Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Gestrandet

Afrikanische Flüchtlinge an den Südgrenzen Europas

Von Andreas Boueke, Marsa *

Der süße Geruch von Wasserpfeifen liegt in der Luft. Ventilatoren surren. Ich bin der einzige Europäer im Raum. Die meisten der etwa vierzig afrikanischen Männer sitzen auf alten Sofas vor zwei Fernsehern. In dem einen läuft eine somalische Seifenoper, in dem anderen laufen Nachrichten aus Eritrea. Ein paar Männer spielen Billard. Die meisten stammen aus Somalia. Zwei Iraner spielen Schach.

In der Cafeteria des Flüchtlingsheims Marsa Open Center im Osten der Mittelmeerinsel Malta warte ich auf die Sozialarbeiterin Sandra Schembri. Als sie den Raum betritt, wird sie sofort von mehreren Männern umringt. Einige schimpfen, der Ventilator in ihrem Schlafsaal sei ausgefallen. Andere fragen, ob es demnächst einen Computerkurs geben wird. Sandra arbeitet in der Verwaltung des Flüchtlingsheims, souverän beantwortet sie die Fragen. Dann setzt sie sich zu mir an den Tisch. »Diese Leute sind sehr stark«, sagt sie. »Sie sind Überlebenskünstler. Auf ihrem Weg hierher haben sie andere sterben sehen. Sie selbst haben überlebt. Das ist natürlich hart. Ich glaube, die Hoffnung, der Traum von einer besseren Zukunft, hat sie am Leben gehalten.«

Sandra führt mich durch das renovierungsbedürftige Gebäude des Marsa Open Centers. In den meisten Räumen sind über zwanzig Flüchtlinge untergebracht. Auf der Dachterrasse treffen wir einige Männer, die um einen Tisch stehen, an dem zwei von ihnen Schach spielen. Ich frage, ob ich ein Foto machen darf. Keine Antwort. Plötzlich fordern mich zwei junge Männer auf, die Kamera in der Tasche stecken zu lassen. »Viele von uns werden in unserer Heimat verfolgt«, sagt einer. »Wir wollen nicht erkannt werden.«

Ich setze mich zu den beiden. Der eine heißt Zacaria: »Im Jahr 2007 bin ich aus Somalia geflohen. Dort war Krieg. Ich habe in einer gefährlichen Gegend gelebt. In Somalia hast du immer Angst. Wenn du auf den Markt gehst, weißt du nicht, ob du dort sterben wirst. Viele meiner Freunde und Angehörigen sind tot.«

Zacarias Freund Mohammed ist seit fünf Jahren auf Malta. »Als wir noch in Somalia waren, haben wir geglaubt, in Europa könnten wir ein gutes Leben führen. Wir dachten, wir würden sofort Arbeit finden, wir könnten etwas lernen, wir würden uns anstrengen und etwas erreichen. Alle denken so. Im Fernsehen sieht man die Leute in Europa, in Deutschland und anderswo. Sie haben große Häuser und viele Autos, die sie gleich neben ihrem Haus parken.«

Zacaria ist 24 Jahre alt. Um seinen Traum von Europa zu verwirklichen, hat er sein Leben aufs Spiel gesetzt. »Nach ein paar Tagen in der Wüste glaubt niemand mehr, dass er da lebendig wieder rauskommt. Du hast keine Ahnung, wohin du gehst. Norden, Osten, Süden? Du verlierst die Orientierung.«

Zacaria macht den Eindruck eines offenen Menschen. Wenn er mit sanfter Stimme erzählt, schaut er mir in die Augen. Mohammed ist anders. Seine Gesichtszüge sind hart. Er lacht selten und meidet Blickkontakt. »Wenn ich mich an diese Zeit erinnere, tut mir das weh. Einige meiner Freunde sind in der Sahara gestorben.« Mohammed will nicht weiter über seine Flucht sprechen. Umso ausführlicher schimpft er über die Verhältnisse auf Malta. Nach seiner Ankunft war auch er lange in einem Internierungslager. Nur wenige Hilfsorganisationen dürfen dort mit den Häftlingen sprechen. Deshalb glaube ich Mohammed nicht so recht, als er vorschlägt, ich solle mir selbst ein Bild von den überfüllten Zellen machen. Er behauptet, er könne mir Zugang zum berüchtigten Internierungslager Hal Far verschaffen. Aber Malta ist ein Land der Europäischen Union. Da wird es auch mit Tricks nicht möglich sein, eben mal schnell in Zellen internierter Flüchtlinge zu schauen. Mohammed aber bleibt dabei: Er will mich ins Internierungslager Hal Far bringen. Er telefoniert. Kurz darauf verlassen wir das Marsa Open Center. Vor dem Tor wartet ein Auto. Der Fahrer ist ein junger Somalier mit maltesischer Arbeitserlaubnis. Die wenigen Zähne, die er noch hat, sind in bemitleidenswertem Zustand.

Nach wenigen Kilometern haben wir die maltesische Hauptstadt Valetta verlassen. Die Fahrt führt durch eine trostlose Gegend mit felsigem Boden. Mohammed erklärt: »Wir fahren zum Internierungslager Hal Far. Dort zeigen wir dir, wie unsere Leute leben. Es ist schlimm. Manche bleiben bis zu drei Jahre in Haft, ohne irgendeinen Grund. Das Lager wird von Soldaten bewacht.«

Plötzlich halten wir vor einer hohen Mauer, die mit Stacheldraht gesichert ist. Mohammed, Zacaria und ich steigen aus dem Auto und gehen zu einem Schlagbaum. Ein großes Schild warnt: Achtung Militärgebiet! Es ist der Eingang zum Lager. Mohammed sagt, in der vergangenen Woche seien neue Migranten aus Somalia inhaftiert worden. Er will, dass ich mit ihnen spreche.

In dem Pförtnerhäuschen sitzt ein Soldat. Er beobachtet uns, telefoniert und kommt dann freundlich lächelnd auf uns zu. Hinter ihm tauchen vier seiner Kameraden auf, mit Maschinengewehren und grimmigem Blick. Für diesen Moment hat sich Mohammed eine wenig überzeugende Geschichte zurechtgelegt: Vor kurzem sei sein Cousin nach Malta gekommen und inhaftiert worden. Er müsse dringend mit ihm sprechen. Offenbar glaubt er wirklich, dass er damit durchkommt. Der Soldat gibt sich hilfsbereit, wohl auch, weil ich mich mit einer Presseakkreditierung der maltesischen Informationsbehörde ausweisen kann. Er fragt: »Haben Sie schon mit jemandem gesprochen? Können Sie mir den Namen nennen?« Mohammed antwortet: »Ja, mit Pater Phillip.« Der Soldat kennt den Priester nicht: »Sie haben mit einem Pater Phillip gesprochen. Wer ist das?«

Der Soldat versucht, den Chef des Lagers zu erreichen, Cornel Gatt. »Wenn er etwas von Ihrem Besuch weiß, können sie rein. Für uns ist das kein Problem. Aber wenn er nein sagt, dann ist es unmöglich.«

Das Telefon klingelt. Der Soldat geht hin und antwortet. Als er zurückkommt, verfliegt Mohammeds Optimismus. »Tut mir leid, meine Herren«, sagt der Soldat. »Versuchen Sie es auf dem Verwaltungsweg. Der Chef ist Cornel Gatt.«

Unser Auto ist längst weg. Wir setzen uns in den Schatten eines Baumes, um ein paar Schluck Wasser zu trinken. Ich frage Zacaria nach seiner Fahrt übers Mittelmeer. »Wir wollten gar nicht nach Malta, aber unser Boot ist kaputt gegangen und wir haben die Orientierung verloren. Die Frauen und Kinder haben geschrien: ›Wir werden sterben.‹ Ich dachte auch, dass wir sterben würden. Aber dann sind Boote der maltesischen Armee gekommen und haben uns gerettet. Wir kamen gleich in Haft. Wir wussten nicht, dass wir in Malta eingesperrt werden. Wir glaubten, dass Europa sicher ist, dass wir hier ein besseres Leben führen würden. Als wir eingesperrt wurden, dachte ich, dass es auf der ganzen Welt keinen sicheren Ort gibt. Alle waren enttäuscht und haben gesagt: ›Heute ist alles vorbei.‹«

Wir gehen wieder über die staubige Straße. Mohammed hat noch nicht aufgegeben. Nach wenigen Minuten erreichen wir eines der vom Staat betriebenen offenen Lager. Doch auch da kommen Journalisten nicht ohne ein aufwendiges Genehmigungsverfahren rein. Wir gehen an einem Maschendrahtzaun entlang, der mit Stacheldraht gesichert ist. Mohammed kennt eine Öffnung im Zaun, direkt neben der Straße. Das Open Center Hal Far ist kein Gefängnis, sondern ein offenes Lager für Afrikaner, die aus der Haft entlassen wurden. Alle können frei ein und aus gehen, aber niemand soll das Lager unangemeldet betreten. Doch Mohammed meint, ich bräuchte mir keine Sorgen zu machen. Dann zwängt er sich durch das Loch im Zaun.

Afrikanische Männer sitzen im Schatten zweier Bäume. Sie freuen sich über den Besuch. Mohammed stellt mich als Journalisten aus Deutschland vor. Sofort fangen sie an, über die Zustände zu klagen. Sie führen mich durch das Lager und zeigen mir die großen Container, in denen jeweils zwanzig Männer schlafen. Manchmal müssen sich zwei ein Bett teilen. Nachts wird es in den Containern oft so heiß, dass einige Männer ihre Matratzen nach draußen bringen und sich auf den asphaltierten Platz legen, über den der Wind den Staub bläst. Einige von ihnen sitzen hier seit über fünf Jahren fest.

Am Abend schlägt Mohammed vor, an einer Demonstration teilzunehmen. Mehrere hundert afrikanische Flüchtlinge haben sich vor dem Haupttor von Vallettas Altstadt zusammengefunden. Mohammed freut sich, dass so viele Afrikaner gekommen sind: »Sie wollen der Regierung klar machen, dass wir keine Tiere sind. Wir sind Menschen wie die Malteser.«

Auslöser der Demonstration war der Tod des Flüchtlings Mamadou Kamara aus Mali. Er lebte illegal auf Malta, wurde schwer krank und musste behandelt werden. Im Krankenhaus hatte ihn die Polizei verhaftet und wollte ihn in ein Internierungslager bringen. Der junge Mann versuchte zu fliehen. Die Polizisten fassten ihn wieder und fuhren ihn zum Internierungslager Safi. Als Mamadou Kamara dort ankam, war er tot.

Einer der Malteser, die für die Rechte der Flüchtlinge kämpfen, ist der Anthropologe André Callus: »Migranten sind weder hilflose Opfer noch eine Bedrohung. Es sind Leute, die über ihre Situation sprechen wollen. Das ist sehr wichtig. Diese Menschen hier sind gekommen, um für eine bessere Behandlung zu kämpfen und für die Menschenrechte der anderen, die noch im Gefängnis sitzen.«

Als der Demonstrationszug vor dem maltesischen Parlamentsgebäude ankommt, stellen sich verschiedene Redner auf einen Stuhl und greifen zum Mikrofon. Auch André Callus hält eine engagierte Rede: »Die Gewalt in den Haftanstalten ist zur gängigen Praxis geworden. Die Öffentlichkeit weiß davon nichts, weil es innerhalb der geschlossenen Lager geschieht. Jede Woche werden Leute misshandelt. Das muss sich ändern.«

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 20. Juni 2013


New York, 20 June 2013 - Secretary-General's message on World Refugee Day

The number of forcibly displaced people in the world continues to rise. There are now more than 45 million refugees and internally displaced people – the highest level in nearly 20 years. Last year alone, someone was forced to abandon their home every four seconds.

War remains the dominant cause, with the crisis in Syria a leading instance of major displacement. More than half of all refugees listed in a new report by the UN High Commissioner for Refugees come from just five war-affected countries: Afghanistan, Somalia, Iraq, Syria and Sudan. Major new displacements have also been occurring in Mali and the Democratic Republic of the Congo.

Figures give only a glimpse of this enormous human tragedy. Every day, conflict tears apart the lives of thousands of families. They may be forced to leave loved ones behind or become separated in the chaos of war. Children suffer the most. Nearly half of all refugees are below age 18, and a growing number are fleeing on their own.

Forced displacement also has a significant economic, social and, at times, political impact on the communities that provide shelter. There is a growing and deep imbalance in the burden of hosting refugees, with poor countries taking in the vast majority of the world’s uprooted people. Developing countries host 81 per cent of the world’s refugees, compared to 70 per cent a decade ago.

Finding durable solutions for the displaced will require more solidarity and burden-sharing by the international community. On World Refugee Day, I call on the international community to intensify efforts to prevent and resolve conflicts, and to help achieve peace and security so that families can be reunited and refugees can return home.

http://www.un.org/




Feindbild Flüchtling

Deutschland als Scharfmacher in Europa

Von Christian Klemm **


Rechtliche Grundlagen für Schutzsuchende, die in die Europäische Union einreisen, beschließt heute überwiegend Brüssel. Die Bundesrepublik ist dabei das Mitgliedsland, das sich permanent für eine Verschärfung des Flüchtlingsrechts einsetzt. So gilt der deutsche »Asylkompromiss« von 1993 als eine Art Blaupause für das europäische Flüchtlingssystem. Wer zum Beispiel aus einem sicheren Drittstaat kommt, kann sich nicht auf das Grundecht auf Asyl berufen, heißt es in Artikel 16a des Grundgesetzes. Dieser Artikel wurde inzwischen in EU-Recht überführt. So müssen Schutzsuchende nach der sogenannten Dublin-II-Verordnung in dem Land der Union Asyl beantragen, das sie als erstes betreten haben. Deutschland ist dadurch oft nicht für das Asylverfahren zuständig, da die meisten Flüchtlinge über die südlichen und östlichen Mitgliedsstaaten einreisen. Schlagen sie sich doch nach Berlin, Hamburg oder München durch, können sie an die Peripherie der Europäischen Union abgeschoben werden.

Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich hat erst kürzlich deutlich gemacht, dass er an dieser rigiden Flüchtlingspolitik festhält. Der CSU-Politiker boxte eine Neuregelung durch, die es den Mitgliedsstaaten des Schengenraums ermöglicht, nationale Grenzen bis zu zwei Jahre dichtzumachen, wenn sie die Ankunft von vielen Flüchtlingen befürchten.

Indes machten Bundesländer und Bundesverfassungsgericht Friedrichs Plänen in jüngster Vergangenheit einen Strich durch die Rechnung. So ist die Residenzpflicht, die Flüchtlingen im Bundesgebiet einen bestimmten Aufenthaltsort vorgibt, in vielen Ländern zumindest gelockert worden. Und durch eine Entscheidung des höchsten deutschen Gerichts müssen Geldleistungen für Schutzsuchende nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhöht werden. Flüchtlinge erhielten nur 30 bis 40 Prozent der Hartz-IV-Bezüge – ein Verstoß gegen das Grundgesetz, so die Begründung im vergangenen Sommer.

** Aus: neues deutschland, Donnerstag, 20. Juni 2013


Erschreckendes Ausmaß

Nach Schätzungen des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) waren 2012 weltweit 45,2 Millionen Menschen auf der Flucht – die höchste Zahl seit 1994. Grund ist vor allem der andauernde Konflikt in Syrien. Anfang Juni kamen täglich zwischen 1000 und 2000 Menschen allein in Jordanien an.

45,2 Millionen Menschen sind zehn Millionen mehr als in Kanada leben oder doppelt so viele wie Australien Einwohner hat.

»Diese Zahlen sind wahrhaft alarmierend«, sagt António Guterres, UN-Hochkommissar. »Sie reflektieren massenhaftes Leid und zugleich die Schwierigkeiten der internationalen Gemeinschaft, Konflikte zu verhindern oder rasch friedlich zu lösen.«

Allein im zurückliegenden Jahr sind 7,6 Millionen Frauen, Männer und Kinder aus ihren Heimatorten geflohen. Die meisten von ihnen – 6,5 Millionen – fanden notdürftig Zuflucht innerhalb des eigenen Landes. Naturkatastrophen und explodierende Lebensmittelpreise – oft eine Folge des Klimawandels – gehören zu den Fluchtursachen. Auch Armut und Hoffnungslosigkeit. Vor allem aber sind es Kriege. Weit mehr als die Hälfte der vom UNHCR als Flüchtlinge registrierten Menschen stammen aus den fünf Ländern mit den derzeit blutigsten Konflikten: Afghanistan, Somalia, Irak, Syrien und Sudan. nd




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