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Nur die Guten dürfen rein

Vorabdruck. Politik und öffentliche Meinung betrachten Migranten unter dem Gesichtspunkt ihrer ökonomischen Verwertbarkeit. Rassismus ist zur Spaltung der Beschäftigten noch immer ein probates Mittel

Von Sebastian Friedrich und Marika Pierdicca *


In diesen Tagen erscheint im Papyrossa-Verlag der Sammelband »Migration und Arbeit in Europa«, herausgegeben von Hartmut Tölle und Patrick Schreiner. jW veröffentlicht an dieser Stelle vorab den Aufsatz »Migration und Verwertung. Rassismus als Instrument zur Segmentierung des Arbeitsmarktes«. Der Abdruck erfolgt nach redaktioneller Bearbeitung leicht gekürzt. Auf Fußnoten und Literaturverzeichnis wurde verzichtet. (jW)


In der Bundesrepublik Deutschland sind Einwanderung und Sozialstaat zwei zentrale Themen medialer und politischer Auseinandersetzungen. Sind diese Themen miteinander verschränkt, ist es insbesondere die Stellung von (Post-)Migranten [1] auf dem Arbeitsmarkt, die im Fokus steht. Ausgangspunkt dieser Debatte ist die Tatsache, daß (Post-)Migranten in Deutschland durchschnittlich geringer qualifiziert und häufiger von Armut betroffen sind. Dem aktuellen »Datenreport 2011« des Statistischen Bundeamtes zufolge ist der Anteil der Schüler mit »Migrationshintergrund« mit 42,9 Prozent an Hauptschulen fast doppelt so hoch wie an Gymnasien Außerdem sind »Personen mit Migrationshintergrund« einem doppelt so hohen Armutsrisiko ausgesetzt.

Bei der Frage nach den Ursachen gehen die Meinungen weit auseinander. Neben essentialistischen Begründungen, die im »kulturellen Hintergrund« von (Post-)Migranten grundlegende Defizite vermuten, wird der negative Einfluß von Rassismus auf den Arbeitsmarkt kritisiert. Hier wird zumeist auf die Diskriminierung hingewiesen, die Menschen aufgrund der Haut- oder Haarfarbe, der Kleidung oder etwa des Namens erfahren. So ermittelte eine Untersuchung von Holger Seibert vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), daß unter gleichen Bildungsvoraussetzungen (Post-)Migranten geringere Chancen auf Erwerbstätigkeit haben als »Deutsche ohne Migrationshintergrund«. Mit Verweis auf andere Studien führt Seibert mögliche Erklärungsmuster für die schlechtere Stellung an: »Arbeitgeber« bewerteten die Ausbildungsabschlüsse je nach entsprechenden Gruppen unterschiedlich, es fehle an sozialen Netzwerken, (Post-)Migranten seien aufgrund ihrer sozialen Herkunft schlechter gestellt oder sie würden etwa bei der Bewerberrekrutierung durch die Betriebe diskriminiert. (...)

Doch diese Perspektive erklärt die Reichweite des Einflusses von Migration auf den Arbeitsmarkt nicht hinreichend. Anwerbeabkommen in den 1950er und 1960er Jahren und auch aktuelle Debatten um einen »Fachkräftemangel« zielen keineswegs auf einen absoluten Ausschluß von (Post-)Migranten ab, sondern vielmehr auf deren partiellen Einschluß. Die Migrationspolitik der Bundesrepublik Deutschland betrachtet Migranten unter dem Gesichtspunkt der Verwertbarkeit und nutzt die Zuwanderungsregulierung als Instrument für eine rassistische Arbeitsteilung. Das wird im folgenden aus der Perspektive der Migration anhand dreier Beispiele des Einwanderungsdiskurses aus zwei unterschiedlichen Phasen verdeutlicht: zum einen der »Gastarbeiter-Ära« der 1960er und 1970er Jahre und zum anderen den aktuellen Debatten um »Integration« und »Fachkräftemangel« einschließlich der Diskussion um Migration aus Süd- und Osteuropa im Zuge der Wirtschafts- und Finanzkrise.

Ökonomische Bedürfnisse

Die Geschichte der Anwerbung von »Gastarbeitern« aus den Mittelmeerländern markiert im hegemonialen Diskurs den Anfang der »modernen« Arbeitsmigration nach Deutschland. Die wirkmächtigste Erzählung lautet: Aufgrund einer raschen Wirtschaftsentwicklung in den 1950er und 1960er Jahren wurden Menschen aus ärmeren südlichen Ländern angeworben, um in deutschen Unternehmen zeitlich begrenzt zu arbeiten. Die deutschen Behörden entschieden, die Arbeitsmigranten sollten nicht auf Dauer bleiben, weshalb sie nur befristete Aufenthaltsgenehmigungen erhielten. Da Ausbildungskosten bei der Rekrutierung immer neuer Menschen für die Unternehmen zu hoch gewesen wären, sind die »Gäste« geblieben. Infolge des Gesetzes zur Familienzusammenführung entschieden sich immer mehr Migranten dann zugunsten eines dauerhaften Aufenthalts in Deutschland.

Die offizielle und hegemoniale Geschichtsschreibung markiert Migration als Prozeß, der ausschließlich von wirtschaftlichen Bedürfnissen des »Aufnahmelandes« reguliert wird. Migration wird somit auf eine lineare Entwicklung reduziert, die sowohl die unterschiedlichen subjektiven Beweggründe der Migration als auch die Kämpfe der (Post-)Migranten unberücksichtigt läßt. Gemäß dieser Perspektive sind diese nichts weiter als Objekte von Staat, Politik und Ökonomie. Mehr noch, es liegt ein statisches Verständnis des Umgangs mit Migration zugrunde: Sie kann nur als erwünscht oder nicht erwünscht analysiert werden.

Um die »differentielle Inklusion« von (Post-)Migranten am Arbeitsmarkt zu verstehen, muß der Blick von der hegemonialen Geschichtsschreibung hin zu der Perspektive der Migra­tionskämpfe gewendet werden. Aus diesem Blickwinkel stellt die Anwerbung der Gastarbeiter keineswegs eine Erfindung des Staates dar. Vielmehr sind Anwerbeabkommen als eine Reaktion auf Kämpfe zu verstehen, die bedeutende soziale und politische Veränderungen erbrachten: Die Ethnologin Manuela Bojadžijev schrieb 2006 in einem Aufsatz: »Die Kämpfe der Migration der 1960er und 1970er Jahre lassen sich in drei große Felder unterteilen. Eine massive soziale und politische Transformation war das Ergebnis: Die Praktiken der Einwanderung müssen selbst als soziale Bewegung interpretiert werden, insofern sie eine Autonomie gegenüber den staatlichen Migrationspolitiken entfaltet haben. Die Beteiligung der Migranten an den Arbeitskämpfen hat grundlegend zur Krise der fordistischen Gesellschaftsform beigetragen und öffnete die enge Perspektive der Betriebskämpfe hin zu sämtlichen Lebensverhältnissen der Migration, hin zu Alltag und Reproduktion, zu Sprache und Kultur und nicht zuletzt hin zu den Wohnverhältnissen, die neben den Bedingungen in der Fabrik den entscheidenden Grund migrantischer Kämpfe bildeten.«

Vor diesem Hintergrund wandelten sich die institutionellen Formen und die soziale Praxis des Rassismus immer wieder zu dem Zweck, die für den Kapitalismus notwendigen Klassenungleichheiten zu bewahren. Dabei wird die Herausbildung von Differenzen und Hierarchien zentral, die jeder Person einen bestimmten Platz in der Gesellschaft zuweisen.

»Der Gastarbeiter an sich«

Die wirkmächtigen konstruierten Differenzen und politischen, sozialen und ökonomischen Hierarchien zwischen Arbeitsmigranten und »einheimischen« Arbeitern in den 1960er und 1970er Jahren lassen sich exemplarisch anhand einer Broschüre von Lutz von Rosenstiel aus dem Jahr 1971 begreifen. Ziel der 32seitigen Broschüre mit dem Titel »Warum brauchen wir Gastarbeiter?« war es, den deutschen Bürgern die ökonomischen Vorteile der Anwerbung von »Gastarbeitern« zu erklären. Darüber hinaus sollten Vorurteile gegen die damals so genannten »ausländischen Arbeitnehmer« abgebaut werden. »Gastarbeiter« seien »notwendig bei der Ausweitung unserer Wirtschaft«. Zentral ist in diesem Zusammenhang der Gebrauch des Adjektivs »notwendig« sowie des Verbes »brauchen« im Titel. Migranten werden auf Kosten und Nutzen für die Mehrheitsgesellschaft reduziert: Indem sie dazu beitragen »unsere Wirtschaft« auszuweiten, stellen sie einen »Vorteil« dar. Die Politik der Anwerbung galt dadurch in der Öffentlichkeit als wirtschaftliche Notwendigkeit und fand breite Zustimmung. Die Automatisierung von Arbeitsprozessen war nicht ausreichend, um die Gewinne zu steigern, »also ging man ins Ausland und versuchte dort, die notwendigen zusätzlichen Arbeitskräfte zu gewinnen. »Was hätte man sonst auch tun können?« fragt Rosenstiel suggestiv. Hier spielt die aktive Rolle der Arbeitsmigranten mit ihren subjektiven Beweggründen für die Migrationsentscheidung keine Rolle.

Die Begegnung zwischen (West-)Deutschen und Südeuropäern findet nicht auf gleicher Augenhöhe statt. Dem Text liegt eine klare Trennung zwischen einem »Wir«, den Deutschen, und einem »Sie«, den Arbeitsmigranten, zugrunde – häufig mit negativen Zuschreibungen und Kulturalisierungen. So wird hinsichtlich »Ordnung« und »Sauberkeit« in der Broschüre behauptet: »Unsere Wohnungen sind selbstverständlich sauber und aufgeräumt; wir legen Wert auf eine gewisse Gemütlichkeit. Dies aber ist den Südländern völlig fremd; warum? Weil eine Wohnung für ihn eine viel geringere Rolle spielt, weil er – das hängt natürlich auch mit dem Klima zusammen – viel lieber draußen ist, vor der Tür. Dort spielt sich sein Leben ab, auf dem Marktplatz, im Dorf, wo er alle seine Freunde trifft, dort ist seine Wohnung.«

Gastarbeiter seien laut, zeigten deutlicher ihre Gefühle, hätten Heimweh, sähen in der Bundesrepublik neue »moderne« Sachen, die sie nie in ihrer Heimat sehen könnten, was zur Verwirrung beitrage. Insgesamt müßten »wir« das alles verstehen und sie nicht als »Makkaronifresser« beschimpfen. Bei dem gut gemeinten Versuch, Vorurteile abzubauen, wird eine Form des paternalistischen Rassismus aktiviert, der die Verwertung der »ausländischen Arbeitnehmer« als billige Arbeitskraft noch bestärkt. Daß der Gesichtspunkt der Verwertbarkeit im Zentrum des »Brauchens« steht, wird bei den aufgelisteten wirtschaftlichen Gründen, die für »Gastarbeiter« sprechen, deutlich: »Die Gastarbeiter übernehmen vorwiegend solche Arbeiten, bei denen besonders schwere bzw. unangenehme Arbeitsbedingungen vorherrschen«. Nicht nur sollen Arbeitsmigranten für schlecht bezahlte, von Deutschen abgelehnte Arbeit prädestiniert sein, sondern sie sollen im Vergleich zu den deutschen Kollegen auch flexibler sein: »Solange der Ausländer noch ledig oder lediggehend ist, ist er in Krisenzeiten mobiler. Das bedeutet, er kann zwischen krisenfälligen und krisenfesten Betrieben ausgetauscht werden.«

Die Aussagen der Broschüre decken sich mit der in den 1960er und 1970er Jahren dominanten Position gegenüber Migranten, die als nützliche Arbeiter in schlecht bezahlten Stellen unter schlechten Bedingungen gewertet wurden. Öffentlich wahrgenommen wurden sie in erster Linie als fleißig und wenig aufmüpfig. Ihre Kämpfe innerhalb und außerhalb der Betriebe wurden verkannt oder delegitimiert, wie im Fall des selbstorganisierten Streiks bei den Ford-Werken in Köln-Niehl im August 1973. Dieser Streik ist einer der wichtigsten der Arbeitskämpfe der Geschichte Deutschlands, die maßgeblich von Migranten organisiert wurden. Nachdem sich anfänglich noch deutsche Arbeiter mit ihren türkeistämmigen Kollegen solidarisiert hatten, kippte nach wenigen Tagen die Stimmung. Der Soziologe Serhat Karakayali resümierte in einem Aufsatz von 2005, daß der Streik letztlich an der Spaltung in Deutsche und Ausländer gescheitert sei. »Werksleitung, Betriebsrat und Medien hatten es nach und nach geschafft, die ohnehin schon strukturell unterschiedlichen Interessen ideologisch zu verfestigen.« Während der Ford-Streik durch die Erinnerungsarbeit von Aktivisten mittlerweile relativ bekannt ist, sind viele andere Kämpfe, die von Arbeitsmigranten Anfang der 1970er Jahre geführt wurden, zunehmend in Vergessenheit geraten. So streikten im August 1973 nur wenige Kilometer entfernt von Köln in Neuss bei dem Autozulieferer Pierburg Tausende Arbeiter.

Die Streikenden forderten dabei bessere Arbeitsbedingungen. Mit ihren Ansprüchen erschütterten sie die Betriebe und brachten die Segmentierung der regulierten Anwerbung und die Verwertungslogik ans Licht. Damit unterliefen sie die rassistischen Spaltungen am Arbeitsplatz und im Alltag. Die Ausstände stehen in zeitlicher Nähe zum Anwerbestopp ausländischer Arbeiter 1973. Das Migrationsregime wurde »neu strukturiert, Arbeitsprozesse wurden reorganisiert und der Arbeitsmarkt neu segmentiert«, schreibt Bojadžijev.

Die in Deutschland ab den 1950er Jahren angeworbenen Südeuropäer wurden als Vorteil gesehen, »insofern sie als mobile Konjunkturpuffer dienten, altersbedingt hohe Arbeitsleistungen erbrachten und keine Ausbildungs- und Folgekosten erzeugten. Ihr Einsatz verhinderte Lohnsteigerungen bei einfachen Arbeitern und ermöglichte es Deutschen, in bessere Positionen aufzusteigen«, bilanziert der Stadtforscher Stephan Lanz in seinem Buch »Berlin aufgemischt: abendländisch-multikulturell-kosmopolitisch? Die politische Konstruktion einer Einwanderungsstadt«.

»Gastarbeiter« waren insgesamt politisch und gesellschaftlich ausgegrenzt sowie im Beruf ökonomisch schlechter gestellt und unsicherer beschäftigt als ihre deutschen Kollegen. Es bildete sich eine Unterklasse heraus, der im wesentlichen die Funktion einer nützlichen industriellen Reservearmee zukam, die je nach konjunktureller Schwankung eingesetzt werden konnte.

Zugleich wurde mit dieser neuen »Unterklasse« auf den Druck der einheimischen Arbeiter reagiert. Mitte der 1950er Jahre waren Gewerkschaften stark, was dazu führte, daß deren Mitglieder nicht länger bereit waren, in Zeiten des Wachstums und des Wirtschaftswunders zu niedrigen Löhnen zu arbeiten. Das Kapital suchte nach Möglichkeiten, um den höheren Löhnen zu begegnen und setzte auf eine regulierte Arbeitsmigration (zunächst) aus Südeuropa. Der Effekt davon war zugleich, daß der Klassenkompromiß in der Bundesrepublik sich festigte. (…)

Forderung nach Anpassung

Migration wurde in der öffentlichen Debatte im Laufe der 1980er und 1990er Jahre zu einem staatspolitischen, kulturellen und religiösen Thema. So wurden die unkontrollierte Bildung von »Migrantenghettos« in den Städten wie auch die Formierung von »Parallelgesellschaften« beklagt. Damit war die Forderung nach Anpassung der immer mehr als muslimisch wahrgenommenen (Post-)Migranten an eine »deutsche Leitkultur« verbunden. Als politische Antwort wurde nun Integration eingefordert.

Daß sich die offizielle Migrationspolitik der Bundesrepublik Deutschland seit etwa zehn Jahren als Integrationspolitik versteht, zeigt sich beispielsweise an der Änderung des Ausländergesetzes in ein Aufenthaltsgesetz 2005 und an der Einführung verpflichtender Integrationskurse im selben Jahr. An der für den Einwanderungsdiskurs prägenden Problemwahrnehmung von Migration hat sich durch »Integration« wenig geändert. (Post-)Migranten sollen sich gemäß dem Integrationsgebot kulturell, ökonomisch, sprachlich und identitär an die Mehrheitsgesellschaft anpassen. (…)

Ein zentraler Topos im deutschen Integrationsdiskurs ist »Leistung«. Das zeigen bestimmte Analysen zur Debatte, die infolge der Veröffentlichung des Buches »Deutschland schafft sich ab« des Sozialdemokraten Thilo Sarrazin im Jahr 2010 anhob. Ihnen zufolge ist der gemeinsame Nenner von Kritikern und Befürwortern Sarrazins im medialen und politischen Mainstream darin zu sehen, daß die Kategorie des Nutzens unhinterfragter Bezugsrahmen der Debatte war. So läßt sich in Reportagen über (Post-)Migranten während der »Sarrazin-Debatte« durchweg eine Dichotomie zwischen »Integrierten« und »Nichtintegrierten« ausmachen. Dabei wird in der Kritik an Sarrazin statt kulturellem Determinismus ein Aufstiegsversprechen durch »Leistung« in den Vordergrund gestellt. Dieses ist allerdings nur an junge Migranten mit »­idealem« Lebenslauf gerichtet. Sie werden dabei an den Maßstäben einer sich als säkular verstehenden Bildungselite gemessen. Diese »Musterbeispiele gelungener Integration« werden diskursiv in Stellung gebracht gegen »Integrationsverweigerer«.

Indem der Integrationsdiskurs darauf zielt, (Post-)Migranten als defizitäre Subjekte zu konstruieren, bestätigt er die in der kapitalistischen Produktionsweise übliche rassistische Zuteilung in bestimmte Arbeitsgebiete. Hierin zeigt sich, daß Rassismus bezogen auf den Arbeitsmarkt »ein entscheidendes Element für die Konstitution sozialer Klassen« ist. Auch heute läßt sich, wie der eingangs des Textes erwähnte »Datenreport 2011« dokumentiert, hinsichtlich der Klassenposition vieler (Post-)Migranten Ähnliches konstatieren wie zur Ära der »Gastarbeiter«.

Nicht nur in bezug auf schon lange in Deutschland lebende oder sogar in Deutschland geborene (Post-)Migranten ist eine Trennung zwischen »nutzlosen« und »nützlichen« anderen feststellbar. Als nützlich erscheinen etwa »gut ausgebildete Fachkräfte aus dem Ausland«, um die mit Verweis auf die demographische Entwicklung in Deutschland geworben wird. So wurde am 1. August 2012 die Blue-Card-Richtlinie der EU umgesetzt und damit der Zuzug von Fachkräften aus Nicht-EU-Ländern sowie der von Hochqualifizierten erleichtert. Wer als Hochqualifizierter in den ersten drei Jahren allerdings in die Sozialabhängigkeit rutscht, verliert das Daueraufenthaltsrecht.

Nicht erwünscht sind demgegenüber »Armuts-« oder »Wirtschaftsflüchtlinge«, was seit einiger Zeit vor allem geringqualifizierte Migranten aus Bulgarien und Rumänien zu spüren bekommen. Im Oktober 2012 forderte der damalige Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) eine Verschärfung der Regeln für Asylbewerber aus Serbien und Mazedonien, da diese »unser System« ausnutzen würden. Hintergrund war das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Aufstockung der Leistungen für Asylbewerber. Gegenüber Bild erklärte Friedrich damals: »Das wird dazu führen, daß die Asylbewerber-Zahlen noch weiter steigen, denn es wird für Wirtschaftsflüchtlinge noch attraktiver, zu uns zu kommen und mit Bargeld wieder abzureisen«.

Die Rede von »Wirtschafts-« und »Armutsflüchtlingen« weist auf die vorherrschende Auffassung hin, nach der wirtschaftliche Not nicht als legitimer Fluchtgrund angesehen wird. Armut wird nicht als ein strukturelles Problem im globalen Maßstab betrachtet, sondern als individuelles oder kollektives Fehlverhalten. Auf individuelle Schuld an Armut wird verwiesen, wenn einzelne es nicht geschafft haben, sich aus eigenen Kräften »nach oben« zu arbeiten; auf kollektive, wenn rassistisch auf die vermeintliche Unfähigkeit einer Bevölkerungsgruppe verwiesen wird.

Erfolgsbiographien schmücken

Die Tendenz, Einwanderung als Mittel zur Befriedigung der Bedürfnisse der Ökonomie zu betrachten, zeigt sich auch im aktuellen Diskurs über die Wirtschaftskrise. Die mediale und politische Aufmerksamkeit richtet sich heute »neu« auf die jungen hochqualifizierten Akademiker und Fachkräfte aus Südeuropa, die sich aufgrund der Perspektivlosigkeit in ihrem jeweiligen Heimatland auf die Suche nach einer besseren Zukunft nach Deutschland begeben.

Der Spiegel widmete dem Thema der verstärkten krisenbedingten Einwanderung aus Südeuropa Ende Februar 2013 einen Titel (»Die neuen Gastarbeiter«). Auf den ersten Blick scheinen die Autoren des Artikels eine positive Haltung gegenüber der aktuellen binneneuropäischen Migration einzunehmen. So wird im Text die Herangehensweise der früheren Migrationspolitik deutlich kritisiert, deren Hauptziel es war, Migranten zurückzuschicken. Daß Gastarbeiter in den 1960er und 1970er Jahren zeitbegrenzt angeworben und ihnen keine Eingliederungsmöglichkeiten angeboten wurden, wird als Fehler der Vergangenheit beschrieben. Zudem auch die Tatsache, daß Deutschland für viele Jahre kein Einwanderungsland sein wollte: »Menschen nach Deutschland zu locken, sie einzuladen, es ihnen so leicht wie möglich zu machen, hier heimisch zu werden – diese Kultur hat es nie gegeben«.

Dem Beitrag zufolge sei diese negative Einstellung zur Migration heute endlich überwunden, was sich aktuell angesichts der »neuen Gastarbeiter« zeige. Deutschland solle sie anziehen und aufnehmen, »nicht länger fragen ›Wann geht ihr wieder?‹, sondern bitten: ›Bleibt doch noch!‹« Es steht ein funktionalistisches Denkmuster im Mittelpunkt der Argumentation: »Auch in konservativen Milieus, in den Kleinstädten, in den Dörfern, sind sie vielerorts willkommen – weil sie gebraucht werden«. Genau wie in der Broschüre »Warum brauchen wir Gastarbeiter?« sollen die Südeuropäer gezielt eingesetzt werden können und somit den Bedürfnissen des deutschen Kapitals entgegenkommen. Daß sich die Wirtschaftskrise in Südeuropa stärker auswirkt und dort die Arbeitslosigkeit steigt, wird als Chance gesehen, die nationale Wirtschaft zu stärken. (…)

Der Text konzentriert sich vor allem auf wirtschaftliche Anpassungsleistung und Erfolg. Die neuen Migranten sind IT-Spezialisten, Ingenieure oder Mediziner. Auch wenn es manchmal schwierig sei, hätten die meisten von ihnen die Absicht, sich in Deutschland anzupassen, die Sprache zu lernen und Familien zu gründen. Berlin solle sie gezielt anziehen, da Deutschland selbst eine moderne und weltoffene »Wirtschaftsnation« sei, die »um die besten Köpfe werben muß«. (…)

Zum einen verdeutlichen diese Aussagen, wie Migranten trotz der neuen propagierten Offenheit immer noch als eine wirtschaftliche Ware wahrgenommen werden – sie sind entweder von guter oder schlechter »Qualität«. Mit ihren hochspezialisierten Skills erfüllen die »neuen Gastarbeiter« in erster Linie eine wirtschaftliche Aufgabe. Zum anderen dienten ihre erfolgreichen Biographien aber auch dem wichtigen soziomoralischen Zweck, der neuen deutschen Gesellschaft zu zeigen, wie sie sein soll: erfolgreich, modern, vielfältig, tolerant, liberal – und vor allem wohlhabend. Ihre Geschichten dienen zur Anrufung einer neoliberalen Subjektivierung, in der wirtschaftlicher Reichtum und gesellschaftlicher Erfolg zusammenfallen. Migration wird dabei zu einem exemplarischen sozialen Verhältnis, das (re)präsentiert, was für eine Gesellschaft »wir« sein bzw. werden wollen. Sie nimmt deren Spiegelfunktion an, die der Soziologe Abdelmalek Sayad vor einigen Jahren treffend beschrieb: »Migration spiegelt die verschleierten Prinzipien und Vorgehensweisen wider, auf die sich eine Gesellschaft stützt, und bringt diese ans Tageslicht«.

[1] Der Begriff »Postmigration« beinhaltet für die Theatermacherin Shermin Langhoff die »Geschichten und Perspektiven derer, die selbst nicht mehr migriert sind, diesen Migrationshintergrund aber als persönliches Wissen und kollektive Erinnerung in der Gesellschaft mitbringen«.

Hartmut Tölle, Patrick Schreiner (Hg.): Migration und Arbeit in Europa. Papyrossa, Köln 2014, 229 Seiten, 14,90 Euro

* Aus: junge welt, Donnerstag, 6. Februar 2014


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