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"Ideologische Verzerrungen" - "Halbherzig gehandelt"

Leserbriefe in der FR, die in der Debatte um den NATO-Krieg die Regierungsmeinung vertreten

Wenn man eine Debatte dokumentiert, kommen auch Stellungnahmen zu Wort, die einem nicht passen. Dazu gehören die folgenden Leserbriefe, die die Frankfurter Rundschau am 11. Mai und am 26. Mai 2001 abdruckte.
Zum Thema haben wir auf unserer Homepage die folgenden Stellungnahmen dokumentiert:

Ideologische Verzerrungen werden als historische Wahrheit akzeptiert

Zu Der Kosovo-Krieg im Bundestag von Stefanie Christmann und Die berechtigte Frage nach Rechtsbrüchen (FR vom 23. April 2001) von Hans-Peter Dürr: Gernot Erler hat gleich am Anfang seiner Antwort auf das Schreiben der beiden Friedensforscher diesen zu Recht die wissenschaftliche Reputation abgesprochen. Dieter S. Lutz und Reinhard Mutz hätten das Nato-Bombardement isoliert vom zuvor schon acht Jahre währenden Kriegsgeschehen betrachtet und darüber hinaus die Vertreibung der albanischen Bevölkerung als Folge der angedrohten Nato-Intervention und des Bombardements dargestellt. Erlers Forderung an die beiden Friedensforscher lautete denn auch, dass diese zunächst ihre Fälschungen, Auslassungen und ideologische Verzerrung der jüngsten Balkangeschichte revidieren müssten, um als Friedensforscher ernst genommen zu werden und dem Parlament Lehren erteilen zu können.

In den Artikeln von Christmann und Prof. Dr. Dürr werden die Geschichtsfälschung und ideologischen Verzerrungen der Friedensforscher Lutz und Mutz stillschweigend als historische Wahrheit akzeptiert. Dürr unterstellt einer nicht genauer bezeichneten Institution, sich Krieg als Ultima Ratio vorzustellen. Dem setzt er entgegen, dass bei den Overkill-Kapazitäten der Nato jeder Krieg unvernünftig sei. Ultima Ratio hat zwar nichts mit Vernunft oder Unvernunft zu tun, sondern wird allgemein als "letztes Mittel" übersetzt.

Dürr sagt nicht, dass es unvernünftig von Milosevic und dem serbischen Militär war, angesichts der Drohung mit Overkill- Kapazitäten den Krieg in Kosovo und die Vertreibung der albanischen Bevölkerung fortzusetzen. Unvernünftig sei vielmehr, mit Einsatz letzter Mittel zu drohen, um Separationen und Vertreibungen zu verhindern. Möglicherweise ist Dürr auch der Ansicht, dass Kriege, Vertreibungen und sonstige Verstöße gegen Völker- und Menschenrecht ohne die Möglichkeit des Overkills erlaubt seien? (Natürlich immer nur im Rahmen der UN-Beschlusslage.) Stefanie Christmann analysiert angeblich die ihr vorliegenden Parlamentsprotokolle und stellt fest, dass die Entscheidung der überwältigenden Mehrheit der Bundestagsabgeordneten für den Nato-Einsatz nicht nur eine Fehlentscheidung war, sondern das Ergebnis einer Staats- und Regierungsverschwörung. Transatlantische und koalitionsinterne Kungelrunden, Fraktionszwang, Redeverbot und andere parlamentarische Folterinstrumente hätten die Mehrheitsentscheidung eines funktions- und machtlosen Parlamentes herbeigeführt.

Frau Christmann qualifiziert so eine eindeutige Parlamentsmehrheit als senile und gewissenlose Dorftrottel, die vom Bundeskanzler, Außenminister und Verteidigungsminister nach Bedarf zu manipulieren seien. In ihrem Artikel fehlt auch nicht der populistische Schlachtruf aller Verschwörungstheoretiker nach mehr Transparenz nebst detaillierten Vorstellungen zu einer Parlamentsreform und des Parteistaates, die in ihren Konsequenzen beide vollkommen funktionsunfähig machen würden. Den beiden Friedensforschern und ihren journalistischen und akademischen Adepten scheint es um etwas anderes zu gehen als darum, Lehren aus dem Balkankrieg zu ziehen. Sie setzen konsequent die Strategie der westdeutschen "Friedensbewegung" der 80er Jahre fort, die einseitig gegen die Nato gerichtet war, bzw. den Austritt der Bundesrepublik aus der Nato bzw. eine deutsche Neutralität und nationale Souveränität favorisierte. Dies mag zwar eine legitime Meinung sein, es ist aber nicht wissenschaftlich zu beweisen, dass ein solcher Schritt dem Frieden in Europa und der Welt dienlich wäre.

Bislang haben Tätigkeiten und Stellungnahmen der beiden Friedensforscher nirgendwo zum Frieden beigetragen. Offensichtlich ist auch der Neutralitätsgedanke und der Isolationswunsch, verbunden mit gesteigerten Souveränitätsgelüsten, weder im Bundestag noch in der Bevölkerung mehrheitsfähig und gehört eher in das argumentative Arsenal radikaler Nationalisten.
Dr. Otto Sundt, Wolfsburg
(FR, 11.05.2001)

Halbherzig gehandelt

Zu dem Beitrag Elementares Debattendefizit (FR vom 15. Mai 2001) von Winfried Nachtwei: Bei der Kosovo-Kriegs-Nachlese der Frankfurter Rundschau tritt allerlei Verwirrendes zu Tage. Während einige Autoren die Zustimmug des Bundestages zum Einsatz deutscher Soldaten als völkerrechtswidrig ansehen, verneint dies MdB Gernot Erler (SPD). Und MdB Winfried Nachtwei (B90/Die Grünen) möchte hierzu indirekt Trauerarbeit leisten.

Unabhängig davon, welche Fraktion nun Recht hat, hat dieser Kriegseinsatz Folgendes gezeigt: Reden ist Sand (Rambouillet), Schreiben ist Silber, Handeln indes ist Gold. Wenn auch zu spät und halbherzig, denn die aus sicherer Flughöhe geführten Nato-Luftschläge - obendrein mit monatelangem Zeitverzug, so dass Serbien nahezu alle seine schweren Waffen verbunkern konnte - trafen bloß noch Infrastruktur und Zivilpersonen. Uns - weit entfernt - haben sich die Folgen für Mensch und Umwelt dort bloß als "Kollateralschäden" erschlossen. Wer sich dabei offen oder versteckt, aber moralisch vom Motto: "Nie wieder Auschwitz" leiten lässt, muss sofort handeln und nicht erst reden. Auch darf man nicht im Verdacht stehen, drückte man etwa heute noch die Oppositionsbank, dass man zum eloquentesten Kritiker ebendieser Nato-Luftschläge avanciert wäre.

Denn dann wäre man nicht besser als das Vereinigte Königreich, das vom Ausmaß der Judenverfolgung im "Dritten Reich" seit 1938 im Allgemeinen und von Auschwitz/Birkenau ab 1942 sehr wohl wusste, aber darauf verzichtete, etwa durch gezielte Bombenabwürfe vor die Zäune oder auf Gleisanbindungen zu dokumentieren, dass es den Genozid dort und in allen Vernichtungslagern zu unterbinden bereit und in der Lage sei - die britische Einwanderungspolitik gegenüber Flüchtlingsjuden war im Übrigen kaum menschlicher (Louise London: Whitehall and the Jews, 1933-48, Cambridge University Press 2000). Mag wohl sein, dass damit der Genozid nicht oder nicht gänzlich verhindert worden wäre, gleichwohl hätte es dieser Bombardments allein aus politischer Moral bedurft (Horn/Siegmund-Freud-Institut Frankfurt am Main: "Statt Politik zu moralisieren, muss Moral politisiert werden").

So besehen hätten im Kosovo-Konflikt präventiv die serbischen Militärflughäfen und Kasernen aus der Luft umgepflügt werden müssen, nach einer ultimativen Vorwarnung, die noch deren Evakuierung von Menschen, aber nicht von Kriegsmaterial, möglich gemacht hätten. Das Ultimatum hätte auch so eng sein müssen, Milosevic daran zu hindern, etwa Schüler in die Kasernen als Geiseln zu verbringen. (. . .)
Dr. Gustav W. Sauer, Molfsee/Kiel
Aus: Frankfurter Rundschau, 26. Mai 2001

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