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Gestrandet vor Europas Toren

Nach langer, gefährlicher Reise hoffen indische Immigranten in der spanischen Afrika-Exklave Ceuta auf ein Wunder

Von Alfred Hackensberger, Ceuta *

Sie kommen aus Indien, doch gehören sie nicht zu den IT-Fachleuten, um die sich europäische und US-amerikanische Unternehmen vor gar nicht langer Zeit noch rissen. Im Gegenteil: Ihnen wird der Zutritt zum vermeintlich »goldenen Europa« verwehrt.

Von der Straße aus führt ein Pfad unter Eukalyptusbäumen den Berg hinauf. Man muss sich an Sträuchern und Büschen festhalten, um nicht abzurutschen. Denn es regnet auch noch in Ceuta, der spanischen Exklave auf marokkanischem Territorium an der Nordspitze Afrikas. Dazu bläst ein starker Wind vom Mittelmeer herauf.

In Punjab Haus und Hof verkauft

Karam zeigt den Weg zum Camp, in dem er bereits seit elf Monaten lebt. Zusammen mit weiteren 54 Landsleuten aus Indien, denen die Deportation droht und die aus Protest das städtische Auffanglager, das »Zentrum des temporären Aufenthalts von Immigranten« (CETI), verließen. »Mittlerweile ist das Lager kein Versteck mehr«, gibt Gurpreet in einer aus Ästen und Plastikplanen gebauten Hütten zu, die überraschend gut vor dem stürmischen Wind und dem Regen schützt. »Die Behörden wissen, wo wir sind, und können jederzeit kommen.«

Gerade nach ihren Protestaktionen der letzten Wochen, die der 24-Jährige als Vertreter der indischen Migranten mitorganisiert hatte. In Ceuta war man durchs Zentrum gezogen, in anderen spanischen Großstädten, aber auch in Melilla, der zweiten spanischen Exklave in Marokko, gab es Solidaritätsveranstaltungen. In Madrid wurden dem Innenministerium Listen mit 8298 Unterschriften überreicht, die die Aussetzung der Deportationen forderten. An einem der vergangenen Wochenenden waren in Barcelona 2000 Menschen auf die Straße gegangen, nachdem die 54 indischen Migranten vor den Toren des CETI in Ceuta symbolisch einen Vormittag lang campiert hatten.

»Ob das alles etwas nützt, wird man sehen«, sagt Gurpreet nachdenklich. Hoffnungslosigkeit ist ihm und allen anderen Bewohnern des Hüttendorfs deutlich anzusehen. Die meisten von ihnen sind schon drei oder sogar vier Jahre unterwegs und haben für den Traum von einer gut bezahlten Arbeit im »goldenen Europa« alles aufs Spiel gesetzt. Sollten sie tatsächlich zurück nach Indien abgeschoben werden, wäre alles verloren und umsonst gewesen.

Beinahe alle Migranten aus dem Bergcamp kommen aus der Region Punjab an der Grenze zu Pakistan. Es ist eine der fruchtbarsten Gegenden Indiens, in der Reis, Getreide, Gemüse und Früchte angebaut werden. »Ich habe zwei Hektar Ackerland verkauft, um die Reise zu finanzieren«, übersetzt Gurpreet einen seiner Landsleute. Andere haben es ähnlich gemacht, Haus und Hof verkauft oder bei der Bank für einen Kredit verpfändet. »Die Familie zu Hause muss das jetzt zurückzahlen«, bekennt ein gelernter Tischler. »Sie müssen sich dazu als Hausangestellte verdingen«, fügt Gurpreet hinzu, der selbst Sohn eines pensionierten Offiziers ist und Ökonomie studiert hat. »Das ist wohl das Schlimmste, was man sich vorstellen kann.«

»Pass, Geld, Kleidung - alles weg«

In Ceuta verdienen sich die indischen Migranten ihren Lebensunterhalt als Parkwächter auf öffentlichen Parkplätzen oder vor Supermärkten. Täglich etwa sieben oder acht Euro, das muss genügen. »Gott sei dank geben die Leute in Ceuta immer etwas, sonst würden wir nicht über die Runden kommen«, erzählt Gurpreet. Die indische Gemeinde der Stadt, etwa 2000 Menschen, viele davon angesehene Geschäftsleute, übernehmen die Kosten für Medikamente, spendieren Plastikplanen für die Hütten oder auch Lebensmittel.

Der lange und gefährliche Weg von Indien nach Ceuta soll jeden insgesamt 15 000 Euro gekostet haben. Die Fahrtroute war bei allen gleich: Zuerst führte sie in ein Land Westafrikas, bevorzugt Burkina Faso, Niger oder Mauretanien. Danach ging es weiter nach Mali und über Algerien nach Marokko. »Mafia, Mafia«, sagt Gurpreet, und seine Migrantenkollegen murmeln das Wort ehrfürchtig nach und schütteln dabei gleichzeitig ungläubig den Kopf. »Ohne kriminelle Organisationen kommt man kaum vorwärts. Ohne Mafia wären wir jetzt nicht hier.« Ein allerdings zweifelhaftes Bündnis, das auch seinen Preis hat.

In ihrem Heimatland Indien hatte man ihnen eine Reise direkt nach Europa versprochen »Aber dann fanden wir uns alleine in Afrika wieder«, erklärt Gurpreet. Ohne Unterstützung sind Fremde, die nur zu zweit oder zu dritt reisen, dort eine leichte Beute. In Mali wurden gleich mehrere der Campbewohner ausgeraubt. »Pass, Geld, Kleidung -- alles weg«, erzählt der Bauer aus Punjab, der seinen Acker verkaufte. Ein langer Aufenthalt in Marokko blieb den Indern jedoch erspart. Bereits zwei, drei Monate nach ihrer Ankunft im nordafrikanischen Königreich ging es mit einem Boot oder versteckt in einem Auto über die gut bewachte Grenze nach Ceuta. 3000 Euro hätten sie für die illegale Passage bezahlt, was alle Anwesenden nickend bestätigen. Ein Luxus, den sich Schwarzafrikaner aus den Ländern südlich der Sahara in der Regel nicht leisten können. Sie müssen oft jahrelang in Marokko aushalten, werden verhaftet und ins Niemandsland an die Grenze zu Algerien deportiert, kehren jedoch auf Schleichwegen wieder zurück. Geld für ein Boot oder den Schmuggel im Pkw nach Ceuta haben die meisten Schwarzafrikaner nicht. Sie riskieren ihr Leben, wenn sie über den schwer befestigten Grenzzaun klettern oder durchs Mittelmeer schwimmen, um in die Exklave zu gelangen. Eine Schwimmweste einschließlich ortskundigem Schlepper kostet immerhin »nur« 300 bis 500 Euro.

In der Kleinstadt Ceuta mit ihren knapp 70 000 Einwohnern wähnten sich die Migranten aus Indien am Ziel ihrer Träume. Aber aufs Neue wurden sie desillusioniert. Was man ihnen zu Hause erzählt hatte, entsprach nicht der Wahrheit. Selbst in der spanischen Stadt Ceuta sind sie von Europa weit entfernt. Laut Immigrationsgesetz aus dem Jahre 2008 können Migranten 60 Tage lang festgehalten werden, bevor man sie deportiert oder mit der Auflage, das Land zu verlassen, auf freien Fuß setzt. Vor Jahren wurden die Migranten in Ceuta nach dieser Frist auf die iberische Halbinsel gebracht. Dort setzte man sie mit 50 Euro und einem Sandwich am Bahnhof einer Großstadt ab und wies sie an abzureisen -- was natürlich keiner tat.

Schier endloses Warten auf eine Entscheidung

Damit ist es nun vorbei. Die Migranten aus Indien warten in der spanischen Exklave auf afrikanischem Boden seit zwei Jahren auf eine Entscheidung darüber, was mit ihnen passiert. Allen anderen Insassen des Auffanglagers CETI geht es nicht anders. Hintergrund dieser Politik ist die steigende Zahl von Immigranten. 1996 waren es in Spanien noch 500 000, heute sind es 5,2 Millionen, bei einer Gesamtbevölkerung von 40 Millionen. Die spanischen Behörden befürchten, sollten Migranten weiterhin nach 60 Tagen »frei« gelassen werden, eine neue Einwanderungswelle. Nicht nur von Menschen aus ganz Afrika, sondern auch aus Asien.

Die indischen Migranten in ihrem Lager auf dem Berg von Ceuta wissen das und sind skeptisch, dass sie je ihre »Papiere« bekommen werden. Trotzdem hofft jeder auf ein Wunder.

* Aus: Neues Deutschland, 8. April 2009


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