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Irrationale Stimmungsmache

Jahresrückblick 2014. Heute: Mehr Flüchtlinge in der BRD. Rechte, aber auch Medien schüren Rassismus und Ängste

Von Markus Bernhardt *

In vielen deutschen Städten kam es 2014 zu Auseinandersetzungen über den Umgang mit Flüchtlingen, die in der Bundesrepublik Asyl beantragten und zuvor vor Krieg, Vertreibung und Armut geflohen waren (siehe jW vom 19.12.). Bis einschließlich November wurden in diesem Jahr in der Bundesrepublik 155.427 Erstanträge auf Asyl gestellt. Hinzu kamen 26.026 Folgeanträge, wodurch die Zahl auf insgesamt 181.453 stieg. 2013 wurden insgesamt 127.023 Asylgesuche verzeichnet.

Ein wesentlicher Grund für den Anstieg ist der andauernde Bürgerkrieg in Syrien. Von dort Geflüchtete stellten 2014 die meisten Anträge auf Asyl in Deutschland. Mit 22 Prozent stehen sie an erster Stelle, gefolgt von Serbien mit einem Anteil von 9,8 Prozent und Eritrea mit acht Prozent. Deutlich mehr als ein Drittel aller seit Januar gestellten Erstanträge stammt also von Menschen aus diesen drei Ländern.

Bis einschließlich November wurde insgesamt 26.842 Personen (23,6 Prozent) die Rechtsstellung eines Flüchtlings nach der Genfer Flüchtlingskonvention zuerkannt. Darunter waren 1.919 Personen (1,7 Prozent), die als Asylberechtigte anerkannt wurden. Weitere 5.092 (4,5 Prozent) erhielten »subsidiären Schutz«, also eine Aufenthaltsgenehmigung, weil ihnen bei Abschiebung akut Gefahr für Leib und Leben drohen würde. Darüber hinaus wurden bei 1.879 Personen (1,7 Prozent) sogenannte Abschiebungshindernisse festgestellt. Abgelehnt wurden 38.306 Anträge (33,7 Prozent). Anderweitig »erledigt« – zum Beispiel durch Verfahrenseinstellung wegen Rücknahme des Asylgesuchs – wurden die Fälle von 41.517 Menschen (36,5 Prozent). Unter diesen Fällen waren auch solche aus früheren Jahren. Insgesamt 163.244 Anträge auf Asyl waren im November noch nicht entschieden.

Nicht wenige Bundesbürger glauben, dass der Zuzug von Flüchtlingen Deutschland überfordere. Dabei entspricht die Zahl derer, die in der Bundesrepublik Asyl suchen, nur 0,4 Prozent der insgesamt 51,2 Millionen Menschen, die weltweit auf der Flucht sind. Zudem war die Anzahl der Asylbewerber Anfang der 1990er Jahre deutlich höher als gegenwärtig. So beantragten beispielsweise 1992 rund 438.000 Menschen Asyl in der Bundesrepublik. Zwar ist die BRD in Europa der Staat, der in absoluten Zahlen die meisten Schutzsuchenden aufnimmt, vorerst zumindest. Gemessen an der Bevölkerung leisten Staaten wie Schweden oder Malta jedoch wesentlich mehr.

Trotz der vielen Kriege und Konflikte zeigte sich die deutsche Politik unvorbereitet auf die steigende Zahl von Asylbewerbern. Allerorts fehlt es an geeigneten Unterkünften. Die bestehenden befinden sich oftmals in einem miserablen und menschenunwürdigen Zustand. Zwar gäbe es Möglichkeiten, das Leben der Neuankömmlinge mit geringem Aufwand deutlich zu verbessern. Doch offenbar setzen Landes- und Kommunalpolitiker weiter auf Abschreckung. Schon seit Jahren fordern Flüchtlingsorganisationen zum Beispiel die dezentrale Unterbringung in Wohnungen. Dadurch würde den Betroffenen die Teilhabe an der Gesellschaft erleichert und auch Ängste der einheimischen Bevölkerung würden abgebaut, die sich regelmäßig – wenngleich meist ohne Grund – um Kriminalität im Umfeld von Massenunterkünften sorgt.

Vor allem rassistische und offen neofaschistische Gruppierungen und Parteien versuchten auch in diesem Jahr – etwa in Berlin und Duisburg – Vorurteile und irrationale Ängste in der Bevölkerung anzuheizen. Infolgedessen kam es wiederholt zu Protesten und Angriffen gegen Flüchtlingsunterkünfte bzw. deren Bewohner. Selbst zu Weihnachten kam es zu feindseligen Handlungen. So zersägten in Berlin-Hellersdorf Unbekannte in der Nacht zu Heiligabend einen für Flüchtlinge aufgestellten Weihnachtsbaum, der als Zeichen der Solidarität von Unterstützern aufgestellt worden war. In der Nähe der Überreste des Baumes fand die Polizei ein Transparent mit rechten Parolen.

In Sachsen gab es seit Mitte 2012 insgesamt 54 Versammlungen, die sich gegen Asylunterkünfte richteten, sowie 57 Straftaten gegen Flüchtlingsheime und deren Bewohner. Zweimal wurden dabei jeweils zwei Personen verletzt, wie die dortige Landtagsabgeordnete Juliane Nagel (Die Linke) jüngst durch eine kleine Anfrage in Erfahrung bringen konnte. Im Freistaat hatten in den vergangenen Monaten vor allem die neofaschistische NPD, aber auch die »Alternative für Deutschland« (AfD) gegen Flüchtlinge mobilgemacht. Dies obwohl 2013 nur 5.800 Asylbewerber im Freistaat aufgenommen wurden. In Nordrhein-Westfalen waren es hingegen 23.719 Erstantragsteller, in Bayern 16.698 und in Baden-Württemberg 13.421.

Vermischt wurden die zunehmend aggressiver geführten öffentlichen Debatten um Flucht und Asyl unterdessen nicht selten mit denen um den Islam. Zusammenschlüsse und Organisationen wie das Netzwerk »PEGIDA« (»Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes«) hetzen gegen Muslime. Dabei leben in der gesamten Bundesrepublik lediglich rund vier Millionen Anhänger des Islam, sie machen also etwa fünf Prozent der Bevölkerung aus. Dagegen gehören rund 60 Prozent der Bürger, also rund 48 Millionen Menschen, einer der christlichen Kirchen an. In Sachsen, dem Mutterland der »PEGIDA«-Proteste, leben sogar nur 0,7 Prozent Muslime. Wer vor dem Hintergrund dieser Fakten von einer drohenden »Islamisierung« schwadroniert, muss mindestens über ein überdurchschnittliches Maß an Phantasie verfügen.

* Aus: junge Welt, 27. Dezember 2014


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