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Hilfe für verlorene Generation

Vor der Syrien-Konferenz fordern Hilfsorganisationen zusätzliches Geld

Von Fabian Lambeck *

Vor einer heute beginnenden Syrien-Flüchtlingskonferenz verwiesen am Montag zahlreiche NGOs auf die dramatische Lage im Nahen Osten.

Sie erhoffen sich vom Treffen in Berlin weitere finanzielle Hilfen.

Die Situation in Syrien und im Irak spitzt sich zu. Der Konflikt greift jetzt auch auf Nachbarstaaten wie Libanon oder die Türkei über, die zudem einen gewaltigen Flüchtlingsstrom zu bewältigen haben. Ab heute wollen Vertreter aus über 40 Ländern auf einer Flüchtlingskonferenz in Berlin beraten, wie es mit den Bürgerkriegsflüchtlingen aus Syrien weitergehen soll. Unmittelbar vor Konferenzbeginn hat ein Zusammenschluss von 50 Nichtregierungsorganisationen in Berlin zusätzliche Unterstützung für die Betroffenen eingefordert. In einem gemeinsamen Appell, der am Montag in Berlin vorgestellt wurde, plädierten sie für eine Verdoppelung der Finanzhilfen. Auch sollten die westlichen Staaten mindestens 180 000 weitere Flüchtlinge aus Syrien aufnehmen. Die Kapazitäten der Nachbarländer seien nahezu erschöpft. Deutschland hatte sich verpflichtet, 20 000 Syrer aufzunehmen, von denen noch nicht alle tatsächlich eingereist sind.

Die Hilfsorganisationen hofften, dass von der Konferenz in Berlin »ein starkes politisches Signal« ausgehe, so Mathias Mogge von der Welthungerhilfe. So sollten sich die Staaten auf einen verbindlichen Abschiebestopp für syrische Flüchtlinge festlegen, forderte Mogge. Der Entwicklungshelfer verwies auf die gewaltigen Dimensionen des Flüchtlingsproblems. Derzeit zähle man rund 6,4 Millionen Binnenvertriebene. Rund 4,7 Millionen hätten »keinen Zugang zu humanitärer Hilfe«. Außerdem seien 3,2 Millionen Syrer in die Nachbarstaaten geflohen. Etwa nach Libanon. Das kleine Land hat nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) mehr als 1,1 Millionen Menschen aus Syrien aufgenommen. Eine gewaltige Last, denn der Staat an der Mittelmeerküste hat selbst gerade einmal vier Millionen Einwohner. Das sei so, rechnete Mogge vor, als hätte Deutschland 20 Millionen Menschen aufgenommen.

Ähnlich dramatisch ist die Situation in Jordanien, wie Abeer Ziadeh vom jordanischen Ableger des Kinderhilfswerks »Save the Children« berichtete. In den Flüchtlingslagern wachse eine »verlorene Generation« heran. Rund 50 Prozent der Flüchtlinge seien Kinder, für die nicht genügend Schulplätze zur Verfügung stünden, so Ziadeh. Mittlerweile würden die Schulen »im Zwei-Schicht-Betrieb« unterrichten: morgens unterrichte man die jordanischen Kinder und nachmittags die aus Syrien.

Die Türkei hat mehr Flüchtlinge aufgenommen als jedes andere Land – insgesamt 1,5 Millionen Menschen. Allerdings gilt die Regierung in Ankara auch als treibende Kraft im Bürgerkrieg. Der türkische Präsident Erdogan, selbst glühender Sunnit, will den verhassten Alawiten Assad in Damaskus stürzen und hilft deshalb Rebellengruppen, lange Zeit auch dem Islamischen Staat (IS). Die Flüchtlingsstrom sorgt für Unruhe im Land. So haben sich die Mietpreise vor allem in Provinzen nahe der Grenze seit 2011 nach Angaben der International Crisis Group teilweise verdreifacht. Viele Flüchtlinge in Metropolen wie Istanbul oder Ankara müssen betteln, um zu überleben. Nach UNHCR-Angaben besuchen 73 Prozent der Flüchtlingskinder außerhalb der Camps in der Türkei keine Schule.

Der Regionaldirektor der Welthungerhilfe für Syrien, Ton van Zupthen, prognostizierte am Montag, dass noch mehr Flüchtlinge in die Nachbarstaaten kommen werden. »Der Höhepunkt ist noch nicht erreicht«, so van Zupthen. Derzeit gehe niemand zurück in die Gebiete, die vom Islamischen Staat beherrscht werden. Van Zupthen rechnet damit, dass der Konflikt noch fünf bis zehn Jahre andauern wird. Die größte Herausforderung für die Helfer vor Ort sei es derzeit, die Häuser bzw. Ruinen, in denen viele Flüchtlinge untergekommen seien, winterfest zu machen. Auch wenn sich in Europa die Vorstellung vom heißen Orient hält: Die Winter können hart sein. In den Bergen Kurdistans etwa liegt oft Schnee.

Angesichts dieser Lage ist die Unterfinanzierung der Flüchtlingshilfe geradezu dramatisch. Mathias Mogge sagte am Montag, die Bedarfe der Programme seien »nur zu 47 Prozent gedeckt«.

Ganz ähnliche Zahlen präsentierte das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) am Montag: Demnach würden für 2014 insgesamt 3,7 Milliarden US-Dollar gebraucht. Bislang seien aber nur 1,9 Milliarden US-Dollar zugesagt worden, so das UNHCR.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 28. Oktober 2014


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