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"Die Einwanderung wird als Sicherheitsfrage dargestellt"

UNHCR-Vertreterin: Berlusconi-Regierung kriminalisiert Migration

Vor einer Woche kam es auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa zu Protesten der dort internierten Flüchtlinge gegen die Lebensbedingungen in dem Auffanglager und die Einwanderungspolitik der Berlusconi-Regierung. Laura Boldrini, Sprecherin des UN-Hochkommissariats für Flüchtlingsfragen (UNHCR) in Rom, erläuterte gegenüber dem "Neuen Deutschland" ND-Mitarbeiter Tom Mustroph die Hintergründe der aktuellen Entwicklung.



ND: Wie schätzen Sie die Lage der Flüchtlinge auf Lampedusa ein?

Laura Boldrini: Sie hat sich seit Ende Dezember extrem verschärft. Grund ist die Entscheidung von Innenminister Maroni, keine der in Lampedusa gelandeten Migranten mehr auf das italienische Festland zu schaffen. Binnen Kurzem wurde die Kapazität des provisorischen Aufnahmelagers erschöpft. Es ist für maximal 800 Personen eingerichtet. Vor wenigen Tagen befanden sich dort aber 1800. Angesichts dieser Enge ist klar, dass Spannungen entstehen. Die Standards von Unterbringung und Versorgung konnten nicht eingehalten werden. Hinzu kam, dass niemandem gesagt wurde, was mit ihm geschehen wird.

Wie hat der Innenminister seine Entscheidung begründet?

Er hat erklärt, dass keine Einwanderer mehr nach Italien kommen sollen und damit Zustimmung im Norden des Landes erzielt. Maroni hat dann aber verstehen müssen, dass es so nicht geht. Er hat inzwischen erlaubt, dass alle Asylbewerber ausgeflogen werden können. Wir sehen es positiv, dass die Antragsteller auf Asyl transferiert werden. Das kommt der Situation vorher sehr nahe.

Wie war es vorher?

Wegen seiner geografischen Lage landet in Lampedusa ein Großteil der auf dem Seeweg einreisenden illegalen Einwanderer nach Italien, im vergangenen Jahr etwa 31 000 von insgesamt 37 000. Unter ihnen befanden sich Wirtschaftsmigranten, aber auch Flüchtlinge aus Bürgerkriegen und politisch Verfolgte. Eine wichtige Aufgabe besteht darin, die einen von den anderen zu unterscheiden. Auf Lampedusa hat das bis dato gut geklappt. Die Menschen wurden auf offener See geborgen, identifiziert, registriert und sofort in andere Zentren gebracht. Lampedusa galt international als Referenz. Hier haben Behörden und Nichtregierungsorganisationen gut zusammengearbeitet. Voraussetzung war, dass alle Personen nur wenige Tage hier bleiben. Der von Maroni verfügte Stopp hat für eine Überfüllung gesorgt.

Wie viele Flüchtlinge befinden sich zur Zeit auf Lampedusa?

In dem provisorischen Aufnahmelager leben zur Zeit etwa 1100 Tunesier. In einem zweiten Stützpunkt auf der ehemaligen Militärbasis Loran befinden sich weitere 130 Menschen unterschiedlicher Nationalität. Von Montag bis Freitag vergangener Woche sind allein 350 Asylbewerber ausgeflogen worden. Es ist interessant, dass im vergangenen Jahr 75 Prozent aller in Lampedusa erfassten Personen einen Asylantrag gestellt haben. Der Hälfte aller Einwanderer wurde aufgrund ihrer persönlichen Situation und der Lage in ihren Herkunftsländern ein Schutzstatus zuerkannt.

Das bedeutet, dass der Anteil der Wirtschaftsflüchtlinge überraschend gering ist.

Ja. Für viele ist ein Schutz absolut notwendig, im Unterschied zu Spanien etwa, wo der Anteil der Asylbewerber unter den über das Meer einreisenden Einwanderern nur drei Prozent beträgt.

Viele der auf Lampedusa Festgehaltenen haben jetzt auch lautstark ihre Freiheit gefordert. Wie ist ihre rechtliche Situation denn?

Laut Gesetz ist Lampedusa ein Transitzentrum. Normal sind 48 Stunden Aufenthalt. Daraus wird oft eine Woche, weil das Wetter nicht zulässt, dass Boote und Flugzeuge die Insel verlassen. In dieser Zeit ist es ihnen nicht erlaubt, das Zentrum zu verlassen, selbst wenn Premier Berlusconi behauptet hat, dass sie auf ein Bier ins Dorf gehen könnten. Dies war ihnen nie gestattet.

Rom plant weitere Verschärfungen der Rechtslage. Wie beurteilen Sie das?

Immerhin ist jetzt der Versuch vom Tisch, illegale Einwanderung mit Gefängnis zu bestrafen. Aber sie bleibt ein Delikt. Das sorgt für eine Kriminalisierung. Leider wird in Italien, sowohl von den Politikern wie von den Medien, Einwanderung in erster Line als ein Sicherheitsproblem dargestellt. Andere Dimensionen – kulturelle, soziale und ökonomische etwa – werden völlig vernachlässigt. Vor kurzem hat Innenminister Maroni gesagt, in Italien gebe es kein Problem der organisierten Kriminalität, sondern nur ein Problem der illegalen Einwanderung.

Der Minister scheint nicht auf dem aktuellen Stand der Arbeit der ihm unterstellten Antimafia-Behörde zu sein.

Er entwirft auch bezüglich der Einwanderung ein verzerrtes Bild. Der weitaus größte Teil der Migranten, 85 bis 90 Prozent, ist legal eingereist. Dann ist ihr Visum abgelaufen und sie sind illegal im Land.

Sehen Sie einen Ausweg?

Man muss das Problem ernsthaft angehen. Das Thema demagogisch auszuschlachten, ist sicher keine Lösung.

* Aus: Neues Deutschland, 2. Februar 2009


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