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Protektorat Kosovo

Die Lage ist katastrophal

Die taz gehörte nicht unbedingt zu den Stimmen im Land, die sich besonders engagiert gegen den NATO-Krieg gegen Jugoslawien im Frühjahr 1999 geäußert haben. Auch die Kritik aus der Friedensbewegung am Krieg wird in der taz, die gern auf ihre alternative Vergangenheit pocht, nicht gerade häufig, sondern eher verschämt und nur am Rande den werten Leserinnen und Lesern mitgeteilt. Umso erfreuter durfte man über nachfolgenden Artikel sein, der mit dem krieg und vor allem dessen Ergebnissen sehr kritisch und differenziert auseinandersetzt. Der Artikel von Mark Terkessidis wurde auf der Seite "Meinung und Diskusion" veröffentlicht, entspricht damit also nicht unbedingt der redaktionellen Linie des Hauses. Aber was nicht ist, kann ja noch werden, oder?

Offene Frage Kosovo

Mit der Nato-Intervention wollte der Westen eine ethnische Säuberung des Kosovo verhindern.
Seitdem entsteht dort ein ethnifiziertes, quasi-koloniales Protektorat


Im Gegensatz zu den erregten Diskussionen über die Rechtmäßigkeit der "humanitären Intervention" im Kosovo hält sich die hiesige Zivilgesellschaft bei der Bewertung der Ergebnisse des Einsatzes erstaunlich zurück. Zwar berichten die Medien von Zeit zu Zeit über die fortdauernde ethnische Gewalt im Kosovo, zwar erstellt amnesty international weiterhin Berichte über die neuesten Menschenrechtsverletzungen, doch in der allgemeinen Aufmerksamkeitsskala rangiert das Thema derzeit nicht besonders weit oben.

In der Presse herrschte am Jahrestag des Einsatzes eher Katerstimmung - eine Debatte über Arbeit und Ziele der internationalen Verwaltung wurde daraus nicht. Die Medienkarawane ist längst zum nächsten Krisenherd weitergezogen, und auch die intellektuelle schnelle Eingreiftruppe hat sich nach ihrem "Sieg" im Kosovo schnell auf Tschtschenien gestürzt, um dann in Österreich zu landen. Ein neues "Jaccuse" kann jederzeit abgefeuert werden, sollte sich irgendwo in Europa ein neuer Hitler reinkarnieren.

Wie es dann nach der Intervention zugeht, dafür interessieren sich die "Bellizisten" in ihren Schreibstuben gewöhnlich nicht mehr. Dabei ist die derzeitige Lage im Kosovo eine Katastrophe. Nahezu 350.000 Personen nicht albanischer Herkunft sind vertrieben worden, und die Gewalt gegen Minderheiten ist so notorisch, dass selbst der Leiter des bislang eher zurückhaltenden UN-Flüchtlingskommissariats UNHCR, Dennis McNamara, sie mittlerweile für systematisch hält. Täglich werden serbische Einrichtungen angegriffen, serbische Enklaven mit Granaten beschossen, werden Serben geschlagen, gekidnappt oder gar getötet. Gleich in der Nähe des Hauptquartiers der albanischen Polizeihilfstruppe TMK wurde ein Massengrab mit 22 Serben gefunden, was die Haager Chefanklägerin Carla del Ponte dazu veranlasste, eine Untersuchung der albanischen Kriegsverbrechen durch das UN-Tribunal anzukündigen.

Wird die Gewalt gegen Serben immerhin noch von der Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen, so interessiert die Vertreibung der 150.000 Roma nur Flüchtlingshilfswerke und Menschenrechtsgruppen. "Während sich die Lebensverhältnisse der Mehrheit im Kosovo in den letzten zwölf Monaten zweifellos verbessert haben", schrieb der britische Guardian anlässlich des ersten Jahrestages der internationalen Präsenz im Juni, "ist andererseits die Verfolgung von Minderheiten so bösartig und heimtückisch wie zuvor die Taten der Schergen von Milosevic." Obwohl jene Resolution 1244, mit der die internationale Verwaltung sich auf ein multiethnisches Kosovo verpflichtete, offiziell weiter gültig ist, glauben vor Ort selbst die hartgesottensten Idealisten nicht mehr an diese Vorgabe. Zweifellos ist das Kosovo heute ein überaus "freies" Land. Die Serben haben bei ihrem Abzug praktisch die gesamten administrativen Unterlagen vernichtet; die Albaner haben ihrerseits Pässe verbrannt und sämtliche serbischen Schilder abmontiert. Die Einwohner Kosovos zahlen keine Steuern, und gerade mal 13 Prozent haben im vergangenen Jahr ihre Elektrizitätsrechnung beglichen.

Die Registrierung der Menschen in der Provinz läuft schleppend, wobei die Vertriebenen außen vor bleiben, und die verbliebenen 95.0000 serbischen Kosovaren sich der Erfassung verweigern. Wie viele Autos es zur Zeit im Kosovo gibt, weiß niemand, Nummernschilder sind praktisch unbekannt. Die Effektivität der Polizei leidet unter den Verständigungsschwierigkeiten ihres Personals, das aus 46 Ländern stammt. Das Rechtssystem liegt weiter im Argen - schließlich gilt offiziell ja immer noch die Rechtsprechung der Bundesrepublik Jugoslawien. Die Einbeziehung der Kosovaren in Verwaltungsaufgaben erweist sich als schwierig - vor allem wegen der endemischen Kriminalität. Im März wurde dem aus ehemaligen UÇK-Mitgliedern rekrutierten Kosovo Schutzkorps TMK in einem vertraulichen UN-Report an Kofi Annan vorgeworfen, an Ausschreitungen gegen Minderheiten sowie an Schutzgelderpressung und Frauenhandel beteiligt zu sein.

Die Gewalt unter den ehemaligen UÇK-Kadern hat auch sonst zugenommen - sei es aus politischen oder aus kriminellen Motiven. Zwar wird in einem jüngst veröffentlichten Papier der WEU über die Sicherheit im Kosovo herausgestrichen, dass die Zahl der Morde im letzten Jahr von 50 auf etwa 5 in der Woche zurückgegangen sei; dennoch ist die Kriminalitätsrate etwa so hoch wie in Los Angeles, wie kürzlich ein Presseoffizier im US-Hauptquartier Camp Bondsteel bemerkte - und das in einem Land, in dem auf der Fläche von Nordrhein-Westfalen gerade mal zwei Millionen Menschen leben.

An der Kriminalitätsentwicklung ist der plötzliche Import des westlichen Lebensstils durch die "Internationalen" sicher nicht unschuldig. In Pristina leben die Albaner in heruntergekommenen Mietskasernen, während die westlichen Verwalter und Helfer in auffälligen weißen Neubauten residieren. Auf den Straßen der Kosovo-Hauptstadt werden Kassetten von einer kosovarischen HipHop-Posse namens "Kosova Outlawz Clan" verkauft - und tatsächlich müssen die Albaner aufpassen, dass sie nicht dauerhaft zu "Outlaws" werden. Die internationale Polizei und die fast ausschließlich mit dem Schutz von Minderheiten beschäftigte KFOR bekommen das Chaos nicht in den Griff und belauern argwöhnisch den ideellen Gesamtalbaner.

Der Flirt zwischen dem Westen und seinen albanischen Schutzbefohlenen ist vorüber, und die Gesellschaft steht kurz davor, quasi-koloniale Züge anzunehmen. Auch für die politische Gewalt ist der Westen mitverantwortlich - vor allem, weil eine völlig ambivalente Situation aufrechterhalten wird. Völkerrechtlich besteht die internationale Gemeinschaft bekanntlich darauf, dass das Kosovo weiter zu Jugoslawien gehört. Insofern versuchen extremistische Befürworter der Unabhängigkeit, reinen Tisch zu machen und auch die restlichen Serben zu vertreiben. Zudem orientiert sich ein bedeutender Teil der serbischen Einwohner immer noch an Belgrad. Der Herausgeber der albanischsprachigen Tageszeitung Koha-Ditore, Veton Surroi, verlangte Anfang des Jahres in einem Gespräch mit dem Autor, die serbischen Vereinigungen sollten endlich mit den Albanern reden - und nicht immer zu Gesprächen nach Belgrad fahren. Doch viele glauben weiter an die Wiederangliederung. So weigern sich etwa serbische Ärzte beharrlich, in einem neuen Krankenhaus in Gracanica zu arbeiten, weil es der internationalen Verwaltung untersteht. Belgrad hatte ihnen mit dem Entzug der Rentenansprüche gedroht.

Im Juni fragte der Guardian: "Kosovo: Was it worth it?" Angetreten, um ethnische Säuberungen zu verhindern, hat die internationale Gemeinschaft ein durch und durch ethnifiziertes Protektorat geschaffen. Große Teile der Zivilgesellschaft haben den Einsatz im Kosovo unterstützt. Wo bleibt nun die ebenso engagierte Debatte über die Resultate und zukünftigen Ziele?
MARK TERKESSIDIS
Aus: taz, 21.08.2000

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