gegessen hatten. Es bestand für ihn in ihrer Ignoranz gegenüber der fundamentalen Wahrheit, dass »die Früchte der Erde allen gehören, doch die Erde selbst niemandem«. Derjenige, der als erster ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: »dieses Stück Land gehört mir«, und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, sei der eigentliche Gründer der herrschaftsförmig organisierten Gesellschaft mit dem ihr wesenseigenen Not und Elend, mit den ihr eigentümlichen Verbrechen und Kriegen. Die von Rousseau »société civile« genannte Gesellschaft meinte nicht etwa das, was wir heutzutage bürgerliche oder realkapitalistische oder - zumeist beschönigend - Zivilgesellschaft nennen, sondern alle infolge der vorhandenen Gegensätze zwischen den Eigentümern und den Nichteigentümern, den Herrschenden und den Untertanen politisch verfassten Gesellschaften.

Natürliche Gleichheit

Die Reichen (les riches) seien es gewesen, welche die ursprünglich gleiche Freiheit eines jeden dauerhaft zerstörten, indem sie ihren Widersachern, den Armen, erfolgreich eingeredet hatten, dass es besser sei, sich gemeinsam einer höchsten Gewalt zu unterstellen, die »uns alle« nach weisen Gesetzen regiere. So sei um des Profits einer Minderheit willen die natürliche Gleichheit aller zerstört und die Ungleichheit festgeschrieben worden. Aus einer geschickten Usurpation sei so eine unwiderrufliche Rechtsordnung geworden, die nur für jene nützlich sei, die besitzen, und schädlich für jene, die nichts haben. Jeder Herrschaftsvertrag binde zwar den Schwachen an den Starken, niemals jedoch den Starken an die Schwachen.

Die revolutionäre Dimension solch einer Gesellschaftskonzeption, mit dem Eigentum als Ausgangskategorie und einer Macht/Ohnmacht-Struktur des Ganzen als Ergebnis, zeigt sich darin, dass Rousseau die Bevölkerung eines Landes nicht als Schicksals- oder Verantwortungsgemeinschaft (»wir sitzen alle im selben Boot«) verklärt, sondern als ein Beziehungsgeflecht gegensätzlicher Klassen von Menschen begreift: als Verhältnisse zwischen den Eigentümern und den Eigentumslosen, den Herrschern und den Untertanen, den Gewalthabern und den Gewaltunterworfenen; und am gefährlichsten sei der Einfluss der Privatinteressen auf das Gemeinwohl.

Eine solche Gesellschaft widerspreche aber dem Wesen des Menschen, seiner Natur. Die vulgäre (auch von Preußens Friedrich II. geteilte) Unterstellung, dass Rousseau ein Zurück zum Naturzustand des Menschen gefordert oder auch nur für möglich gehalten habe, hat dieser selbst stets zurückgewiesen: ein solcher Naturzustand habe »vielleicht nie existiert« und werde »wahrscheinlich niemals existieren«. Nicht als Historiker und nicht als Ethnologe hatte Rousseau geschrieben, sondern als Philosoph (als Anthropologe würde man heute sagen), der dem Wesen des Menschen auf die Spur kommen will, um das Widernatürliche, das Menschenunwürdige, die Entfremdung (»I'aliénation«) in der Gegenwartsgesellschaft nachzuweisen, mit dem Hintergedanken ihrer Veränderung.

Um ins Heutige hineinzuleuchten: Wie lässt es sich mit der eigentlichen Identität aller Menschen vereinbaren, dass die auf unserer Erde ökonomisch, politisch, militärisch und medial Herrschenden durch ihr Tun und Unterlassen Jahr für Jahr den Hungertod von weit mehr als zehn Millionen Menschen zu verantworten haben, ein mit der Menschennatur und -würde der Herrschenden wie der Verhungernden unverträgliches »organisiertes Verbrechen«, wie Jean Ziegler in seinem Buch »Wir lassen sie verhungern« schreibt.

Das grundlegende Problem des jedem Herrschaftsvertrag entgegengesetzten Gesellschaftsvertrages charakterisierte Rousseau folgendermaßen: Es gelte, die Form eines gesellschaftlichen Miteinanders (»une forme d'association«) zu finden, »die mit der ganzen Kraft der Gemeinschaft Person sowie Hab und Gut aller Assoziierten schützt, und durch die jeder einzelne, indem er sich mit allen vereinigt, gleichwohl nur sich selbst gehorcht und so frei bleibt wie er zuvor war«. In einer solchen Assoziation könne derjenige, der dem Gemeinwillen (»volonté générale«) den Gehorsam verweigert, legitimerweise zum Gehorsam gezwungen werden. Denn dann habe der Zwang keine andere Bedeutung, als dass »man gezwungen werde, frei zu sein«. Ist letzteres die schockierende Konsequenz einer Utopie? Seiner Meinung nach reflektierte Rousseau nicht über »Kein Ort. Nirgends«, hatte er doch seine Gesellschafts- und Rechtsordnung unter der Voraussetzung konzipiert, dass er die Menschen nahm, wie sie sind, und die Gesetze, wie sie sein können.

Auch andere, Samuel von Pufendorf etwa, hatten die Demokratie als Identität von Regierenden und Regierten wohl definiert; aber niemand vor Rousseau hatte die Vergesellschaftung des Staates als alleinige Legitimation seiner Existenz charakterisiert und folgerichtig jeden nicht vergesellschafteten Staat, als bloße Unterdrückungsmaschine entlarvt; speziell sei die auf Reichtum gegründete Staatsgewalt illegitim. Zwar war Rousseau selbst alles andere als ein Revoluzzer, und gewaltbereit war er schon gar nicht. Er hatte sich im Gegenteil geschworen, niemals an einem Bürgerkrieg teilzunehmen oder zu Volkserhebungen aufzustacheln. Jedoch rechtfertigte er mit seinen radikalen Argumenten die Beseitigung von existierenden Herrschaftsverhältnissen durch die Beherrschten.

Der Gemeinwille

Mag der fundamentaldemokratische Ansatz Rousseaus auch irreale Elemente enthalten, so bietet er dennoch genügend Anregungen, wenn man nur bereit ist, das heutzutage vorherrschende Demokratieverständnis zu problematisieren. Etwa die Annahme, allüberall und jederzeit durch mehr Volksbefragungen oder den sich einbürgernden Computerclick (»gefällt mir/gefällt mir nicht«) den Gemeinwillen feststellen zu können. Oder wenn die Menschenrechte wie die Demokratie als Exportartikel missbraucht werden, deren »Einfuhr« mit Bomben und Granaten, mit Drohnen und Invasionen erzwungen und als humanitäre Intervention schöngeredet wird. Oder wenn man an das gegenwärtige Wahl- und Abgeordnetenrecht in Deutschland (Art. 38 Grundgesetz) und der Europäischen Union (Art. 10 des EU-Vertrages) denkt, das den Parlamentariern eine gut dotierte, vor den Wählern geschützte und der »Mafia der Lobbyisten« ausgelieferte Stellung sichert.

Wer einen Konsenskapitalismus für demokratisch hält, findet bei Rousseau jedenfalls keine Fährte. Er unterschied nämlich zwischen dem Gemeinwillen (volonté générale) und dem Willen aller (volonté de tous); dass dieser üblicherweise manipuliert wird, war ihm nicht entgangen. Und sind etwa seine Visionen von der Möglichkeit einer menschenwürdigen, einer der gleichen Natur aller Menschen gemäßen Gesellschaft ohne Sklaverei, Kriege, Staats- und anderweitigem Terror nicht mehr aktuell? Können seine basisdemokratischen Auffassungen, seine Forderungen nach einem ewigen Friedens (»paix pérpetuelle«) zwischen gleichberechtigten Völkern an Stelle einer globalen Übermacht nicht zum Nachdenken über vergleichbar Heutiges anregen?

* Prof. Dr. Hermann Klenner ist einer der Referenten auf dem Kolloquium »Rousseau zwischen Aufklärung und Moderne«, zu dem die Leibniz-Sozietät am 13.12. (ab 10 Uhr) ins Rathaus von Berlin-Mitte einlud.

Aus: neues deutschland, Samstag, 08. Dezember 2012


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