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"Mehr Probleme als Lösungen, mehr Fragen als Antworten"

Jahrestag des NATO-Kriegs: Friedensforscher schreiben an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages

Anlässlich des Jahrestags des Beginns des NATO-Kriegs gegen Jugoslawien haben sich zwei prominente Friedensforscher des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH)in einem "Offenen Brief" an die Abgeordneten des Deutschen Bundestags gewandt. Wir dokumentieren diese bemerkenswerte Meinungsäußerung im Wortlaut und hoffen, dass die Anregungen in Berlin gehört werden.

Prof. Dr. Dr. Dieter S. Lutz
PD Dr. Reinhard Mutz
Hamburg, März 2001

An die Fraktionsvorsitzenden des
Deutschen Bundestages
mit der Bitte um Weiterleitung an die
Damen und Herren Abgeordneten

Zum zweiten Jahrestag des Kosovo-Krieges
Mehr Probleme als Lösungen, mehr Fragen als Antworten

Offener Brief an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages

Sehr geehrte Frau Abgeordnete, sehr geehrter Herr Abgeordneter,
Ereignisse, die zwei Jahre zurückliegen, sind meist nur noch für die Zeitgeschichte von Belang. Der Krieg um den Kosovo hingegen, der am 24. März 1999 begann, ist von unverändert drängender Aktualität: Nach wie vor herrscht kein Frieden im Kosovo. Es ist auch, was schwerer wiegt, kein Zustand im Entstehen begriffen, der diesen Namen verdient. Die verfeindeten Bevölkerungsgruppen genießen lediglich ein Mindestmaß äußerer Sicherheit, weil eine schwer-bewaffnete internationale Streitmacht sie voreinander beschützt.

Am Beginn des Kosovo-Konfliktes stand - und dies bitten wir bei den nachfolgenden Überlegungen stets mitzudenken - die aggressive Unterdrückungspolitik Serbiens. Sie ging einher mit Terror, Mord und Vertreibung. Slobodan Milosevic und andere werden sich dafür - so unsere nachdrückliche Hoffnung - vor einem nationalen oder internationalen Gerichtshof zu verantworten haben.

Aber nur eine selbstgerechte Betrachtung erlaubt, die Mitverantwortung der Staatengemeinschaft für die gegenwärtige Misere zu übersehen. Ohne den Vertreibungsexzess vom April 1999, begangen an den Albanern, und ohne den gegenläufigen Vertreibungsterror vom Juni 1999, begangen an den Serben und anderen Nichtalbanern, lässt sich die Steigerung des Hasses und der Unversöhnlichkeit nicht erklären, die heute und auf absehbare Zukunft jede Aussicht auf einen selbsttragenden Frieden zunichte macht. Beide Vertreibungswellen waren Begleit- bzw. Folgeereignisse des Luftkrieges gegen Jugoslawien. Für die politische Zukunft des Kosovo hat der Westen bis heute kein Konzept. Als Erfolg gilt bereits, wenn es der Protektoratsverwaltung gelingt, ein Wiederaufleben der Feindseligkeiten zu verhindern. Mehr als Gewaltunterdrückung bedeutet Frieden im Kosovo einstweilen nicht.

Der Luftkrieg der NATO hat mehr Probleme geschaffen, mehr Fragen aufgeworfen als gelöst. Mit Sorge stellen wir fest, dass gleichwohl die vielfach von offizieller Seite vor und während des Krieges versprochene breite und intensive Diskussion der Konsequenzen und Lehren aus dem militärischen Eingreifen der NATO bis heute nicht stattgefunden hat. Es ist höchste Zeit, sie nachzuholen. Denn je nachdem wie die Antworten ausfallen, stellen sie entscheidende Weichen für die sicherheitspolitische Zukunft Deutschlands, möglicherweise sogar für den Frieden in Europa.

Aus Anlass des zweiten Jahrestages, an dem die NATO begann, Jugoslawien zu bombardieren, wollen wir deshalb im Folgenden eine Reihe von Überlegungen anstellen, um unsere Sorge zu verdeutlichen. Wir werden sie jeweils mit Vorschlägen oder Empfehlungen verbinden, die wir zu prüfen bitten.

Unsere erste Sorge betrifft die Rolle des Rechts bei der Gestaltung von Frieden und Sicherheit, ferner das künftige Gewicht von Recht unter Einschluss seiner Fortentwicklungsmöglichkeiten sowie die Gefahr seiner Verletzung und seines Missbrauchs. Zu den Fragen, die dringend und möglichst eindeutig geklärt werden müssen, gehören zum Beispiel: Darf sich eine Staatenkoalition, wie im Kosovo-Krieg geschehen, überhaupt über geltendes Völkerrecht hinwegsetzen? Darf der Westen seinen eigenen politischen Wertekanon verleugnen? Darf die Bundesrepublik Deutschland ihrer Verfassung zuwiderhandeln? Begründen eklatante Menschenrechtsverletzungen eine Art außergesetzlichen Notstand?

Ausgang dieser und weiterer Fragen ist die Charta der Vereinten Nationen, an die alle Staaten der Erde gebunden sind. Sie verbietet unmissverständlich Gewaltanwendung und Krieg. Sie bestimmt zugleich die beiden Ausnahmen vom generellen Gewaltverbot: die Selbstverteidigung und die Wiederherstellung des Friedens und der internationalen Sicherheit. Sie regelt ebenso unzweideutig, wer über das Vorliegen des Ausnahmefalls zu befinden hat: der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen.

Ein zustimmendes Votum des Sicherheitsrats lag aber für den Luftkrieg gegen Jugoslawien nicht vor. Die Interventionsstaaten haben also, indem sie das Recht in die eigene Hand nahmen, einen rechtswidrigen Angriffskrieg geführt. Sie haben, indem sie sich über das Aggressionsverbot hinwegsetzten, das oberste Anliegen der Völkergemeinschaft diskreditiert, "Frieden durch Recht" zu gestalten und auf diese Weise "künftige Generationen vor der Geißel des Krieges zu bewahren".

Durch den Kosovo-Krieg werden aber nicht nur die Grundlagen der Vereinten Nationen berührt und - je nach Perspektive - erschüttert. Auch die Atlantische Allianz selbst ist unmittelbar betroffen, versteht sie sich doch seit ihrer Gründung nicht nur als ein militärisches Bündnis, sondern auch als eine politische Wertegemeinschaft auf der Basis rechtlicher Normen. Was das beinhaltet, umschreibt der Nordatlantikvertrag. In seiner Präambel bekennen sich die Mitglieder zu den Grundwerten der Freiheit, der Demokratie und des Rechts. In Artikel 1 verpflichten sie sich, in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen zu handeln, jeden internationalen Streitfall, an dem sie beteiligt sind, auf friedlichem Wege zu regeln, den Frieden, die internationale Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht zu gefährden sowie sich in ihren internationalen Beziehungen jeder Gewaltandrohung und Gewaltanwendung zu enthalten.

Mit einem Federstrich hat das bewaffnete Vorgehen der Allianz auf dem Balkan jede einzelne dieser konkreten friedenspolitischen Selbstverpflichtungen der Bündnispartner zu Makulatur gemacht.

Betroffen - und verletzt - ist schließlich auch das deutsche Grundgesetz. Nach ihrer Entstehungsgeschichte, ihrer politischen und gesellschaftlichen Ordnung und dem auf vielfältige Weise bekräftigten Willen der Bevölkerung ist die Bundesrepublik Deutschland ein Land des Westens. In diese Rolle hat sie erst hineinfinden müssen. Durch die Verantwortung für die beiden Weltkriege des vergangenen Jahrhunderts standen ihre Vorgängerstaaten in den Augen Europas außerhalb der zivilisierten Welt. Dieser historischen Hypothek ist das Grundgesetz dadurch begegnet, dass es gegen neue militaristische Versuchungen hohe Hürden errichtete. Dazu gehört an erster Stelle das bedingungslose Verbot des Angriffskrieges.

Nach Ansicht vieler Menschen - uns eingeschlossen - beging die Bundesrepublik als Mitglied der UNO wie der NATO und als Staat des Grundgesetzes mit der Beteiligung am Kosovo-Krieg einen dreifachen Rechtsbruch: den Bruch des Völkerrechts, des internationalen Vertragsrechts und des Verfassungsrechts.

In welchen Situationen es nicht nur erlaubt, sondern geradezu geboten erscheinen kann, für übergeordnete Ziele, z.B. die Rettung von Menschenleben, die Verletzung formaler Rechtsregeln in Kauf zu nehmen, ist gleichwohl eine uns alle bewegende Frage. Sie ist in einer rechtsstaatlichen Demokratie aber nur so lange und nur insoweit legitim, wie sie nicht nur als Alibi missbraucht, sondern breit und intensiv diskutiert und schließlich rechtsförmig (zum Beispiel durch Änderung der Verfassung, gegebenenfalls der Bündnissatzung und vor allem durch nachvollziehbare, überprüfbare und willkürfreie Initiativen und Maßnahmen der Fortentwicklung des Völkerrechts) festgehalten wird.

Diese Diskussion hat bislang nicht stattgefunden. Stattdessen macht sich insbesondere in Deutschland - begünstigt durch weitere Umstände - das Gefühl breit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit stünden je nach Belieben zur Disposition der jeweils politischen Machthaber. Fra-gen, wie sie zum Beispiel Karl Feldmeyer erst jüngst am 7. März mit Blick auf einen vergleichsweise geringeren Tatbestand, nämlich die Enteignungsproblematik im Zuge der Wiedervereinigung, gestellt hat, sind hierfür symptomatisch: "Wie viel Unrecht verträgt ein Rechts-staat? Lassen sich Selbstverständnis und Anspruch eines Staates, Rechtsstaat zu sein, mit der Hinnahme von Unrechtstatbeständen, ja ihrer Schaffung überhaupt vereinbaren?" (FAZ Nr. 56 vom 7. März 2001, S. 52).

Wir möchten deshalb insbesondere den Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages anregen, eine Kommission zur Diskussion und Beantwortung der im Zusammenhang mit dem Kosovo-Krieg aufgeworfenen rechtlichen und rechtsethischen Fragen und Probleme zu begründen. Diese Kommission könnte, ja sollte zugleich der Zusammenführung von Abgeordneten des Deutschen Bundestages sowie Vertretern und Vertreterinnen der Bundesregierung, insbesondere des Bundesjustizministeriums, mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Völkerrecht, Friedensforschung und anderen Disziplinen dienen.

Die Stärke des Rechts muss - so unser Anliegen - wieder an die Stelle des Rechts des Stärkeren treten! Doch unsere Sorge, die uns zu diesen offenen Brief veranlasst, bezieht sich nicht allein auf rechtliche Fragen. Auch unter Effizienzkriterien, also jenseits der normativen Ebene war die Intervention der NATO nicht erfolgreich. Ihre erklärten Kriegsziele wurden im Kosovo nicht erreicht. Wird unter Frieden als Minimum die Gewährleistung sicherer, gerechter und zukunftsfähiger Lebensbedingungen für die betroffenen Menschen verstanden, so beansprucht der Krieg der NATO das Prädikat einer friedensschaffenden Operation zu Unrecht. Eher handelte es sich um einen Koalitionskrieg traditionellen Musters: Dem Sieger fällt zu, was der Verlierer abtritt. Einmal mehr hat sich Waffenmacht als zu grobschlächtiges Mittel der Konfliktregulierung erwiesen. Ist die Gewaltschwelle erst überschritten, nehmen die Dinge ihren eigenen Lauf, die Ergebnisse werden den Erwartungen nicht gerecht. Für die Annahme, Frieden sei durch Krieg erzwingbar, kann das Kosovo-Beispiel jedenfalls nicht als Beleg dienen.

Der Kosovo-Konflikt hat politische Ursachen und bedarf einer politischen Lösung. In ziviler Konfliktschlichtung und -vermittlung kann die NATO aber keine Erfolge vorweisen. Das ist nicht ihr Metier, darin ist sie nicht erfahren. Ihre Stärke liegt in ihren militärischen Fähigkeiten, und allein darauf hat sie im Kosovo gesetzt. Krisenreaktion beschränkte sich auf das schlichte Mittel der Androhung von Gewalt in ständig gesteigerter Dosierung. Folgerichtig mündete der regionale Konflikt in einen internationalen Krieg. Wird einem Militärbündnis die Regie überlassen, kann nicht verwundern, wenn es auch plant und handelt wie ein Militärbündnis: nach den Regeln effektiver Bekämpfung des Gegners, nicht nach den Regeln effektiver Deeskalation des Konflikts.

Was ist die Alternative? Der klassische Weg internationaler Krisenbeilegung führt von der Einstellung der Kampfhandlungen über die politische Lösungssuche zu einer vertraglichen Einigung mit allen Konfliktparteien. Nach diesem Vorbild wurde 1995 der Bosnien-Krieg beendet. Im Kosovo-Konflikt hat zwar der amerikanische Unterhändler Holbrooke seinem Gegenspieler Milosevic im Oktober 1998 ebenfalls einen international überwachten Waffenstillstand abgerungen. Dieser war gleichwohl zum Scheitern verurteilt, weil er die zweite Bürgerkriegspartei, die Kosovo-Albaner, nicht einband. Zu einem ernsthaften Verhandlungsansatz ist es gar nicht erst gekommen. Die Rambouillet-Konferenz von Februar/März 1999 war keine Neuauflage der Dayton-Verhandlungen, sondern allenfalls deren Karikatur. Statt einer Verständigungslösung wurde ein Diktatfrieden durchzusetzen versucht, dem kein Belgrader Politiker, weder der Regierung noch der Opposition, zustimmte. Dem dilettantischen Krisenmanagement folgte - quasi zwangsläufig, wenn auch vermeidbar - der Bomben- und Raketenkrieg, der die humanitäre Katastrophe erst auslöste, die er verhindern sollte.

Teil der Holbrooke-Milosevic-Übereinkunft war die Einsetzung der Kosovo-Verifikations-Mission. Bis zu 2.000 zivile Beobachter der OSZE sollten die Einhaltung der Vereinbarungen überprüfen. Aber selbst fünf Monate später befanden sich noch immer weniger als die Hälfte von ihnen vor Ort. Nach einem weiteren Monat war es zu spät: Die Luftoffensive begann. Der Westen kann binnen weniger Wochen Kampfgeschwader und Flottenverbände zusammenziehen. Er kann über Monate einen Tag-und-Nacht-Hightech-Krieg führen mit Zehntausenden von Angriffsflügen für Milliarden von Dollar. Aber ein bescheidenes Aufgebot ziviler Verifi-katoren auf die Beine stellen, kann oder will er offenbar nicht.

Nochmals: In welchen Situationen es nicht nur erlaubt, sondern geradezu geboten erscheinen kann, für übergeordnete Ziele, z.B. die Rettung von Menschenleben, die Verletzung formaler Rechtsregeln in Kauf zu nehmen, ist eine legitime und uns alle bewegende Frage. Sie führt aber zu lediglich abstrakten Erörterungen, wenn sie die realen Gegebenheiten außer Betracht lässt. Hierzu gehört mit an erster Stelle die stete Dominanz des Militärbündnisses NATO unter der Führung der USA. Neben der omnipotenten NATO haben - wie das Beispiel Kosovo abermals bestätigt - zivile internationale Akteure wie die Balkan-Kontaktgruppe oder die OSZE keinen politischen Spielraum mehr für eigenständige Aktivitäten. Daran krankt im übrigen die gegenwärtige Sicherheitsordnung Europas grundsätzlich. Wir werden darauf zurückkommen.

Anders als es die westlichen Regierungen glauben machten, standen im Kosovo bis zum März 1999 ferner nicht nur skrupellose Täter wehrlosen Opfern gegenüber. Die Wirklichkeit des Konflikts war komplizierter. Je mehr geheime Dokumente an den Tag kommen und je freimütiger Augenzeugen ihr Wissen preisgeben, desto brüchiger wird die Version der planvollen Vertreibungen, der ethnischen Säuberungen, der humanitären Katastrophe, in denen sich angeblich das Kriegsgeschehen erschöpfte. Den Krieg beherrscht, wer über die Sprache des Krieges herrscht. Muss aber - anders als in Diktaturen - auch in Demokratien wirklich hingenommen werden, dass zur Sprache des Krieges Übertreibung und Täuschung, ja sogar die gezielte Manipulation der eigenen Bevölkerung gehören? Namen und Begriffe wie "Massaker von Rugovo", "Massaker von Raczak", "KZ von Pristina" oder "Hufeisenplan" sind Synonyme für diese Nachfrage vieler bestürzter Bürger und Bürgerinnen auch des demokratischen Deutschlands. Ist der mittlerweile weitverbreitete Eindruck wirklich berechtigt, gerade in Deutschland sei die gezielte Manipulation der Öffentlichkeit am erfolgreichsten gelungen, weil am meisten übertrieben und am stärksten getäuscht wurde?

Unser Bild vom Kosovo-Konflikt ist vor allem durch die jugoslawische Unterdrückungspolitik seit 1989, ferner die Informationspolitik - viele sagen mittlerweile "Manipulationen" - des Westen vor und während des NATO-Krieges und schließlich durch die Verbrechen an den Kosovo-Albanern nach dem Beginn der NATO-Luftangriffe im März 1999 geprägt. Durch die - wie auch immer zu bewertende - Steuerung der öffentlichen Meinung vor und während des NATO-Bombardements erscheint uns die Entwicklung als eine kontinuierliche Abfolge ausschließlich und einseitig von der jugoslawischen Seite ausgehender Gewalt und verbrecherischer Handlungen. Sie musste geradezu zwangsläufig zum Eingreifen der NATO führen, um noch Schlimmeres zu verhindern. Diese Interpretation trifft jedoch nicht zu. Immer wieder gab es in den vergangenen Jahren Zeiten, in denen Friedenschancen bestanden und nicht genutzt wurden. Dies gilt insbesondere für den Herbst 1998.

Mit diesen Überlegungen sollen, ja dürfen die Verbrechen der Serben an den Kosovo-Albanern in der Zeit vor dem Holbrooke-Milosevic-Abkommen, also bis zum Oktober 1998, und nach dem Beginn der NATO-Luftangriffe, also nach dem 24. März 1999, keinesfalls verharmlost oder entschuldigt werden. Im Gegenteil! Gewaltverbrechen müssen nach unserer Meinung zwingend und in jedem Fall strafrechtlich verfolgt werden.

Wenn und solange aber die internationale Staatengemeinschaft, internationale Organisationen oder einzelne Staaten aus den unterschiedlichsten Gründen bereit sind, mit vermeintlichen oder tatsächlichen Rechtsbrechern Verträge und Vereinbarungen zu schließen, so sind danach alle Vertragspartner gleichermaßen verpflichtet, die Vereinbarungen auch einzuhalten. Welchen Sinn sollten solche Verträge sonst machen? Die einseitige Parteinahme zu Lasten eines Vertragspartners bzw. dessen Bevölkerung unter Verweis auf das Geschehen aus der Zeit davor ist nach Abschluss der Vereinbarung jedenfalls nicht mehr möglich - weder politisch noch rechtlich und schon gar nicht moralisch. Die Parteinahme zugunsten einer Seite wider besseres Wissen und als Folge der Krieg zu Lasten immer auch Unschuldiger sind aber nicht nur unzulässig. Im Gegenteil: Erwartet und verlangt werden muss sogar, dass die mögliche Garantiemacht - in diesem Fall die NATO - bei entsprechender Vertragsverletzung der bisherigen "Opfer" zu Gunsten des vormaligen Rechtsbrechers interveniert. Die NATO aber hat sich - so die Befürchtung - im Kosovo-Konflikt sehenden Auges zum Instrument einer auch mit den Mitteln von Terror und Mord nach Unabhängigkeit und Macht strebenden UCK gemacht, zumindest aber machen lassen.

Angriff und Verteidigung sind Siegerdefinitionen. Diese Lehre aus der deutschen Vergangenheit zu missachten, würde bedeuten, der politischen und möglicherweise verbrecherischen Willkür Tür und Tor zu öffnen. Gerade derjenige also, der glaubt, in Extremsituationen, zum Beispiel bei Völkermord, nicht geltendem Recht, sondern seinem Gewissen folgen zu müssen, ist in besonderer Weise verpflichtet, die Ratio des verfassungsrechtlichen Friedensstörungs- und Angriffsverbots zu beachten: Handelt es sich bei dem jeweiligen Konfliktfall um innere Unruhen und Bürgerkrieg oder kann wirklich von der Gefahr der zielgerichteten Ermordung und Vertreibung ganzer Völker gesprochen werden? Dient der als Hilfsaktion verstandene Angriff wirklich und ausschließlich dem angegebenen Zweck oder wird die Situation für andere politische Interessen missbraucht? Ist alles getan worden, was jenseits kriegerischer Maßnahmen möglich ist? Gibt es wirklich keine zivilen, nicht-kriegerischen Alternativen mehr? Und vor allen Dingen: Ist wirklich zweifelsfrei geklärt, wer in der konkreten Situation der Rechtsbrecher ist?

Krieg ist die Ultima Ratio. Entscheidungen über Leben und Tod verlangen zweifelsfreie Gewissheit. Sind Zweifel da, kann und darf die Entscheidung nicht für Krieg und schon gar nicht willkürlich zu Lasten einer Seite lauten. Moral und Verfassung verbieten eine solche Entscheidung gleichermaßen.

Was ist vor diesem Hintergrund unsere zweite Empfehlung?

Im Kosovo hat sich eine vermeidbare Tragödie vollzogen. Doch auch das Geschehen in Deutschland war nicht frei von Tragik. Zu letzterem gehört die mittlerweile weit verbreitete Vermutung, das Parlament sei seiner Kontrollfunktion auf dem Weg in den Krieg nicht oder nicht ausreichend gerecht geworden. Dieses Demokratiedefizit, ja Demokratieversagen kann allein das Parlament korrigieren. Sollen Lehren aus dem vermeidbaren Kosovo-Krieg gezogen und vergleichbare Fehlentscheidungen künftig vermieden werden, so müssen eben die Fehler schonungslos aufgedeckt und aufgearbeitet werden. In einer Demokratie aber - so unsere feste Überzeugung - muss darüber hinaus das Parlament selbst als "das" Kontrollorgan die Kraft zur Kritik und Korrektur aufbringen.

Wir raten deshalb nachdrücklich zur Durchführung einer öffentlichen Anhörung, in deren Ergebnis die Vorwürfe der Manipulation wiederlegt werden, ferner die Gründe der jeweiligen Entscheidungen offengelegt bzw. nachgezeichnet werden und drittens schließlich Konsequen-zen - gegebenenfalls auch institutioneller Art - für vergleichbare künftige Fälle gezogen werden.

Die demokratische Aufarbeitung und Verarbeitung des Krieges ist unabdingbar. Aber haben Deutschland und Europa aus dem Fehlschlag nicht bereits - zumindest in Teilen - gelernt? Der Entschluss der Europäischen Union, die Statistenrolle abzustreifen und sich mit einer eigenständigen Sicherheitspolitik von der transatlantischen Vormacht zu emanzipieren, könnte darauf hindeuten. Doch heißt Emanzipation für die EU wirklich mehr als bloße Imitation? Steht die Absicht im Vordergrund, mit künftigen Krisen verantwortungsbewusster umzugehen? Oder soll die EU nur militärisch dasselbe können, was auch die NATO kann? Zu denken geben muss, dass die organisatorische und ma-terielle Ausgestaltung der Europäischen Sicherheitspolitik bereits feste Umrisse annimmt, während sich über die Definition der Aufgaben kaum jemand Gedanken zu machen scheint. Erst wenn darüber Klarheit bestünde, wäre zu entscheiden, ob die Europäische Union das alles braucht, was die Rüstungslobby ihr aufreden möchte: Strategische Aufklärung, Langstreckentransportmittel, Luftbetankung, Lenk- und Abstandswaffen, zielsuchende Munition, Allwetter- und Nacht-kampffähigkeit, Technologien zur Erringung von Luft- und Gefechtsfelddominanz.

Was für die Europäische Union gilt, trifft im übrigen auch auf die deutsche Politik zu. Das Defizit der europäischen Sicherheitsdiskussion wiederholt sich im Kleinen auf der nationalen Büh-ne. Bundestagsdebatten kreisen - wenn sie, allzu selten genug, zu Fragen von Frieden und Sicherheit überhaupt stattfinden - um die Rolle von Frauen in Kampfeinheiten oder um die Schließung überzähliger Bundeswehrstandorte, ohne die Kernthematik künftiger deutscher Sicherheitspolitik auch nur zu streifen: Wer oder was gefährdet die Sicherheit der Bundesrepublik? Wer oder was bedroht ihre Verbündeten? Was können Streitkräfte und Rüstungen dagegen ausrichten? Welcher militärischen Abstützung bedarf möglicherweise zivile Krisenprävention? Was ist folglich der Auftrag der Bundeswehr?

Es wäre eine groteske Lehre aus dem Balkan-Debakel, wenn sich Deutschland gemeinsam mit seinen europäischen Partnern für ausgerechnet denjenigen Typ gewaltsamer Krisenintervention wappnen würde, der im Kosovo gerade spektakulär gescheitert ist. Die Luftangriffe vom Frühjahr 1999 haben Werte in Höhe vieler Milliarden vernichtet - von den Opfern an Menschenleben ganz zu schweigen -, aber sie haben nicht einmal 20 jugoslawische Kampfpanzer zerstört. Drei Jahre zuvor, im Juni 1996, kamen die regionalen Rüstungskontrollverhandlungen der Dayton-Staaten zum Abschluss. Als Ergebnis der Übereinkunft, die wesentlich auf deutsche Initiative zurückging, hat die jugoslawische Armee 420 Panzer verschrotten müssen: das Zwanzigfache ihrer Verluste im Kosovo-Krieg. Zivile Krisenprävention unter Einschluss verhandelter und vereinbarter Abrüstung kann sehr viel überzeugendere Resultate erzielen als ein noch so aufwendiger Bombenkrieg.

Ausschließlich die Landes- und Bündnisverteidigung einerseits und die Mitwirkung an friedenssichernden Missionen im Auftrag der internationalen Rechtsgemeinschaft andererseits sind die beiden Aufgaben, die den Einsatz militärischer Streitkräfte legitimieren. Eine realitätskonforme Bedarfsanalyse, die den Umfang, die Ausrüstung und den Finanzrahmen der Bundeswehr daran bemisst, steht aber noch immer aus. Größe, Einwohnerzahl, Wirtschaftskraft und politisches Gewicht eines Landes sind hingegen ebenso wenig legitime Richtgrößen für nationale Armeen und Rüstungen wie das Argument, die wiedererlangte Souveränität verpflichte Deutschland zu mehr militärischem Engagement. Souveränität beweist ein Staat, der die Streitkräfte vorhält, die er wirklich braucht. Souveränität lässt vermissen, wer sich Streitkräfte leistet, die er seinem Status schuldig zu sein glaubt. Solange Regierung, Parlament, Parteien und demokratische Öffentlichkeit in der Bundesrepublik nicht endlich diese Diskussion aufnehmen, wird die Kosovo-Erfahrung vergeblich gewesen sein.

Unser dritter Vorschlag versteht sich deshalb als Initiative zur Durchbrechung der seit dem Kosovo-Krieg eingetretenen Lähmung gerade jener Diskussions- und Streitkultur, welche die Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg in besonderer Weise ausgezeichnet hat. Wir regen an, dass mit Unterstützung der Medien von Seiten des Bundestages, aber auch der Bundesregierung eine Serie öffentlichen Diskussionsveranstaltungen durchgeführt wird. In ihrem Mittelpunkt sollten die Lehren des Kosovo-Krieges, ferner die Reform der Bundeswehr und die künftige europäische Sicherheitspolitik stehen, als Wegweiser der Diskussion aber auch und gerade jener friedens- und sicherheitspolitische Leitgedanke, mit dem die gegenwärtige Regierungskoalition selbst angetreten ist: "Deutsche Außenpolitik ist Friedenspo-litik". Wir sind uns sicher, dass viele Kolleginnen und Kollegen aus der Friedensforschung und anderen Disziplinen bereit sind, solche und ähnliche Vorhaben mit großem Engagement zu unterstützen.

Bei unserer Initiative fühlen wir uns ermutigt und angeleitet durch die Mahnung, welche Bundespräsident Rau mittlerweile bereits in einer Reihe seiner Reden und erst jüngst wieder in seinem Buch "Der Friede als Ernstfall" vorgetragen hat: "Wir brauchen die Diskussion möglichst vieler zur Verantwortung bereiter und fähiger Menschen aus verschiedenen Disziplinen und Überzeugungen. Wir brauchen Diskussionen und Impulse, die quer stehen zum Trend und zur Tagesmeinung. Wir brauchen diese Diskussionen angesichts drängender Fragen, die unser aller Leben berühren und beeinflussen. ...: Mitdenken ist nicht nur erlaubt, es ist erwünscht. .. Stichwort Sicherheitspolitik, ... es geht dabei nicht nur um ein paar Zahlen, sondern es geht darum, dass eine Gesellschaft, die auf Landesverteidigung vorbereitet war, durch Grundgesetz, durch Parteiprogramm, und die jetzt Landesverteidigung als Bündnisverteidigung erlebt, dass die einen Wandel erfährt in der Politik, in der Sicherheits- und Außenpolitik, der gravierend ist. Weil das so ist, darum glaube ich, dass darüber eine ausführliche Diskussion stattfinden muss, die mit den Zielen der Verteidigung zu tun hat und nicht nur mit den Instrumenten der Verteidigung, über die man auch reden muss. Ich halte diese Diskussion für außerordentlich wichtig, weil wenige politische Weichenstellungen so weit reichende Auswirkungen für unsere ganze Gesellschaft haben: Es geht um die Sicherheit unseres Landes und um unsere Rolle im nordatlantischen Bündnis. Es geht um eine möglichst breite gesellschaftliche Verständigung über Aufgaben, Finanzrahmen, Ausrüstung und personelle Stärke der Streitkräfte. Es geht um die Frage, wie wir unter veränderten Bedingungen an der Wehrpflicht festhalten können und ob wir das wollen ...Wir brauchen eine breite gesellschaftliche Diskussion über diese Fragen jenseits des "Zahlenwerks" ... Ich wünschte mir, dass sich an dieser Diskussion nicht nur die Parteien und Verbände, die Medien, die Bundeswehr, der Zivildienst und die Friedensforschung beteiligten, sondern auch möglichst viele Bürgerinnen und Bürger. ... Wir müssen uns darüber klar werden, wie wir unter veränderten Bedingungen die äußere Sicherheit unseres Landes wahren wollen. Wir müssen uns darüber klar werden, welchen Beitrag die Bundesrepublik Deutschland für Frieden, Freiheit und Menschenrechte im Rahmen der NATO, der EU, der WEU und im Auftrag der Vereinten Nationen leisten kann und will. ...Ich wünsche mir eine intensive, eine ernsthafte und breit geführte gesellschaftliche Debatte, an deren Ende nicht weniger stehen sollte als ein neuer gesellschaftlicher Grundkonsens ..."

Bitte lassen Sie es uns wissen, wenn wir bei der Realisierung der angesprochenen Vorhaben unterstützend wirken können.

Mit freundlichen Grüßen
Ihre
Dieter S. Lutz
Reinhard Mutz


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