Millionen Kinder ohne reale Rechte
Kinderhilfswerk UNICEF legt erste umfassende und globale Bestandsaufnahme vor
Von Martin Ling *
UNICEF legte am Dienstag (6. Okt.) den ersten umfassenden Bericht über Kinderrechtsverletzungen vor. Das Ergebnis ist ernüchternd: Auch fast 20 Jahre nach der Verabschiedung der UN-Kinderrechtskonventionen am 20. November 1989 müssen 150 Millionen Kinder hart arbeiten und gehen deshalb kaum oder gar nicht zur Schule. Ein Missstand unter vielen.
Es bedarf keiner Katastrophen, damit Kinderrechte verletzt werden. Doch auch bei Katastrophen wie dem jüngsten Erdbeben in Sumatra sind Kinder Hauptleidtragende. Das Kinderhilfswerk UNICEF wies auf die schwierige Lage der 180 000 Kinder und Jugendlichen auf der Insel hin.
Kinderrechtsverletzungen in Notlagen sind derweil nur einer von vielen Unterpunkten im am Dienstag in Köln vorgestellten Bericht »Progress for Children« (Fortschritt für Kinder), einer globalen Bestandsaufnahme über Kinderrechtsverletzungen mit Schwerpunkt auf Entwicklungs- und Schwellenländer. UNICEF schätzt, dass über eine Milliarde Kinder in Gebieten mit bewaffneten Konflikten leben - 300 Millionen sind davon unter fünf Jahre alt. Eine friedliche Kindheit sieht anders aus.
Millionen Kinder haben weltweit kein Recht, Kind zu sein. Sie sind nach dem Bericht Opfer von Gewalt, Ausbeutung und Menschenhandel. Demnach müssen 150 Millionen Kinder unter 15 Jahre hart arbeiten und können deshalb nicht zur Schule gehen. »Das ist ein schlimmer Befund«, sagte die Sprecherin von UNICEF-Deutschland, Helga Kuhn.
Allein 2007 seien 51 Millionen Kinder ohne Geburtsurkunde zur Welt gekommen. Ohne Geburtsurkunde hätten Kinder kaum Chancen auf eine Schulausbildung und seien Kriminellen schutzlos ausgeliefert. Mindestens eine Million Kinder sitze meist rechtlos und ohne schweres Verbrechen in Gefängnissen. Mehr als 18 Millionen Kinder lebten in Familien, die nach Kriegen und Naturkatastrophen ihre Heimat verlassen mussten.
Noch werde jedes dritte Mädchen in den Entwicklungsländern als Kind verheiratet, aber das Heiratsalter in Ländern wie Bangladesch sei leicht gestiegen. Fortschritte gebe es auch im Kampf gegen die Genitalverstümmelung in mindestens 29 Ländern der Erde: In vielen afrikanischen Ländern sinke der Anteil der Mädchen, die beschnitten würden.
»Der Bericht zeigt uns, wie viel wir noch machen müssen, um die Lage der Kinder zu verbessern«, sagte Kuhn. Das gilt auch für Deutschland, so Kuhn gegenüber ND. Statistisch sterben laut einer UNICEF-Schätzung hierzulande zwei Kinder pro Woche infolge von Misshandlungen und Vernachlässigungen. Die Kinderrechtskonvention hat Deutschland zwar schon 1992 ratifiziert, aber mit Vorbehalten. Einer betrifft das Asyl- und Ausländerrecht und führt in der Praxis dazu, dass die Kinderrechte für ausländische Kinder ohne geregelten Aufenthaltstitel nur eingeschränkt gelten - mit gravierenden Nachteilen bei der medizinischen Versorgung, Schule und Ausbildung bis hin zu nicht kindgerechter Behandlung im Asylverfahren und bei Abschiebungen. Alle Appelle an die Bundesregierung, diesen Vorbehalt aufzuheben, sind bisher verhallt.
* Aus: Neues Deutschland, 7. Oktober 2009
Konvention mit Nachholbedarf
Von Martin Ling **
Flügge ist sie schon längst. Am 20. November wird die UNO-Konvention über die Rechte des Kindes 20 Jahre alt. Doch nach wie vor stehen die seit 1989 verbrieften Rechte auf Überleben, auf Entwicklung, Schutz und Beteiligung in vielen Ländern nur auf dem Papier - wenn überhaupt. Die christlich-fundamentalistischen USA und das islamisch-fundamentalistische Somalia haben die Konvention als einzige Staaten nicht ratifiziert, weil sie manche Kinderrechte als Verstoß gegen biblische oder im Koran beschriebene Befugnisse der Eltern sehen - wie die religiöse Erziehung.
Aber auch dort, wo die Kinderrechtskonvention längst ratifiziert worden ist, liegt noch vieles im Argen: Säureanschläge auf heiratsunwillige Mädchen und Abtreibungen von weiblichen Föten in Asien, Genitalverstümmelung bei Mädchen in vielen afrikanischen Ländern, Kinderhandel und -arbeit fast überall in den Entwicklungsländern dieser Welt, bilden dabei nur die Spitze des Eisbergs.
Diesen grausamen Kinderalltag hat UNICEF rechtzeitig vor dem Jahrestag erstmals dokumentiert. Denn für die Kinderrechtskonvention gilt wie für alle Konventionen: Die praktische Wirkung hängt vor allem vom politischen Willen und den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen ab. Bis heute klafft zwischen der formalen Anerkennung der Kinderrechte und ihrer Verwirklichung eine tiefe, schmerzhafte Lücke. Sie ist zu schließen.
** Aus: Neues Deutschland, 7. Oktober 2009 (Kommentar)
Neuer UNICEF-Bericht zum Kinderschutz
Millionen Kinder ohne Schutz
Erste umfassende Bestandsaufnahme zu Kinderrechtsverletzungen weltweit ***
6. Oktober 2009
Millionen Mädchen und Jungen weltweit sind Opfer von Gewalt, Ausbeutung oder Menschenhandel. 150 Millionen Kinder unter 15 Jahren müssen hart arbeiten und gehen deshalb kaum oder gar nicht zur Schule. Diese Fakten veröffentlicht UNICEF heute (Dienstag) in der ersten umfassenden Bestandsaufnahme zu Kinderrechts-verletzungen weltweit. Der UNICEF-Report zum Kinderschutz trägt Daten aus nahezu allen Ländern der Erde zusammen. Er erscheint wenige Wochen vor dem 20. Jahrestag der UN-Kinderrechtskonvention am 20. November 2009.
In einigen Bereichen verzeichnet der Bericht Fortschritte beim Kinderschutz. Das gesamte Ausmaß der weltweiten Kinderrechtsverletzungen bleibt aufgrund der mangelhaften Datenlage allerdings noch unbekannt. Die wichtigsten Daten aus dem Bericht im Überblick:
- Schätzungsweise 51 Millionen Kinder kamen allein 2007 zur Welt, ohne dass ihre Geburt registriert wurde. In einigen Weltregionen wie im südlichen Afrika werden zwei Drittel aller Kinder nicht registriert; in Somalia und Liberia sind es sogar nur fünf Prozent. Ohne Geburtsurkunde haben Kinder kaum Aussichten auf einen Platz in der Schule und sind krimineller Ausbeutung schutzlos ausgeliefert.
- Mindestens eine Million Kinder sitzen in Gefängnissen - mehr als die Hälfte von ihnen ohne Gerichtsverfahren. Die große Mehrheit dieser Kinder hat keine schweren Verbrechen begangen.
- Mehr als 18 Millionen Kinder wachsen in Familien auf, die aufgrund von Kriegen oder Naturkatastrophen aus ihrer Heimat vertrieben wurden.
- In mindestens 29 Ländern der Erde sind Mädchen durch die Tradition der Genitalverstümmelung bedroht.
- Jedes dritte Mädchen in Entwicklungsländern wird als Kind verheiratet. In den Ländern Niger, Tschad und Mali liegt der Anteil der Kinderheiraten sogar bei über 70 Prozent, in Bangladesch, Guinea und der Zentralafrikanischen Republik sind es mehr als 60 Prozent.
Vor allem in zwei Bereichen zeigt der Bericht Fortschritte beim Kinderschutz auf. So sinkt in vielen afrikanischen Ländern der Anteil der Mädchen, die an ihren Genitalien beschnitten werden. Zudem ist das Heiratsalter von Mädchen in Ländern wie Bangladesch, wo Kinderheiraten weit verbreitet sind, leicht gestiegen.
"Eine Gesellschaft kann sich nicht entwickeln, wenn ihre jüngsten Mitglieder in Kinderheiraten gezwungen, sexuell ausgebeutet und ihrer grundlegenden Rechte beraubt werden", sagte UNICEF-Direktorin Ann Veneman. "Das Ausmaß der Kinderrechtsverletzungen zu erfassen ist ein erster Schritt, um eine Umgebung für Kinder zu schaffen, in der sie geschützt aufwachsen und sich entwickeln können."
UNICEF identifiziert in seinem Bericht fünf Handlungsschwerpunkte innerhalb einer Strategie für mehr Kinderschutz: die Verbesserung von Schutzsystemen, die Förderung sozialen Wandels, bessere Schutzmaßnahmen bei Katastrophen, breite Bündnisse zwischen Regierungen, Zivilgesellschaft und Unternehmen sowie bessere Datenerhebungen.
Der vollständige Bericht "Progress for Children - a Report Card on Child Protection" in englischer Sprache hier:
pdf-Datei (externer Link.
*** Quelle: Deutsche Website von UNICEF, 6. Oktober 2009; www.unicef.de
Kinder im Krieg
Auszug aus dem Unicef-Bericht (S. 20-21):
Children in emergencies ****
UNICEF estimates that just over 1 billion children live in
countries or territories affected by armed conflict, and of these,
around 300 million are under 5 years old. In 2006, an estimated
18.1 million children were among populations living with the
effects of displacement, including 5.8 million who were
refugees and 8.8 million who were internally displaced.24
Children living in conflict-affected countries are more likely
to suffer from poverty, undernutrition, poor health and lack
of education. Social systems and networks often fall into
disrepair in times of conflict, meaning that they are less able
to protect vulnerable children. Although economic disparity
and poverty can be major causes of conflict, similar
by-products of armed conflict, including poverty and high
unemployment, can lead to child recruitment, trafficking
and sexual exploitation.
Children are also disproportionately affected by natural
disasters, including earthquakes, droughts, monsoons
and floods. Such disasters destroy homes and communities,
create conditions in which disease can spread, keep children
out of school and destroy the social systems that protect
vulnerable children. Children may be separated from their
families or may lose official documents necessary for them
to gain access to humanitarian assistance. Separated and
unaccompanied children, especially child-headed households,
are inevitably more vulnerable to economic or sexual
exploitation and abuse.
Emergencies cause serious threats to the psychological and
social well-being of children, their families and communities.
Children may experience psychological difficulties because
of a number of factors, including death, injury, displacement,
the destruction of one's home or school, and the suspension
of essential services. Emergencies can also disrupt social
institutions, deprive families of their livelihoods, create
tension and divisions within communities, and cause the
rule of law to collapse.
Conflict and natural disaster increase the vulnerability of
children, and women, to all forms of violence and exploitation.
Survivors of gender-based violence may be left with
sexually transmitted diseases, including HIV, and unwanted
pregnancies, and they may be ostracized and abandoned
by their families and communities.25 In the Democratic
Republic of the Congo, for example, a recent study found
that children born as a result of sexual violence are often
neglected and discriminated against because they are
identified with the perpetrator.26
The issue related to children and armed conflict that has
received the most attention on the global human rights
agenda is that of 'children associated with armed groups
and forces'. The term includes not only children who bear
arms but also children used as cooks or porters and for
sexual purposes or forced marriage.27 The UN estimates the
number of children associated with armed groups or armed
forces at more than 250,000.28
As of May 2009, 128 countries had ratified the Optional
Protocol to the Convention on the Rights of the Child on
the Involvement of Children in Armed Conflict, and at least
76 had set the legal minimum age for joining the military
at 18.29 In addition, 78 countries have endorsed the Paris
Commitments and Principles to protect children from
unlawful recruitment or use by armed forces or armed
groups. Despite these developments, there was evidence
in 2008 of recruitment or use of children by armed groups
or armed forces in 25 countries, including countries that
had ratified the Optional Protocol.30
UN Security Council Resolution 1539 (2004) called on the
Secretary-General to develop a monitoring and reporting
mechanism (MRM) that focuses on six specific violations
of children's rights: killing or maiming; recruiting or using
children in armed conflict; attacks against schools or hospitals;
rape or other grave sexual violence; abduction; and
denial of humanitarian access. In 2005, Resolution 1612
created an MRM that would provide for the systematic
gathering of objective, specific and reliable information on
grave violations committed against children in situations of
armed conflict; such information would be used to ensure
compliance with international and local norms to protect
children in armed conflict. In 2006, the MRM was piloted in
7 countries - Burundi, Côte d'Ivoire, the Democratic Republic
of the Congo, Nepal, Somalia, Sri Lanka and the Sudan - and
has since officially expanded to 14 countries.31
Landmines, explosive remnants of war and small arms
Landmines and explosive remnants of war violate nearly
all the articles of the Convention on the Rights of the Child:
a child's right to life, to a safe environment in which to play,
to health, clean water, sanitary conditions and adequate
education. Although significant progress has been made in
addressing the threat from anti-personnel mines, an estimated
78 countries are still contaminated by mines
and 85 are still affected by explosive remnants of war.32
In 2007, 72 countries recorded new victims of landmines and
explosive remnants of war, and children accounted for
nearly a third of these casualties.33
In many countries, children who survive landmine accidents
must end their education prematurely due to the necessary
period of recovery and the accompanying financial burden
of rehabilitation on families. Support for children experiencing
psychological distress is rarely available, and the
effects linger for many years.
A significant step forward was taken in 2008, when 96 States
signed a new international convention banning cluster
munitions.34 But challenges remain in attempting to universalize
and ensure the implementation of any new treaties
as well as existing treaties such as the 1997 Mine Ban Treaty.
Even in countries that are not considered to be affected by
armed conflict, the proliferation and misuse of small arms
and light weapons are equally grave dangers to children. In
most countries, however, effective and reliable data collection
mechanisms to document the impact of small arms and
light weapons on children do not exist, and available
statistics on direct death and injury to children from small
arms surely mask the enormous impact of small-arms
violence on children. Recent research in a dozen countries
has noted that the victimization of children and adolescents
by small arms persists despite laws to protect them against
this form of violence.35
**** unicef: Progress für Children. A Report Card on Child Protection, Number 8, September 2009, p. 20-21;
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