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Jahr der Flüchtlinge

Der Oranienplatz und Hellersdorf sind über Berlin hinaus zu Symbolen der asylpolitischen Debatte geworden

Von Robert D. Meyer *

Flüchtlingsproteste gab es 2013 nicht nur auf dem Oranienplatz. Neonazis versuchen, die gescheiterte Asylpolitik des Senats im Wahlkampf zu nutzen. Das misslingt, doch Probleme bleiben.

Es ist einer dieser Momente, der sich im Gedächtnis vieler Bewohner und Unterstützer vom Oranienplatz festsetzten wird: Anfang Oktober hat sich mit Claudia Roth die scheidende Bundesvorsitzende der Grünen im Kreuzberger Flüchtlingscamp angekündigt. Solche Termine schüchtern viele der häufig traumatisierten Campbewohner ein. Aber sie sind nötig, die Bewohner des Oranienplatzes brauchen jede mediale Aufmerksamkeit, die sie bekommen können. Roth hält gemeinsam mit den Flüchtlingen eine improvisierte Pressekonferenz ab. Ein Dutzend Kameras klicken. Johnson Takyi sitzt neben der Grünen-Politikerin. Teilnahmslos blickt er in die Runde, wendet seinen Blick immer wieder ab, bis ihn Roth auf sein Schicksal anspricht. Mit leiser Stimme erzählt der 43-Jährige, wie er vor wenigen Tagen seinen jüngeren Bruder verlor. Takyis Englisch ist schlecht, andere Campbewohner übersetzen die brüchig klingenden Worte des Ghanaers. Sein Bruder Matin Takyi befand sich an Bord jenes mit hunderten Flüchtlingen überfüllten Schiffes, das am 3. Oktober vor Lampedusa sank. Mindestens 360 Menschen ertranken, darunter Johnsons Bruder.

Das Drama vor der kleinen italienischen Mittelmeerinsel wird zur Initialzündung für eine neue Welle des Flüchtlingsprotests. Auf das Sterben im Mittelmeer antworten die Flüchtlinge unter anderem mit einer symbolischen Besetzung der EU-Vertretung in Berlin-Mitte.

Gleichzeitig wiederholt sich nur wenige Meter von der Brüsseler Dependance entfernt auf dem Pariser Platz ein anderes Drama. Viele Berliner erinnern sich noch an den Protest im vergangen Jahr, als jetzt etwa 30 Flüchtlinge für zehn Tage in den Hungerstreik treten. Es ist der erneute Versuch, eine Debatte über eine Reform des deutschen Asylrechts loszutreten. Eine Reaktion des Berliner Senats und der damals noch schwarz-gelben Bundesregierung lässt zunächst auf sich warten. Erst nachdem die Flüchtlinge nach dem Essen auch das Trinken einstellen und Rettungssanitäter Dutzende Male am Brandenburger Tor vorfahren, sieht sich Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) zu einer Stellungnahme gezwungen. Anstatt mit den Flüchtlingen ins Gespräch zu kommen, hagelt es von Wowereit Kritik am Hungerstreik.

Die Reaktion des Regierenden Bürgermeisters deckt sich mit dem Verhalten der Berliner Politik in der Flüchtlingsfrage. Egal ob auf dem Pariser oder dem Oranienplatz: Lange Zeit hält sich der Senat für die Probleme der Flüchtlinge nicht zuständig. Stattdessen sieht er die Bezirke in der Pflicht. Daran ändert sich auch nichts, als Friedrichshain-Kreuzbergs Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann (Grüne) den Senat um Hilfe bittet, um den Flüchtlingen vom Oranienplatz einen zweiten Winter im Freien zu ersparen. Herrmann erbt die Konflikte rund um das Kreuzberger Protestcamp und die seit vergangenem Winter besetzte frühere Gerhardt-Hauptmann-Schule von ihrem Vorgänger Franz Schulz, als dieser Ende Juli in den Ruhestand geht.

Sie setzt die Strategie ihres Parteikollegen fort: Statt mit Räumung zu drohen, versucht sie mit den Flüchtlingen ins Gespräch zu kommen. Insbesondere Innensenator Frank Henkel (CDU) bringt Herrmann damit gegen sich auf. Bereits im Frühjahr lässt Henkel durchblicken, das Protestcamp so schnell wie möglich räumen lassen zu wollen. Bis zu einer Messerstecherei im November vor der besetzten Gerhardt-Hauptmann-Schule in Kreuzberg bleibt es zunächst bei der Drohung.

Bei ihren Dialogbemühungen übersieht Herrmann allerdings lange Zeit die unterschiedlichen Ziele der Protestbewegung. Diese werden ihr erst klar, als die Campbewohner Ende November in ein Winterquartier umziehen sollen. Ein Teil der Gruppe weigert sich, den Oranienplatz gegen die von der Caritas betriebene Notunterkunft zu tauschen. Auch gegenüber »nd« betonen einige Flüchtlinge immer wieder, den Oranienplatz für den Protest weiter nutzen zu wollen. Während Herrmann in dieser Situation weiter auf den Dialog setzt, will Innensenator Henkel nun bis Januar 2014 eine Vorlage erarbeiten, um gegen den Willen der Bezirksbürgermeisterin eine Räumung des Protestcamps durchzusetzen.

Applaus ist Henkel für solche Attacken nicht nur in der Berliner CDU gewiss. Im Wahljahr 2013 versuchen mehrere rechtsextreme Parteien und Gruppierungen, die Asyldebatte für sich zu nutzen. Bundesweit Schlagzeilen liefert im September eine vermeintliche Bürgerinitiative, die gegen ein neues Flüchtlingsheim in Berlin-Hellersdorf mobil macht. Eine vom Bezirk veranstaltete Informationsveranstaltung eskaliert, nachdem wiederholt Rechte das Mikrofon besetzen. Sowohl die NPD als auch die Vereinigung »Pro Deutschland« nutzen die aufgeheizte Stimmung für sich und halten wiederholt Kundgebungen vor Asylunterkünften ab. Die fremdenfeindlichen Provokationen schlagen sich allerdings kaum im Wahlergebnis nieder. Allein im unmittelbaren Umfeld der Hellersdorfer Flüchtlingsunterkunft erreicht die NPD teilweise zweistellige Ergebnisse. Berlinweit erhält die Partei gerade einmal 1,5 Prozent der Wählerstimmen.

Den Neonazis kommt aber zugute, dass sich sowohl der Senat als auch die Bezirke schlecht auf die wachsende Zahl der neu ankommenden Asylbewerber vorbereitet hatten. Im Herbst spitzt sich die Situation noch einmal deutlich zu. Das zuständige Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo) muss einräumen, an einigen Tagen nicht ausreichend Schlafplätze für neu ankommende Flüchtlinge bereitstellen zu können. Die Antwort des LaGeSo auf die Fehler der vergangenen Monate sind eilig eingerichtete Notunterkünfte.

Allerdings schlägt den Flüchtlingen längst nicht überall so viel Abneigung entgegen, wie in den ersten Wochen in Hellersdorf. So gründen sich fast parallel zu jeder neuen Asylunterkunft lokale Bürgerinitiativen, die die Flüchtlinge unterstützen. Auch in Pankow finden sich etwa 90 Anwohner zusammen, als Mitte Dezember die ersten Familien das in einem Bürogebäude untergebrachte neue Flüchtlingsheim in der Mühlenstraße beziehen. Das Heim mit Platz für 220 Flüchtlinge ist die letzte in diesem Jahr eröffnete Unterkunft. Kurzfristig sorgen die Heimeröffnungen für Entspannung, doch die Flüchtlingsproteste dürften Berlin auch im kommenden Jahr weiter beschäftigen

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 31. Januar 2013


Chronik des Protestes

17. Juni: Nach einer Messerattacke auf einen Flüchtling stürmen 250 Polizisten das Protestcamp auf dem Oranienplatz. Neun Menschen werden vorübergehend festgenommen, die Flüchtlinge kritisieren den Polizeieinsatz als überzogen.

8. Juli: Die CDU in Friedrichshain-Kreuzberg fordert die sofortige Räumung des Oranienplatzes. Das Protestcamp sei »zur Spielwiese von Linksradikalen« verkommen, so CDU-Fraktionschef Götz Müller.

10. August: Monika Herrmann (Grüne), Bezirksbürgermeisterin von Friedrichshain- Kreuzberg, erklärt, das Protestcamp trotz der Forderungen von Innensenator Frank Henkel (CDU) weiterhin zu tolerieren.

22. August: Eine neue Asylunterkunft in Hellersdorf sorgt wochenlang für Schlagzeilen. Während rechte Gruppen rassistische Hetze verbreiten, gibt es für die Flüchtlinge viele Solidaritätsbekundungen.

12. September: Die rechtsextreme NPD hält mehrere Kundgebungen in Marzahn-Hellersdorf ab. Einer Hand voll Nazis stehen dabei mehrere hundert Demonstranten gegenüber.

1. Oktober: Für die Bewohner des Oranienplatzes sucht der Bezirk nach einem festen Winterquartier. Schließlich beteiligt sich auch Sozialsenator Mario Czaja (CDU) an der Suche.

10. Oktober: Auf dem Pariser Platz beginnt ein zehntägiger Hungerstreik von etwa 24 Flüchtlingen. Die Protestaktion wird erst ausgesetzt, nachdem Integrationssenatorin Dilek Kolat (SPD) zusagt, sich in den anstehenden Koalitionsverhandlungen im Bund für die Flüchtlinge einzusetzen.

25. November: Die ersten 65 Flüchtlinge vom Oranienplatz beziehen ein ehemaliges Caritas-Seniorenheim in Wedding. Allerdings bietet die Notunterkunft nicht genügend Platz für alle Campbewohner. Der Oranienplatz bleibt 2014 Ausgangspunkt für Flüchtlingsproteste. rdm




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