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Jugoslawien-Krieg: "Juristischer Lynchmord"

Anklage und Verteidigung hielten Schlussplädoyer im Prozess gegen Radovan Karadzic

Von Roland Zschächner *

Als in der vergangenen Woche Radovan Karadzic in Den Haag sein Schlussplädoyer hielt, war das in Serbien keiner Zeitung eine Titelseite wert. Auch im Nachbarland Bosnien und Herzegowina war das Interesse gering. Lediglich die Tageszeitung Oslobodjenje brachte einen Hinweis auf Seite eins. Es scheint, die Gesellschaften des ehemaligen Jugoslawiens haben drängendere Probleme als den Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY).

In seinem Schlusswort am vergangenen Mittwoch räumte Karadzic ein, als ehemaliger Präsident der Republika Srpska moralische Verantwortung für die Verbrechen während des Kriegs in Bosnien mitzutragen. Er lehnte es hingegen ab, die Morde zwischen 1992 bis 1995 »bestellt« zu haben. Auch den gegen ihn erhobenen Vorwurf, »ethnische Säuberungen« geplant zu haben, wies er zurück und forderte für sich einen Freispruch. Er verwies darauf, dass »das serbische Volk angeklagt« sei. Weiter sagte er: »Ich kenne die Wahrheit, und auch die Anklage kennt die Wahrheit, sie versucht aber, das Gericht zu täuschen.«

Dem 69jährigen werden Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen. Bereits vergangenen Montag hatte Alan Tieger, Vertreter der Anklage, sein Plädoyer gehalten. Er bezichtigte Karadzic, eine treibende Kraft hinter der Gewalt und den ethnischen Säuberungen während des Kriegs gewesen zu sein. Tieger forderte lebenslange Haft für den Angeklagten.

Im Mittelpunkt des Prozesses standen vor allem die Belagerung Sarajevos und die Ereignisse im ostbosnischen Srebrenica. 1995 wurde die UN-Schutzzone von serbischen Truppen eingenommen, dabei sollen rund 8.000 bosnische Muslime ermordet worden sein. Das ICTY spricht von einem Massaker. Karadzic hatte im Verfahren hingegen von einem »Mythos« gesprochen, der den Serben in die Schuhe geschoben werden sollte. Am vergangenen Donnerstag erklärte Karadzics Anwalt Peter Robinson, dass sein Mandant von Srebrenica nichts wusste. Es gebe keine Dokumente oder Zeugen, die die Vorwürfe belegen würden, sagte Robinson. Auch seien für die anderen Anklagepunkte keine stichhaltigen Beweise präsentiert worden. Der Anwalt sprach deswegen von einem »juristischen Lynchmord«.

Seit 1995 bestand gegen Karadzic ein Haftbefehl, doch erst im Juni 2008 wurde er in Belgrad verhaftet. Er hatte bis dahin unerkannt unter falschem Namen als Alternativheiler in der serbischen Hauptstadt gelebt. Die Auslieferung nach Den Haag war ein Zeichen der Unterwerfung der serbischen Regierung gegenüber der EU. Der Prozess in Den Haag gegen Karadzic begann im Oktober 2009, die Beweisaufnahme dauerte bis zum 1. Mai dieses Jahres – über 400 Zeugen wurden gehört. Das Urteil wird erst Ende 2015 erwartet.

Der UN-Strafgerichtshof wurde 1993 auf Drängen des Westens installiert. Vor ihm werden vor allem Serben bzw. Funktionäre des ehemaligen Jugoslawiens angeklagt und verurteilt. Prominentestes Beispiel war der ehemalige jugoslawische Präsident Slobodan Milosevic, der 2006 in der Haft ums Leben kam.

Angehörige anderer Kriegsparteien haben vor dem ICTY wenig zu fürchten. Sie werden, falls sie sich verantworten müssen, zu vergleichsweise geringen Haftstrafen verurteilt oder freigesprochen. So wurde der General Ante Gotovina im April 2011 zwar schuldig befunden, für die Vertreibung der serbischen Bevölkerung aus Kroatien verantwortlich gewesen zu sein, und zu 24 Jahren Haft verurteilt. Doch in der Berufungsverhandlung wurde aus dem Schuld- ein Freispruch. Bei seiner Rückkehr nach Zagreb wurde Gotovina von Tausenden Anhängern frenetisch gefeiert. Auch westliche Politiker wie Hans-Dietrich Genscher, die für den kriegerischen Zerfall Jugoslawiens ebenfalls Verantwortung tragen, wurden von den UN-Anklägern verschont. Dass in Den Haag Recht mit zweierlei Maß gemessen und nicht Gerechtigkeit geschaffen, sondern die NATO-Sezessionspolitik gerechtfertigt wird, ist eine der Ursachen für das weitverbreitete Desinteresse und die Skepsis gegenüber dem ICTY in den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 8. Oktober 2014


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