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Anwältin des Rechts

Dokumentiert. Laudatio anläßlich der Verleihung des Hans-Litten-Preises 2012 der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen an die britische Verteidigerin Gareth Peirce

Von Norman Paech *

Am 12. September wurde in Frankfurt am Main der Hans-Litten-Preis 2012 an die britische Rechtsanwältin Gareth Peirce verliehen. Durch ihr Engagement in bedeutenden Prozessen gegen Menschenrechtsverletzungen erlangte Peirce internationale Bekannheit. Aktuell vertritt sie den von Festnahme und Abschiebung bedrohten Wikileaks-Gründer Julian Assange, der am 19. Juni in die ecuadorianische Botschaft in London geflüchtet ist und dort Asyl fand.

Benannt ist der vergebene Preis nach einem Juristen aus der Weimarer Republik, der zu den bedeutendsten Anwälten der Arbeiterbewegung jener Zeit zählte. Hans Litten, geboren 1903 in Halle, wurde von den Nazis 1933 in »Schutzhaft« genommen. Nach fünf Jahren in verschiedenen Konzentrationslagern konnte er dem ständigen Terror der Nazis nicht mehr standhalten und brachte sich um.

Norman Paech, emeritierter Professor für Völkerrecht, hielt in Frankfurt die Laudatio auf die Preisträgerin. Er war von 2005 bis 2009 Mitglied des Deutschen Bundestages und außenpolitischer Sprecher der Fraktion Die Linke.


Ich freue mich besonders, daß wir den vierzigsten Jahrestag unserer Gründung gemeinsam mit unseren Freunden und Kollegen aus Großbritannien feiern, mit denen wir schon seit Jahrzehnten freundschaftlich und produktiv zusammenarbeiten. Und es macht sich gut, daß wir an diesem Tag unseren Hans-Litten-Preis an eine englische Kollegin vergeben, die wirklich dem entspricht, was wir mit diesem Preis ausdrücken wollen.

Das ist natürlich immer wieder die Erinnerung an einen außergewöhnlichen Anwalt des Rechts in einer Zeit, in der dieses Recht in die Katastrophe getrieben worden ist, einen unbeirrten Antifaschisten, den die Faschisten als einen der ersten in das Konzentrationslager schickten und in den Tod trieben. Sein Todestag jährt sich im kommenden Februar zum 75. Mal.

Wenn wir uns entscheiden, diesen Preis mit dem Namen Hans Litten einer Persönlichkeit zu geben, dann ist das eine Anerkennung für ihr juristisches Wirken, welches – wie seinerzeit Litten – kompromißlos dem Recht verpflichtet ist und der notwendigen Konfrontation mit den politischen Machtinteressen und ihren Institutionen nicht aus dem Wege geht. Darüber hinaus, und vielleicht noch wichtiger, vergeben wir diesen Preis als Ermutigung, die Arbeit fortzuführen, nicht aufzugeben, die Widerstände zu überwinden, die sich einem entgegenstellen. Und noch weiter möchten wir unseren Kolleginnen und Kollegen ein Beispiel und einen Anreiz geben, den politisch Verfolgten, den Opfern eines verkommenen Justizsystems, nicht selten des staatlichen Terrors im Mantel der Justiz, mit ihren Mitteln des Rechts zu helfen und sie vor dem Verschwinden zu retten. Daß dies nicht nur in Staaten ferner Kontinente notwendig ist, dafür steht unsere heutige Preisträgerin Gareth Peirce.

Gebrochene Prinzipien

England ist nur wenige Kilometer und eine Wasserstraße von uns entfernt, es gehörte zur Wiege der europäischen Aufklärung. Die Magna Charta, die zum ersten Mal die Idee der Bürger- und Menschenrechte entwickelte, wurde in England verfaßt und begründete das Konzept der Rule of Law, der Rechtsstaatlichkeit. Unser Rechtssystem, so verschieden es auch in der Organisation ist, fußt auf dieser Tradition. Daß diese gefährdet ist, scheint angesichts der tiefen ökonomischen und politischen Krise, in die Europa derzeit getrieben wird, vergessen zu werden. Man klammert sich an die Justiz – ein typisch deutscher Reflex – und preist das Bundesverfassungsgericht als die mit Abstand seriöseste und vertrauenswürdigste Institution im Lande. Doch wir sollten uns nicht täuschen lassen – und auch dabei hilft uns Gareth Peirce.

Sie hat 2010 ein schmales Buch veröffentlicht: »Dispatches from the dark side. On torture and the death of justice« (dt.: Berichte von der dunklen Seite. Über Folter und den Tod der Gerechtigkeit). In ihm gibt sie uns Beispiele aus ihrer anwaltlichen Praxis und weist auf die tiefen Wunden, die die vergangenen Jahre den für unantastbar gehaltenen Rechtsprinzipien zugefügt haben. Sie schreibt: »Wir haben niemals voraussehen können, daß die Geschichte des neuen Jahrhunderts die Zerstörung und Entstellung fundamentaler anglo-amerikanischer rechtlicher und politischer Verfassungsprinzipien, die seit dem siebzehnten Jahrhundert in Kraft sind, mit sich bringen würde. Habeas corpus, d.h. der Schutz der persönlichen Freiheit, ist für die Ausgestoßenen der neuen Ordnung in den USA wie in Großbritannien aufgegeben worden. Geheime Gerichte sind geschaffen worden, um geheime Beweise zu erheben, Schuld wird bereits aus der Mitgliedschaft in einer Organisation abgeleitet, Folter und illegale Auslieferung werden offen gerechtfertigt (im Vereinigten Königreich vertreten die Juristen der Regierung nach wie vor das Recht, die Ergebnisse aus beidem zu benutzen) und grundlegende internationale Konventionen, die nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen wurden – die Genfer Konventionen, die Flüchtlings- und die Antifolterkonvention – sind vorsätzlich umgangen oder übersehen worden.«

Gareth Peirce spricht von einer »Katastrophe in den letzten Jahren, von der wir nicht in unseren schlimmsten Alpträumen geträumt hätten«. Sie beklagt den Zerfall des Rechts, den Noam Chomsky mit den Worten bestätigt, daß in den letzten Jahren die Magna Charta geschreddert worden sei.

An den Rändern

Dieses vernichtende Urteil mag dem normalen Bürger und Zeitgenossen übertrieben und unberechtigt erscheinen. Er wird auch historische Beispiele mit noch schärferen Angriffen auf das Recht seitens des Staates finden. Doch je mehr man sich an den Rand der Gesellschaft begibt, wo die soziale Ausgrenzung und der politische Protest zu Hause sind, muß sich die Idee der Gerechtigkeit und Gleichheit vor dem Gesetz erweisen. Gareth Peirce hat ihre Arbeit diesen Outcasts der Gesellschaft gewidmet, sie in vielen Fällen wieder aus den Gefängnissen herausholen können und die dunkle Seite der Staatsmacht aufgedeckt.

Wenn ich Google und BBC Glauben schenken kann, hat sie den Anstoß zu diesem Engagement kaum aus ihrer Familie und den Upper-Class-Institutionen ihrer Ausbildung, Cheltenham Ladies’ College und Oxford University erhalten – hierin übrigens vergleichbar mit dem Bildungsweg von Hans Litten. Es müssen die Ideale Martin Luther Kings gewesen sein, dessen Bürgerrechtskampagne sie sich in den USA angeschlossen hatte. Anschließend besuchte sie die London School of Economics und trat schließlich in das Anwaltsbüro von Benedict Birnberg ein, welches übereinstimmend als »radikal« bezeichnet wird. Hier übernahm sie Fälle, deren Vertretung ihr den Ruf einbrachten, die führende Strafverteidigerin in Großbritannien zu sein. »Sie hat fast im Alleingang die Strafrechtsszene in diesem Land verändert«, sagt ihr Kompagnon Birnberg, und BBC urteilt: »Sie ist eine unverbesserliche, altmodische, radikale Anwältin.« Ich würde mich über ein solches Urteil freuen.

Im Nordirlandkonflikt

Weniger hat Gareth offenbar gefreut, daß sie in dem Film »Im Namen des Vaters«, von der Schauspielerin Emma Thompson gespielt, dargestellt wurde. Der Film hatte jedoch einen Fall aufgegriffen, der Gareth Peirce bereits bekannt gemacht hatte.

Er handelte von einem der spektakulärsten Justizfehler Englands, durch den drei Nordiren und eine Engländerin, die sogenannten Guildford Four, im Jahr 1975 zu lebenslangen Gefängnisstrafen verurteilt worden waren. Ihnen wurden zwei Bombenanschläge der Provisional IRA auf zwei Pubs in Guildford und Woolwich zur Last gelegt. Insgesamt sieben Menschen waren getötet und 65 zum Teil schwer verletzt worden. Der Richter hatte trotz zahlreicher Ungereimtheiten allein auf Grund von Geständnissen, die von den Angeklagten unter schwerer Folter von der britischen Polizei erpreßt worden waren, geurteilt. Obwohl sich kurze Zeit später eine IRA-Einheit, die »Balcombe Street Gang«, zu den Anschlägen bekannt hatte, wurde die Berufung der Guildford Four 1975 abgewiesen. Erst 1989 gelang es Gareth Peirce mit ihrem Kollegen Alastair Logan, den Fall neu vor Gericht zu bringen. Sie hatten jahrelang in der Öffentlichkeit durch eine Kampagne den Druck auch auf die Regierung erhöht. Das Urteil wurde aufgehoben und die Häftlinge kamen nach 14 Jahren frei.

Ganz ähnlich lag der Fall der Birmingham Six, der in gleicher Weise mit dem Namen Gareth Peirce verbunden ist. Diese aus Nordirland stammenden Männer wurden unmittelbar, nachdem in zwei Pubs in Birmingham Bomben im November 1974 explodiert waren, verhaftet. Es waren die bis dahin schwersten Anschläge auf den Britischen Inseln, bei denen 21 Menschen getötet und 161 verletzt wurden. Die sechs Männer wurden ein Jahr später wiederum auf Grund von Foltergeständnissen und fragwürdigen Indizien zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt. Ihre Berufung scheiterte. Zunächst 1976, dann 1988. Doch war das öffentliche Bewußtsein alarmiert, und der öffentliche Druck führte 1991 zu einer neuen Berufungsverhandlung. Gareth und ihre Kollegen legten neues Beweismaterial vor, vertieften die Zweifel in die polizeilichen Methoden und erreichten den Freispruch der zu lebenslang Verurteilten nach 16 Jahren rechtswidriger Haft.

Es gab noch andere Opfer der Terrorhysterie, angebliche IRA-Bomber, die sie aus dem Gefängnis befreien konnte: Judith Ward und Frank Johnson – nach 26 Jahren. Ihre Erfahrungen mit diesen Prozessen im Nordirlandkonflikt waren niederschmetternd. Nicht nur, daß in einer derartigen Situation die englischen Gerichte weder Schutz noch Gerechtigkeit bieten, daß Gutachter ihren Amtseid verletzen, sondern auch, daß die Polizei bereit ist, Beweise zu unterdrücken, zu fälschen und unter Folter neue zu fabrizieren, ja, daß es weithin eine Bereitschaft gibt, die Ergebnisse aus der Folter zu verwenden, obwohl im Dezember 2005 das House of Lords das Prinzip bestätigt hat, daß kein englisches Gericht Beweise verwenden darf, die durch Folter erlangt worden sind. Es gab auch – und das ist, worauf Birnberg anspielte – eine Klage der Republik Irland gegen das Vereinigte Königreich vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Das britische Innenministerium mußte 1991 eine Kommission zur Überprüfung der britischen Strafverfolgung einsetzen. Ihr Bericht führte 1995 zu einer Reform der Berufungsverfahren und 1997 zur Einsetzung einer unabhängigen Gutachterkommission. Zwar wurde gegen die Polizeibeamten der Vernehmungen von 1974 und 1975 ein Ermittlungsverfahren wegen Meineides und Verschwörung eingeleitet, zu einer Anklageerhebung kam es jedoch nie.

Komplizen der Folter

Was in den langen Jahren des Nordirlandkonflikts das Vertrauen in das Justizwesen zerstörte, die Eskalation des Terrors auf beiden Seiten, sollte sich nach 9/11 im internationalen Maßstab fortsetzen. Waren es bis dahin die Iren gewesen, so traten nun die Muslims an ihre Stelle. »Sage Terrorismus, und es entschuldigt alles« ist Gareth Peirces Resümee aus ihren Erfahrungen mit der Vertretung unschuldig Inhaftierter in Guantánamo wie Moazzam Begg, Binyam Mohamed oder Benaissa Taleb. Sie alle wurden gefoltert, ob in Guantánamo, Afghanistan, Pakistan, Algerien oder Marokko. Mit Methoden, die englische Soldaten und Polizei schon 1938 in Palästina an ihren Gefangenen erprobt hatten: ohne sichtbare Spuren, so daß sie ohne weiteres geleugnet werden konnten.

Nicht nur, daß die englischen Geheimdienste davon Kenntnis hatten, oft lagen den Folterungen Informationen von ihnen zugrunde. Sie führten mehr als zweitausend Interviews in Afghanistan, Guantánamo und Iran und lieferten sie nach Algerien, Syrien und Marokko, wohin die Gefangenen von der Bush/Cheney/Rumsfeld-Clique gebracht worden waren, um von ihnen Geständnisse und Informationen zu erpressen. Das alles geschah geheim und unter dem Vorwand der »nationalen Sicherheit«, aber wie Gareth Peirce schreibt: »Wir waren dort an diesen Plätzen rechtswidriger Einsperrung; in vielen Fällen waren wir es, die den Amerikanern erzählten, wo sie britische Staatsbürger und britische Einwohner für ihre illegalen Auslieferungen (rendition) finden; wir waren es, die ihnen Informationen lieferten, die für die Folterungen benutzt werden konnten und auch benutzt wurden; und wir waren es, die die Ergebnisse erhalten haben.« Und weiter: »Wenn wir genau hinsehen, gibt es genügend Beweise, daß die britische Außenpolitik und in der Tat auch ihre Innenpolitik über viele Jahre hinweg in einer Art geführt wurden, die nicht nur unser nationales Recht, sondern auch das Völkerrecht verletzt hat. Weit schlimmer ist jedoch, daß sie uns zu Komplizen der Folter und international verbotener Verbrechen gegen die Menschlichkeit gemacht hat.«

Terrorhysterie

Wir sollten dies nicht als eine englische Misere von außen betrachten. Wir haben zumindest seit 9/11 die gleichen Probleme, die ebenso aus »nationalem Interesse« geheimgehalten werden. Der 1. Untersuchungsausschuß des deutschen Bundestages hat in der 16. Wahlperiode die CIA-Geheimflüge, die Verschleppung der deutschen Staatsangehörigen Abdel Halim Khafagy, Khaled Al-Masri, Mohammed Haydar Zammar und Murat Kurnaz sowie den BND-Einsatz in Bagdad vor und während des Irak-Krieges untersucht. Die Fraktion der Partei Die Linke im Bundestag hat in ihrem Sondervotum am 24. Juni 2009 festgestellt: »Die USA wurden intensiv mit deutschen Erkenntnissen zu den Verschleppten versorgt, obwohl man wußte, daß diese unter menschenunwürdigen Bedingungen inhaftiert waren, fortwährend gefoltert wurden und ihnen zum Teil sogar die Todesstrafe drohte. Deutschland beeilte sich, zu den ersten Staaten zu gehören, die von der Folterung der Inhaftierten profitierten. So wurden nicht nur Ergebnisse von Folterbefragungen entgegengenommen und in rechtsstaatswidriger Weise für laufende staatsanwaltschaftliche Ermittlungen verwendet, sondern sogar durch eigene Beamte Befragungen in Foltergefängnissen durchgeführt.«

Auch ein anderer Fall, dessen sich Gareth Peirce annahm, hat seine Parallelen in der Bundesrepublik. Er ist nur ein Beispiel für den Generalverdacht des Islamismus gegen Flüchtlinge aus den arabischen Ländern, in die sie nicht wieder abgeschoben werden können wegen Gefahr der Folter. In England traf es zwölf Männer aus Ägypten, Jordanien, Tunesien und Libyen, die am 17. Dezember 2001 aus ihren Wohnungen geholt und in das Belmarsh-Gefängnis gesteckt wurden. Dort blieben sie ohne Prozeß, ohne Befragung, ein Haftgrund wurde ihnen nicht mitgeteilt, und auch ihren Anwälten wurde die Einsicht in die Akten verwehrt. So hatte man nicht einmal irische Häftlinge behandelt. Ihnen wurde lediglich erzählt, daß man aus Gründen, die man ihnen jedoch nicht nennen könne, überzeugt sei, daß sie Verbindung zu Personen und Organisationen hätten, die wiederum mit Al-Qaida verbunden seien. Auch ihre Versicherung, daß sie vor dem 11. September den Namen Al-Qaida noch nie gehört hätten, nutzte nichts. Gareth kämpfte drei Jahre gegen diese kafkaeske Situation, bis kurz vor Weihnachten 2005 das House of Lords dem Spuk ein Ende setzte und die Inhaftierung ohne gerichtlichen Prozeß für rechtswidrig erklärte. Das bedeutete für die Freigelassenen jedoch nicht ihre Rehabilitierung und die volle Freiheit. Sie wurden mit Ausgangssperren, Kommunikationsverboten und Beschränkungen des Internetzugangs belegt. Sie mußten Identifizierungsmarken (»tags«) tragen, die mit Spracherkennungssystemen ausgerüstet waren, die jedoch z.T. kein Arabisch erkannten.

Wir kennen diese Verhaftungen allein wegen angeblichen Kontaktes zu terroristischen Vereinigungen. Zu ihrem Zweck sind die Paragraphen 129 a und b im Strafgesetzbuch geschaffen worden und werden derzeit vor allem gegen Kurden ins Feld geführt. Wie jetzt in Hamburg, wo seit dem Oktober 2011 Ali Ihsan Kitay wegen des Vorwurfs der »Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung« in Untersuchungshaft sitzt und nun vor dem Oberlandesgericht angeklagt wird. Konkrete Straftaten oder Anschläge in Deutschland werden ihm nicht vorgeworfen. Zur Last gelegt wird ihm, leitende Funktionen innerhalb der PKK eingenommen zu haben. Gareth Peirce beschreibt exakt die Haltung in Deutschland, wenn sie bei ihren Landsleuten kritisiert: »Wir sind in diesem Land politisch und moralisch sehr apathisch. Wenn die Regierung jemand des Terrorismus verdächtigt und ihn einsperrt oder ohne Anklage überwachen läßt, dann halten wir es für erwiesen, daß er ein Terrorist ist.«

Dieses glauben wir übrigens immer noch von einem der prominentesten Mandanten von Gareth, dem Libyer Abdelbaset Al-Megrahi, der für das Lockerbie-Attentat im Dezember 1988 mit 259 Toten zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. 2009 wurde er offiziell wegen einer Krebserkrankung trotz heftiger Proteste begnadigt und starb im Mai dieses Jahres. Gareth Peirce ist nach wie vor der Überzeugung, daß Al-Megrahi unschuldig das Opfer eines politischen Deals zwischen Engländern und Amerikanern geworden war. Für sie ist es klar, daß die Explosion der PAN AM, Flug 103, die Rache für den Abschuß einer iranischen Passagiermaschine im Juli 1988 durch das US-Kriegsschiff »Vincennes« mit 290 Toten gewesen ist. Es hat nie eine gerichtliche Aufarbeitung dieses »Irrtums« der US-Marine gegeben, geschweige denn eine Sitzung des UN-Sicherheitsrats. Zwei Jahre konzentrierten sich die Nachforschungen um das Lockerbie-Attentat auf eine palästinensische Splittergruppe, die »Volksfront für die Befreiung Palästinas – Generalkommando«, die für die Ausführung von Auftragsterror bekannt war. Doch dann übernahm die CIA die Untersuchungen von der schottischen Polizei und lenkte den Verdacht auf Libyen. Der politische Hintergrund hatte sich durch den Einmarsch der Iraker in Kuwait verändert. Der UN-Sicherheitsrat hatte den USA ein Mandat gegen Irak gegeben, nun mußte eine Konfrontation mit den wahrscheinlichen Auftraggebern der Volksfront, Iran und Syrien, vermieden werden. Das Libyen Ghaddafis war ein ungefährlicheres, plausibles Ziel, und der Sicherheitsrat ließ sich leicht gegen diesen Provokateur einspannen. Das Opfer aber war schließlich der falsche Mann im englischen Gefängnis. Ein Plot wie aus der Feder von John Le Carré, aber ein übles Stück britischer Justiz in den Fängen der Politik. »Der Ausdruck Justizirrtum enthält die Möglichkeit eines Unfalls, aber auch des Todes. Es ist eine dringliche Notwendigkeit, in allen Einzelheiten zu untersuchen, wie es in diesem Fall zu einer Art Tod gekommen ist – Tod der Gerechtigkeit – und wer dafür verantwortlich ist«, schließt Gareth Peirce ihre Überlegungen über die Instrumentalisierung der Justiz.

Ohne Illusionen

Es bleibt nicht aus, daß ihre Prominenz auch andere Prominenz anzieht, um sich ihre Dienste zu sichern. So vertritt sie Julian Assange in seinem Streit mit der britischen Justiz über seine Auslieferung an Schweden. »Jeder der in den Fall verwickelten Menschen verdient Respekt und Beachtung«, begründet Gareth Peirce ihr Mandat. »Es ist zu hoffen, daß, welche Schritte auch immer in der Zukunft erforderlich sind, sie umsichtig, mit Sensibilität und mit dem erforderlichen Respekt getan werden.« Vor Gericht hatte sie keinen Erfolg, aber in den anstehenden diplomatischen Verhandlungen wird sie zweifellos eine wesentliche Rolle spielen.

Unsere Preisträgerin ist eine klarsichtige und illusionslose Anwältin des Rechts. Ihre Niederlagen vor Gericht und manche Anfeindungen in der Öffentlichkeit haben sie nie an ihrer Aufgabe, die Minderheiten vor den Mehrheiten zu schützen, die Parias der Gesellschaft zu vertreten, die Ausgestoßenen zurückzuholen und die Aussichtslosigkeit aus der Prozeßgeschichte zu streichen, zweifeln lassen. Zu zahlreich sind ihre Erfolge.

Sie ist fachlich unangreifbar und politisch eindeutig auf der Seite der Verfolgten. Das macht sie zu einer würdigen Trägerin unseres Preises in Erinnerung an Hans Litten. Sie hat den Orden »Commander of the British Empire«, der ihr 1999 wegen »Diensten an der Gerechtigkeit« verliehen worden war, und der unserem Bundesverdienstkreuz entspricht, fünf Jahre später als »Irrtum« bezeichnet und wieder zurückgegeben. Das gefällt mir, und ich bin unserem Freund Bill Bowring dankbar, daß er uns auf diese außergewöhnliche Kollegin aufmerksam gemacht hat. So haben wir jetzt die Möglichkeit, ihr Beispiel, ihren Ruf auch in Deutschland zu verbreiten. Nicht so sehr ihretwegen, sondern um den verbreiteten und berechtigten Zweifeln an der Justiz und Politik eine reale Perspektive des Widerstands und der Gerechtigkeit entgegenzusetzen. Die Zeiten des Terrors sind noch nicht vorbei, und wir brauchen Anwältinnen und Anwälte, die sich der Instrumentalisierung der Justiz entgegenstellen. Wir wünschen Gareth Peirce, daß sie so unnachgiebig wie bisher ihre Tätigkeit fortführt. Wir fühlen uns geehrt, daß sie zu uns gekommen ist, um diesen Preis entgegenzunehmen, und wir hoffen auf eine freundschaftliche Zusammenarbeit in der Zukunft.

* Aus: junge Welt, Samstag, 22. September 2012


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